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Auf dieser Seite dokumentieren wir das Flugblatt des Bündnis gegen Rechts Leipzig, das am 19.09.1998 während der Gegenaktivitäten gegen den Aufmarsch und die Demonstration der NPD in Rostock-Dierkow verteilt werden sollte.
Anschließend folgt eine Bewertung der Ereignisse um den 19.09. mit Fragen nach effektiven Aktionsformen und Möglichkeiten der Bündnisarbeit.
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Gegen die Heuchelei!

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verflixtes ding, 15.4k Die Nazis der NPD wollen in Rostock marschieren und alle sind dagegen. Sechs Jahre nach den pogromartigen Angriffen auf Flüchtlinge und Vertragsarbeiter hat sich eine nord-ostdeutsche Enklave, allen Prognosen und Meinungsumfragen zum Trotz, zur antifaschistisch-demokratischen Sonderzone entwickelt.
Sind in Rostock wirklich alle gegen Nazis? Einige vielleicht gegen das, was allgemein dafür gehalten wird. Die glatzköpfigen, Springerstiefel tragenden Dickwänste, die Baseballkeule schwingend, verursachen Grausen, sieht so Nachbars Junge oder gar der eigene Bengel aus, hält sich die Angst in Grenzen. Kommen die oft portraitierten jungen Wilden aus dem Umland oder im Tatort vor, kann man ihnen durchaus richtig böse sein.
In der Handelsstadt mit dem Tor zur Welt gibt es noch einen besonderen Grund die bekennenden Nazis für ihre Offenheit zu verdammen. Die Attacken der Nazis vor sechs Jahren beendeten zwar zur vorübergehenden Zufriedenheit der Rostocker das sogenannte „Asylantenproblem“ und dies nicht nur in der eigenen Stadt, sondern mit dem Umfallen der Sozialdemokraten in der Debatte um die Änderung des Asylrechtsparagraphen auch bundesweit, aber nebenbei wurde auch das Ansehen der Stadt ganz erheblich befleckt. Bekanntlich schadet dies der Exportbilanz und dem Tourismusgeschäft. Als dann noch, ein paar Wochen nach den Pogromen, französische Juden, die prominenter waren als man dachte, bei dem Versuch eine Gedenktafel am Rostocker Rathaus anzubringen verhaftet und mißhandelt wurden und der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, von einem CDU-Stadtrat zum israelischen Staatsbürger erklärt wurde, da war die Stadt zumindest im Ausland völlig blamiert.
Die Gefahr, daß an diese Ereignisse erinnert wird, daß das schlechte Image im Zuge der Berichterstattung über 5.000 stramme Nationalsozialisten, die vor dem Lichtenhagener Sonnenblumenhaus posieren, neue Nahrung bekommt, liegt auf der Hand. So nimmt es auch nicht Wunder, daß sich ein breites Bündnis formierte, um hier Schadensbegrenzung zu betreiben. Zweifelsohne ein pragmatischer Verein, in den sich vereinzelt auch idealistische Spinner verirrten. Solche werden, wie viele antifaschistische Bündnisversuche der letzten Jahre zeigten, solange geduldet, wie sie den aufgebauschten Minimalkonsens, mit der angeblich unsichtbaren anständigen Mehrheit gegen das isolierte Böse und für eine makelose Standortpolitik zu sein, nicht stören. Entdeckt man in ihnen ebenso gefürchtete Linksextremisten, wird die trügerische Freundschaft aufgekündigt. Nur bei chamäleonartigem Verhalten können linke Antifaschisten in solchen Zweckbündnissen verweilen. Inhaltliche Selbstaufgabe ist der Preis für den Platz im Boot derer, welche gerne vollmundig reklamieren, für das „andere Deutschland“ zu stehen. Denn tiefergehende Fragen nach der Motivation für den Anti-Nazi-Konsens dürfen nicht gestellt werden, wenn doch, so müssen die Antworten darauf jedem Linken das Fürchten lehren.

Das Symbol der Bündnisaktivitäten in Rostock ist der Schmetterling. Doch nicht altlinke Hippies mobilisieren damit zum Mehltütenwerfen gegen Nazis, sondern die Assozziation zur 89er „Deutschland einig Vaterland-Bewegung“ wird gesucht. Keine Bauchschmerzen scheint es zu geben, daß mit den Demonstrationen der sogenannten „Demokratiebewegung“ die Nazis im Osten ihre erste öffentliche Bühne hatten, daß die damals bestimmende Parole „Wir sind ein Volk“ der Vorbote des sich zügelos ausbreitenden Rassismus und Nationalismus war. Genausowenig werden sich die „Rostockerinnen und Rostocker“ fragen, wo sie denn damals in Lichtenhagen waren, als eine Woche lang jeden Abend hunderte Nazis das Flüchtlingheim stürmten und tausende Schaulustige jedem Brandsatz applaudierten. Damals, als das Asylrecht zur Disposition stand, agierte man kämpferisch, nichtdestotrotz erfolgreich. Heute, wo klar ist, daß auf die anonyme Wahlpartei DVU gesetzt werden kann, deutschtümelnde Nestwärme auch mit der PDS möglich scheint, und auch auf die großen Parteien Verlaß ist, wenn es gegen „Ausländer“, „Kriminelle“ und „Sozialschmarotzer“ geht, wird genauer abgewogen, wie man sich positioniert. Es könnte jedoch durchaus sein, daß viele Gruppierungen und Personen, die vor sechs Jahren, noch nicht vertraut mit Standort-PR und mit mehr Rückenwind von der allgegenwärtigen Hetze gegen Asylschmarotzer, den jugendlichen Angreifern ihre Sympathie versicherten, heute gegen die NPD demonstrieren. Oder besser gesagt, gegen das weiter oben beschriebene mediale Bild vom bösen Nazi. Denn wie soll man gegen die Vertreter einer politischen Weltsicht demonstrieren, wenn grundlegende Ideologeme befürwortet werden?
Lehnen alle im Rostocker Bündnis gegen Rechts die Forderung „Arbeitsplätze zuerst für Deutsche“ ab? Meinen sie, daß Kinder von „Ausländern“, die in Deutschland geboren werden, automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten sollen? Oder plädieren sie für die sofortige Abschiebung sogenannter „krimineller Ausländer“? Was halten die Rostockerinnen und Rostocker von der Todestrafe für Kinderschänder? Wie denken sie über die Verbrechen der Wehrmacht und wie bewerten sie die Schuld, die ihrer Meinung nach die Deutschen an der Vernichtung der europäischen Juden haben? Was sagt man hier zu den Einsätzen der Bundeswehr in Ex-Jugoslawien, wie bewertet man Lauschangriff und verschärfte Polizeigesetze? Was meinen die Rostockerinnen und Rostocker zu Graffiti-Sprayern, Legalisierung von Drogen und offenen Grenzen etc.? Werden deutsche Tugenden wie Ordnung, Fleiß, Sauberkeit und Arbeitsmoral hier abgelehnt, ist Rostock der letzte Hort des Linksliberalismus?
Bei den Vorbereitungen der Aktivitäten gegen den Naziaufmarsch wurde eine inhaltliche Polarisierung nie versucht. In keinem Aufruf zu den Gegenaktivitäten wurde eine ideologische Scheide zwischen Nazis und Antifaschisten, geschweige denn zwischen Linken und Rechten zur Grundlage aufgebaut. Nur ein paar nichtssagende Phrasen mußten für den moralischen Persilschein unterschrieben werden. Es bleibt zu vermuten, daß oben gestellte Fragen in Rostock nicht anders beantwortet werden als anderswo in Deutschland. Der einzige Unterschied zu anderen Gegenden ist nur, daß es hier mehr Gründe gibt, den zivilisierten Demokraten zu heucheln. Wenn Linke bei diesem Kasperletheater mitmachen, es versäumen sich inhaltlich und hoffentlich auch tatkräftig davon abzugrenzen, dann veralbern sie sich in erster Linie selber.

Bündnis gegen Rechts Leipzig c/o VL, PF 54, 04251 Leipzig, E-Mail: BGR@LINK-L.cl.sub.de



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last modified: 28.3.2007