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In der führenden Leipziger Stadtillustrierten, dem KREUZER, wurde in der Ausgabe vom Februar der Jahrespoll des Blattes ausgewertet. Die Leserschaft hat sich entschieden. Martin Walser wurde dort als bester Autor des Jahres gekrönt.
Um zu zeigen, wes’ Geistes Kinder den KREUZER lesen und was für ein Buch Walser eigentlich geschrieben hat, haben wir einen Artikel von Joachim Rohloff aus der Februar-konkret übernommen.
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Joachim Rohloff.

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Ein alemannisches Idiotikon.

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Der neue Roman des Friedenspreisträgers Martin Walser schildert das Dritte Reich als Jugend-Idyll


Die erste brauchbare Statistik zur Political Correctness im deutschsprachigen Feuilleton verdanken wir Martin Walser. Als sein Springender Brunnen erschien, lag die Quote bei 4,0 Prozent. Fünf von hundertfünfundzwanzig Rezensenten, zählte der Verlag, hätten Walser vorgeworfen, er schildere eine Jugend im Dritten Reich, ohne Auschwitz zu erwähnen. Es war demnach hohe Zeit, die deutsche Literatur vom Meinungsterror derjenigen zu befreien, die bei keiner Erwähnung der Nazis ihren Abscheu unterdrücken können und entsprechende Kundgebungen auch von anderen verlangen. Ein Fanal gegen den Zeitgeist ist Walsers autobiographischer Roman, allerdings auch wenig mehr. Seltsam nur, daß er monatelang vordere Plätze auf sämtlichen Besten- und Bestsellerlisten behaupten konnte und seinem Autor schätzungsweise eine runde Million eintrug.
Was gehen uns eigentlich alle diese Kindheiten an? Müssen die unbedingt erzählt werden? Wer’s nicht so gut kann wie Strittmatter, sollte es doch lieber lassen. Walser aber dachte sich einen Johann aus, der dem jungen Martin zum Verwechseln ähnlich sieht, ließ ihn in Wasserburg am Bodensee aufwachsen, dortselbst die erste und die zweite Liebe erleben, die Machtübernahme der Nazis und den Krieg. Herauskam ein Heimatroman und ein alemannisches Idiotikon, durchsetzt von zwei bis drei hübschen Walserismen: Eigentlich will in jedem Augenblick das Allerschlimmste geschehen, und es muß einer sein Lebtag auf Knien betteln, daß nur das Dritt- oder, im günstigsten Fall, das Viertschlimmste geschieht.
Schön war trotz allem diese Jugend, und sie kommt nicht mehr. Auf vierhundert Seiten reift der Knabe zum Dichter. Zahlreiche von Nietzsche und Stefan George inspirierte lyrische Proben lassen ahnen, welcherart Dichtung uns geblüht hätte, wäre die westdeutsche Kultur nach dem Krieg nicht halbwegs amerikanisiert worden. Weitere autobiographische Bände sind kaum zu befürchten, denn Walsers frühe Mannesjahre in der Gruppe 47 werden ihm von keinerlei Correctness madig gemacht.
1986 sprach Walser in einem Interview von seinen literarischen Plänen: »Dann käme etwas, das direkt am Anfang des Jahrhunderts beginnt. Mein Arbeitstitel: Der Eintritt meiner Mutter in die Partei. Daß meine Mutter eine sehr katholische Frau war und alles andere als eine Nationalsozialistin, das weiß ich ganz sicher. Wenn es mir gelänge zu erzählen, warum sie in die Partei eingetreten ist, dann hätte ich die Illusion, ich hätte erzählt, warum Deutschland in die Partei eingetreten ist. Ob ich das schaffe, weiß ich natürlich nicht.«
Er hat es geschafft. Denn der erste Teil des Springenden Brunnens trägt den Titel: »Der Eintritt der Mutter in die Partei«. Und wir haben nun die schöne Illusion, Deutschland sei in die Partei eingetreten, um den Walserschen Gasthof vor der Zwangsversteigerung zu retten. Die wirtschaftliche Not war groß, und sie kam – der Roman verrät es nicht, aber Walsers Leser wissen es ohnehin längst – von Versailles. Die Konkurrenz drückte mächtig, auf sämtlichen Möbeln klebte schon der Kuckuck. Doch seitdem die Mutter das Parteiabzeichen zwar nicht trug, aber in irgendeiner Schatulle aufbewahrte, versammelten sich die Nazis in ihrer »Restauration«, es kam zu erheblichem Verzehr, und der Gerichtsvollzieher ward nicht mehr gesehen. Den Nazigruß, wenn er gefordert wurde, streute die Mutter noch nachlässiger in die Landschaft als der Führer selbst. Das muß man sich, mit Hajo Steinert vom »Deutschlandfunk«, einem versierten Interpreten und Gesprächspartner Walsers, ungefähr so vorstellen: »Die Mutter streckt bei den Versammlungen ihren rechten Arm nie zum >deutschen Gruß< aus, sie winkelt ihn immer nur leicht an und stützt ihn auf den vertikal unter ihrem Brustkorb ruhenden linken Unterarm. In diesem Bild einer Halbherzigkeit, einer kleinen Geste des Nichtmitmachens, steckt die symbolische Geste des Romans Ein springender Brunnen.«
1988 schrieb Walser von seinen Schwierigkeiten mit der eigenen Biographie: »Ich habe nicht den Mut oder nicht die Fähigkeit, Arbeitsszenen aus Kohlenwaggons der Jahre 1940 bis 43 zu erzählen, weil sich hereindrängt, daß mit solchen Waggons auch Menschen in KZs transportiert worden sind. Ich müßte mich, um davon erzählen zu können, in ein antifaschistisches Kind verwandeln. Ich müßte also reden, wie man heute über diese Zeit redet.« Das aber wäre Moralkeule, Meinungsterror, Zeitgeist. Inzwischen müssen ihm der Mut oder die Fähigkeit irgendwie zugewachsen sein, vermutlich aus seiner Hausmacherpoetik, die am Anfang des Romans in aller Breite entwickelt wird: Wer nur der Sprache vertraue, dem komme die Vergangenheit ganz von selbst entgegen. Walser verwandelte sich in das durchaus nicht antifaschistische Kind Johann, und das heikle Thema erscheint im Springenden Brunnen so: »Wolfgang hatte sich, sobald er mitgekriegt hatte, daß Johann immer nach Schulschluß Kohlen ausladen und zuführen mußte, beteiligt. Und zwar in einer Art Begeisterung, die die Kohlenarbeit zu einem Sport machte. Die Waggons mußten jetzt, weil es zu wenig Waggons gab, immer in einem halben Tag geleert sein. Früher war Standgeld erst nach vierundzwanzig Stunden zu zahlen, jetzt nach acht, und dreimal soviel. Also fiel die Schule aus. Was sie taten, wurde kriegswichtig genannt.«
Daran könnte der Leser nun, auch ohne Anleitung durch den Autor, allerhand Betrachtungen knüpfen: Widerstand wäre so leicht gewesen. Allerdings hätte man das Standgeld zahlen müssen und so die Bemühungen der Mutter zunichte gemacht. Glücklicherweise wußte man nichts.
Am Ende, als der Krieg vorüber ist und die Franzosen in Wasserburg herrschen, trifft Johann einen anderen Wolfgang, dessen Mutter Jüdin ist und der deshalb aus der Hitlerjugend ausgestoßen wurde. Der erzählt ihm, wie es seiner Familie in den letzten zwölf Jahren erging. Johann läßt sich nicht beeindrucken: »Er hatte gespürt, daß Wolfgang, was er ihm erzählt hatte, erzählt hatte, weil Johann das wissen müsse. Vielleicht meinte Wolfgang, daß Johann ein Vorwurf zu machen sei, weil er all das nicht gewußt, nicht gemerkt hatte. Johann wehrte sich gegen diesen vermuteten Vorwurf. Woher hätte er wissen sollen, daß Frau Haensel Jüdin ist? Er wollte von sich nichts verlangen lassen. Was er empfand, wollte er selber empfinden. Niemand sollte ihm eine Empfindung abverlangen, die er nicht selber hatte ... Er wollte nicht gezwungen sein. Zu nichts und von niemandem.«
Die Szene fiel manchem Rezensenten unangenehm auf, obwohl er von ihrer tieferen Bedeutung noch gar nichts ahnen konnte. »Widerlich«, sagte Reich-Ranicki, dieser Johann sei doch wohl ein ziemlich unsensibler Löffel. Seit der Friedenspreisrede wissen wir nun, daß der achtzehnjährige Johann genauso dachte, wie der einundsiebzigjährige Walser noch heute denkt. Schon wenige Wochen nach dem Krieg wurde die Moralkeule geschwungen, und man konnte sich ihrer nur mit Hilfe der wahren Empfindung oder des autonomen Gewissens erwehren.
Nach einigen antifaschistischen Verirrungen in mittlerem Alter kehrt Walser nun an seine Ursprünge zurück, könnte man meinen. Vielleicht aber ist dieser Johann ein Kind, das in den vierziger Jahren die neunziger schon hinter sich hat und deshalb genauso reden muß, wie man neuerdings über jene Zeit redet.

M. Walser: Ein springender Brunnen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1998, 420 Seiten, 48 Mark


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last modified: 28.3.2007