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Vom 2. bis 5. Juli 1998 fand bei Witzenhausen/Göttingen ein von der Antifaschistischen Aktion/Bundesweite Organisation ausgerichtetes „Antifa-Camp“ statt. Neben vielen anderen Arbeitsgruppen beschäftigte sich eine mit der Verbindung von Nationalsozialismus und Antisemitismus. Als Referenten wurden dazu Vertreter der Antinationalen Gruppe Leipzig (ANG) eingeladen.
In einer Serie von drei Teilen veröffentlichen wir fortlaufend das gehaltene Referat.
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ohne antisemitismus kein nationalsozialismus, 3.7k

Teil 1: Vom unbedingten Hochhalten der Revolutionsbanner

Die deutsche Linke und ihr Verständnis vom Faschismus

Die Selbstverständlichkeit, mit der in großen Teilen der Linken traditionell davon ausgegangen wird, daß der – wie es so heißt – Hitler- oder deutsche Faschismus in erster Linie nur die Zerschlagung der organisierten Arbeiterbewegung zum Ziel hatte, impliziert seit Jahrzehnten automatisch eine für die Betrachtung des Nationalsozialismus unbedeutende Rolle des Antisemitismus.
Der Begriff des Faschismus, der in der Linken mit Nachdruck verwendet wird, um ihn als immer und überall mögliche Option der spätkapitalistischen Gesellschaft zu begreifen, versteht sich bei der traditionellen M/L-Linken als rein ökonomisches Projekt im Endstadium des Kapitalismus. Aus Lenins Imperialismustheorien wurde in den zwanziger Jahren in den Kreisen der Komintern unter dem Eindruck des italienischen Faschismus nach und nach jene Definition geformt, die dann 1935 auf dem Siebten Kongreß der Komintern verabschiedet worden war: Faschismus sei „die offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“. In den Hintergrund geriet dadurch auch die jahrelang propagierte Sozialfaschismusthese, nach der die „verräterische Politik der Sozialdemokratie“ für die Erfolge der Nationalsozialisten verantwortlich zeichne.
Damit war zementiert, daß der Faschismus in einer Phase des Zusammenbruches der bürgerlich-kapitalistischen Herrschaft, auf der höchsten Stufe als Imperialismus, vom Kapital an die Macht gehievt wird.
antisemitisches banner beim fussball, 17.5k
„pure Manipulation durch die Herrschenden“ – beim Ortsderby in Dresden, August 1998.
Klargestellt war dadurch unmittelbar die Unterdrückung des revolutionären Subjektes Arbeiterklasse durch die als Marionetten des Kapitals begriffenen Faschisten. Darauf aufbauend ließ sich nun ohne weiteres herleiten, daß die Massen gegen ihre – objektiven – Interessen einem ungeheueren Repressionsapparat ausgesetzt seien, der entweder ihren Widerstand neutralisierte, zerschlug oder gar vernichtete. Über die NS-Bewegung als Massenphänomen deckte man entweder den Mantel des Schweigens oder schlug die aktive Parteinahme ausschließlich dem Kleinbürgertum zu. Die stetig abgewertete Tatsache, daß sich viele Arbeiter der NS-Bewegung anschlossen, tat man mit dem Verweis auf pure Manipulation durch die Herrschenden ab. Die Errichtung einer faschistischen Diktatur ermögliche zudem vormals ungeahnte Profite für das Kapital, so die Interpretation. Somit bestünde der Charakter des Faschimus, eben auch des deutschen, in absoluter Zweckrationalität, die vollends der Ökonomie untergeordnet sei. Die Tatsache, daß der NS-Staat teilweise rigorose Maßnahmen wider der kapitalistischen Verwertungslogik einleitete, störte bei dieser Sichtweise überhaupt nicht. Durch diese Betrachtung geriet die Perspektive des Klassenkampfes niemals aus dem Blick. Gab es doch so, ohne Haken und Ösen, die unschuldige Masse als Opfer der Diktatur und somit der Bourgeoisie.
Auf jener Faschismusinterpretation aufbauend, sah sich der Staat DDR dieser Ideologie bis zu seinem Ende verpflichtet. In Westdeutschland war dies im Grunde nicht anders. Die sogenannte Neue Linke versuchte zwar ende der Sechziger in Nuancen neu zu interpretieren, kappte aber den Grundstrang der M/L-Lehre nicht. Die teilweise Erweiterung bzw. Konkretisierung der herrschenden Klasse im Nationalsozialismus, beispielsweise auf die sogenannten Machteliten (Reinhard Kühnl), kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Neue Linke im Gegensatz zu ihren traditionellen „Vorläufern“ sogar noch ungenauer definieren wollte, was denn alles faschistisch oder faschistoid sei. So wurde bürgerliche Herrschaft fast in eins gesetzt mit Faschismus aller Art. Kurzerhand wurde faschistischer Staat, was eigentlich Militärdiktatur (Türkei, Griechenland, Chile) oder, im Falle Deutschlands, Rechtsnachfolger des sogenannten Hitlerfaschismus. Letztendlich speiste gerade die neue deutsche Linke daraus genügend internationalistische, antiimperialistische, grundlegend antiamerikanische Kraft, um nicht zurückschauen zu müssen. Die analysierte Herrschaftform der „repressiven Toleranz“ (Herbert Marcuse) und die Lektüre von 68er Schlüsseltexten wie dem der „Studien über Autorität und Familie“ (Max Horkheimer, Erich Fromm, Herbert Marcuse) beschworen zum einen neue Subjektonstruktionen herauf und weiteten zum anderen das Ausbeutungsverhältnis auf eine ungebrochene, Jahrhunderte währende Tradition des Rassismus und Patriarchats, dessen modifizierter Ausdruck eben auch „nur“ der Faschismus sei. Jene Theorien ermöglichten letztlich gerade der deutschen Linken einen sagenhaft relativierenden und verharmlosenden Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit.
Diese ende der Sechziger kurzzeitig starke Beachtung genießenden Betrachtungen des allgemeinen Faschismus unter Hinzuziehung massenpsychologischer Aspekte, verschwanden mit dem Niedergang der APO recht schnell von der Tagesordnung. In der Hauptsache wendeten sich die Reste der 68er entweder den K-Gruppen und einer um Mao erweiterten M/L-Lehre zu oder verharrten in Kommunen und alternativen Kollektiven. Im Blickpunkt beider Strömungen stand die kurz bevorstehende, selbstsuggerierte Revolution und somit auch die revolutionären bzw. die zu revolutionierenden Massen. Wobei insbesondere die Alternativbewegung das Modell der zu errichtenden „Gegenmacht“ (Jean Paul Sartre) beschwor, dem sich ebenso die den Alternativen nahestehenden militärischen Gruppen der RAF, der RZ und des 2. Juni verpflichtet fühlten.
Insgesamt betrachtet konnte die Hinterfragung der massenhaften aktiven Unterstützung des NS durch die „ganz normalen“ Deutschen für die gesamte deutsche Linke natürlich nur hinderlich sein. Ganz der Tradition der Massenpolitik verpflichtet, selbst wenn bestimmte subkulturelle Lebensentwürfe genau dagegen sprachen, war allen Strömungen gemein, daß sie die Geschichte des NS mit dem Verweis auf kapitalistische Herrschaftsformen so sehr verharmlosten, daß ihnen ihre Gegenwart ebenso schrecklich erschien, wie sie es für das Alltagsleben des normalen Deutschen im Nationalsozialismus annahmen. Dienlich war ihnen allen dabei, ob nun ausgesprochen oder nicht, das Diktum Horkheimers, der da meinte, „wer vom Faschismus redet, darf vom Kapitalismus nicht schweigen“. Dieses Zitat gilt bis heute als Kurzformel zur berechtigten Abwehr der Totalitarismusthese. Gleichzeitig wird es aber immer wieder grundlegend als Beleg für den objektiven Klassenstandpunkt interpretiert, der der ungeminderten Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Imperialismus nur dienlich sein kann. Daß Horkheimer als einer der Väter der Kritischen Theorie genau das aber nicht gemeint hat, ließe sich sehr schnell feststellen, wenn man tatsächlich einmal das Schlüsselwerk Horkheimer und Adornos, die „Dialektik der Aufklärung“, rezipierte.
„Dem Volke dienen“ stand allenthalben auf den Bannern der Revolution. Das änderte sich nicht etwa mit dem aufkommen der Neuen Sozialen Bewegungen in den Siebzigern, sondern verstärkte sich noch. Bis heute hat sich daran nichts grundlegendes geändert. Wer sich gegen die Massen stellt, will letztendlich nur die Revolution verhindern. Oder, wie es ein besonders heller Genosse während der Gegenaktionen anläßlich des Naziaumarsches am ersten Mai ’98 in Leipzig herausschrie, verdingt sich gar als „fünfte Kolonne des CIA“.
Woran sich die marxistische Geschichtsschreibung und Faschismusanalyse seit Jahrzehnten erfolgreich klammert, ist die Tatsache, daß der Nationalsozialismus im Verständnis des revolutionären Antikapitalismus die Grundsubstanz der kapitalistischen Gesellschaft nicht grundlegend ankratzte. Warum diese Betrachtung im Verständnis des Marxismus folgerichtig ist, erklärt sich aus der sträflichen Vernachlässigung der sozialen Formen und der prägenden Kultur einer Gesellschaft. In der Lesart des Marxismus gilt ein Gesellschaftswandel erst dann als gegeben, wenn sich die unmittelbaren Produktionsbedingungen, also die ökonomische Substanz einer Gesellschaft, ändern. Die marxistische Linke behauptet somit, ein absolutes Monopol auf die Defintion des Antikapitalismus zu besitzen. Moishe Postone, dessen Text „Antisemitismus und Nationalsozialismus“ hier nachdrücklich wärmstens empfohlen sei, formulierte angesichts dieser Tatsache: „Die Linke machte einmal den Fehler, zu denken, daß sie ein Monopol auf Antikapitalismus hätte oder umgekehrt, daß alle Formen des Antikapitalismus zumindest potentiell fortschrittlich seien. Dieser Fehler war verhängnisvoll, nicht zuletzt für die Linke selbst“. Dem ist hinzuzufügen, daß sich leider angesichts der Allgegenwart dieser Tatsache ein Reden in der Vergangenheit verbietet.
Im Sinne des Marxismus ist also das kapitalistische Fundament im NS nicht ausgehoben worden. Dem läßt sich so ohne weiteres zustimmen. Allerdings vernachlässigt dies sträflich folgendes: Die ökonomische Grundsubstanz des Kapitalismus wurde nur wegen des Antisemitismus nicht angekratzt. Zu bedenken ist nämlich grundsätzlich, welches Selbstverständnis die Nationalsozialisten vom Kapitalismus besitzen. Dieses rückt unmittelbar den Antisemitismus in den Mittelpunkt ihres Weltbildes. Um zu verstehen, welche Bedeutung der Antisemitismus für den Nationalsozialismus besaß, muß also wohl oder übel das antikapitalistische Selbstverständnis der nationalsozialistischen Weltanschauung anerkannt werden. Vorausgesetzt man tut dies, offenbart sich so, welche zentrale Bedeutung der Antisemitismus als konstitutives Moment für den gesamten Nationalsozialismus besitzt. Es zeigt sich so, wie durchaus schlüssig die Interpretation der Nationalsozialisten ist. Ihr Verständnis einer deutschen Revolution personifizierte sich im Feindbild „des“ Juden. „Die Juden wurden nicht bloß als Repräsentanten des Kapitals angesehen (...), sie wurden vielmehr zu Personifizierungen der unfaßbaren, zerstörerischen, unendlich mächtigen, internationalen Herrschaft des Kapitals“, so Moishe Postone. Der Marxismus stelle „sich als der in Reinkultur gebrachte Versuch des Juden dar“, so heißt es in Hitlers „Mein Kampf“. Und Gregor Strasser, gern als Widerpart des Hitlerflügels in der NSDAP begriffen, schwärmte 1932 in einer Rede im Reichstag von der „großen antikapitalistischen Sehnsucht, die durch unser Volk geht, die heute vielleicht schon 95 Prozent unseres Volkes bewußt oder unbewußt erfaßt hat. Diese antikapitalistische Sehnsucht ist nicht im geringsten eine Ablehnung des aus Arbeit und Sparsinn entstandenen sittlich berechtigten Eigentums. Sie hat insbesondere nichts zu tun mit dem sinnlosen und destruktiven Tendenzen der Internationale.“ Keinen Deut anders formulieren die Nationalsozialisten von heute. Über die „Arbeitsgemeinschaft nationaler Sozialisten“ in der NPD heißt es in der Nazi-Internet-Zeitung „BBZ“: „Der Begriff Arbeit werde von der nationalen/sozialistschen Opposition vollkommen anders definiert als im Marxismus bzw. Kapitalismus. In ihm wird der Gedanke des schaffenden Unternehmertums, das selbst wieder antikapitalistisch und antimarxistisch ist, dem des raffenden Finanzkapitals gegenüber gestellt, das über Spekulation und Zinswirtschaft den schaffenden Arbeiter ausbeutet, während der mittelständische Unternehmer mit dem in seinem Betrieb beschäftigten Arbeitnehmern eine ehrliche Partnerschaft verbindet.“
Es ist zu behaupten, daß der von den Nazis proklamierte Antikommunismus tatsächlich nur eine verschlungene Unterspielart des Antisemitismus darstellt. Den Beweis für diese These bleiben wir hier vorläufig schuldig. Was damit aber schon jetzt gemeint ist, stellt sich gegen jegliche linke Geschichtsschreibung des sogenannten deutschen Faschismus. Die permanente Abwehr der Feststellung, daß der Antisemitismus und nicht die Zerschlagung der Arbeiterbewegung das zentrale Moment des Nationalsozialismus darstellte, läßt sich, und da sind wir uns inzwischen ganz sicher, nur damit erklären, daß eine deutsche Linke lieber nichts von Auschwitz hören möchte, geschweige denn, sich einfach nur einmal die ganz simple Frage zu stellen, ob es nicht sein könnte, daß, wie die Autorinnen und Autoren des Buches „Goldhagen und die deutsche Linke“ schrieben, „die Vernichtung der Jüdinnen und Juden nur möglich wurde, weil die Masse der Deutschen dies richtig fand und wollte“?
Tatsächlich zu fragen, was Antisemitismus überhaupt ist, ruft in der deutschen Linken einen Abwehrreflex hervor, der die Revolution und den großen Utopieentwurf vor der Befleckung schützen soll – und das ist noch die angenehme Lesart. Die unangenehmere unterstellt aktiven Schutz der Täter und Verhöhnung der Opfer.

Der zweite Teil in der Oktober-Ausgabe beschäftigt sich mit der Frage, was Antisemitismus überhaupt ist.



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last modified: 28.3.2007