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Aktuelles Heft

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Editorial
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AFBL-/Brunch-Saisoneröffnung
A night of music feat. Joey Cape
Filmriss Filmquiz
Amenra, Syndrome, Downfall Of Gaia, Fargo
Shai Hulud, Dead End Path, Departures, Whirr
Cloud Boat (R&S), Präzisa Rapid 3000 (Doumen), Simon12345 & The Lazer Twins (Doumen)
Peter Pan Speedrock
Sub.Island pres. Dub Echos
Zur Kritik nationaler und transnationaler Migrationspolitik
electric island „final edition“
All 4 Hip-Hop Jam 2013
Shellac (Touch & Go/us). Support: Auf
Karocel /live (Freude am Tanzen)
Suffocation, Cephalic Carnage, Havok, Fallujah
Cafékonzert-Matinée – The Powertrip: Gone To Waste, Scarred Mind, Dull Eyes
Broilers
Summerclosing Sause
• review-corner film: Hannah Arendt – eine deutsche Denkerin?
• doku: Inside Syria: Letters from Aleppo – Teil 4
• interview: „Reise ins Ungewisse“
• position: »Ich bin der deutsche Geist!«
• position: Von der Kritik der Praxis zur Praxis der Kritik
• position: Erwiderung auf den Redebeitrag der Gruppe „the Future is unwritten“ auf der Demonstration von „Rassismus tötet!“ am 27.10.2012 in Leipzig
• position: Nicht mit und nicht ohne – Teil 2: Konkret
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Hannah Arendt – eine deutsche Denkerin?

Zornige Gedanken über einen Kinofilm

Fortschritt
Seit 1945 sind
Wenigstens
Vergaste Juden
Gute Juden.


Matthias Hermann

Der Film Hannah Arendt Ihr Denken veränderte die Welt von Margarethe von Trotta, der Anfang dieses Jahres im Programmkino lief, hinterließ in mir ein Gefühl von Übelkeit. Dies bezog sich auf von Trottas künstlerische Umsetzung historischer Ereignisse, die man so zusammenfassen kann: Hannah Arendt, als kluge und willensstarke Protagonistin, Identifikationsfigur der Zuschauerin, stellt öffentlich fest, dass die Juden fleißig beim Holocaust mitgeholfen haben und deswegen viele zusätzliche Todesopfer zu beklagen seien; sie wird dafür von allen Seiten angefeindet, verteidigt aber standhaft ihre These; und die Moral von der Geschicht': Bleib dir und deiner Meinung treu, auch wenn die ganze Welt gegen dich ist.
Auf den folgenden Seiten will ich ausführen, was Hannah Arendt tatsächlich über jenen Punkt geschrieben hat und welche Lehre von Trotta fünfzig Jahre später aus der Rezeptionsgeschichte ihrer Schrift gezogen sehen will. Dabei soll die perfide Argumentation des Films entblößt werden, die Hannah Arendts Schreiben und Handeln in den Rahmen der antisemitischen Israelkritik stellt, wie sie bei den meisten deutschen Intellektuellen und Medien seit vielen Jahren en vogue ist.

Es sei noch angemerkt, dass die Niederschrift dieses Artikels zweieinhalb Monate nach meinem Kinobesuch erfolgte, ich mich in der Rekonstruktion filmischer Details also auf mein Gedächtnis verlassen musste. Außerdem stütze ich mich auf die Rezension zu Hannah Arendt, die bereits in diesem Heft erschienen ist (CEE IEH 202). Theresa Schneider hat neben vielen anderen hier genannten auch den Punkt von der behaupteten Mitschuld der Juden angerissen und kritisiert. Mein Text soll ihre Kritik bekräftigen und vertiefen.

„Von der Banalität des Bösen”

Die im Film inkriminierte These stammt aus
Arendts Aufsätzen über den Eichmann-Prozess 1961 in Jerusalem, dem sie als Journalistin für die New York Times beiwohnte. Sie finden sich mit nur geringen Änderungen in ihrem Buch Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, das kurz darauf erschien.
Arendt geht in diesem Bericht von der Frage aus, wie ein „Hanswurst” à la Adolf Eichmann, den sie als unintelligenten und geltungssüchtigen, aber weder sadistischen noch sonst wie monströsen Durchschnittscharakter beschreibt, eine tragende Rolle in einem Menschheitsverbrechen ohnegleichen einnehmen konnte. Im Gegensatz zur Anklage, die Eichmann als besessenen und begeisterten Judenschlächter anprangerte, stellt Arendt heraus, dass die moderne „Herrschaft des Niemand” ganz generell den Einzelnen aus der Verpflichtung des Menschseins entlässt. In letzter Konsequenz bringe sie einen „neuen Typus des Verwaltungsmörders” hervor, an dem juristische Kategorien wie Einsicht und Schuldbewusstsein scheitern denn es mangle ihm schlicht an der Fähigkeit zu denken.
Die Fähigkeit zum analytischen und (selbst-)kritischen Denken ist bei Arendt nicht das Resultat einer menschheitsgeschichtlichen Entwicklung namens Aufklärung, die einen langen und blutigen Zivilisierungsprozess voraussetzt sondern sie wird als anthropologische Setzung formuliert, etwas, das dem Menschsein immer schon zugrunde liegt. Die Demokratie ist demgemäß die eigentlich menschliche Organisationsform, zu der das nationalsozialistische System in scharfem Widerspruch steht: Sie negiere den Einzelnen als selbstverantwortliches „politisches Tier”, indem sie ihn in ein streng hierarchisches, blinden Gehorsam erheischendes Staatswesen eingliedere. Der auf Vernichtung abzielende Antisemitismus wird als ein menschenverachtendes, dem Nationalsozialismus eigentümliches Phänomen bezeichnet ohne näher untersucht zu werden. Er firmiert lediglich als staatstragende Ideologie, wie es in anderen totalitären Staaten andere Ideologien gibt, die verschleiern helfen, dass die BürgerInnen ihrer Freiheitsrechte beraubt sind. Anders als Horkheimer und Adorno in den Elementen des Antisemitismus sieht Arendt hier keinen inneren Zusammenhang mit dem vernunftgeleiteten bürgerlichen Subjekt, das die Juden als Projektionsfläche für seine unterdrückten Leidenschaften benötigt. Vernachlässigend, dass der Antisemitismus der Nazis aus der Triebdynamik des autoritären Charakters rührt, kommt sie zu dem Schluss, dass Eichmann kein Antisemit gewesen sei: weil er die Juden nicht aus Hass in den Tod schickte, sondern aus passionierter Gefolgschaft und im Vertrauen auf Recht und Ordnung. (Eichmann war durchaus vom Zionismus beeindruckt und davon überzeugt, alle Probleme, die die Juden als solche verursachten, wären behoben, wenn man sie geschlossen nach Palästina oder Madagaskar verfrachten würde.)
Den Ursprung des Bösen bei Eichmann sieht
Arendt also in dessen „Gedankenlosigkeit”: Eichmann habe sich der Aufgabe des Menschseins entzogen, als Einzelner zu denken und zu handeln. Sie stellt heraus, dass es angesichts des totalitären Machtapparats eine große Leistung gewesen wäre, sich dieser Aufgabe zu stellen und fordert diese Leistung nichtsdestoweniger ein. Die Entlastung, Eichmann wie die Mehrzahl der Deutschen seien „Rädchen im Getriebe” gewesen, wird von Arendt nicht akzeptiert. Trotz aller anonymisierenden Bürokratie (die übrigens auch in den heutigen Republiken dem klassisch-griechischen Ideal des politisch verantwortlichen Staatsbürgers Abbruch tue) sei Eichmann persönlich schuldig geworden; denn er hätte sich dem Dienst in Himmlers Reichssicherheitshauptamt, das für die Judendeportationen zuständig war, entziehen können. Arendts Urteil zufolge stand der mittlere Funktionär Eichmann vor derselben fundamentalen Wahl wie der kleinste Wehrmachtssoldat und wie Hitler selbst. An zahlreichen Beispielen und Gegenbeispielen wird belegt, dass der Naziterror nur möglich war, weil sich täglich Millionen und Abermillionen unter Funktionsverlust ihres Gewissens daran beteiligten: Dies wird am zivilen Widerstand in besetzten Ländern wie Bulgarien und Dänemark ersichtlich, der den Abtransport der jüdischen Bevölkerung lahm legte; und selbst an einigen hohen Nazikadern, die, als das Gewissen ihnen schlug, jüdischen Partisanen halfen. Auf der anderen Seite war noch der deutsche Widerstand sie zeigt dies an den Verschwörern vom 20. Juli 1944 vom antidemokratischen, ergo gedankenfeindlichen Wahn durchzogen. Sogar zionistische Organisationen hätten die menschenfeindliche Staatsidee der Nazis übernommen und ihre Glaubensgenossinnen und -genossen selektiv gerettet, indem sie z. B. junge, arbeitsfähige Leute bevorzugten, die beim Aufbau der Kibbuzim am besten Hand anlegen würden.
Jene kollektive Denkschwäche, das betont Arendt immer wieder, habe also auch die Juden nicht verschont. Damit wären wir beim heiklen Punkt ihrer Darstellung angekommen. Die bereitwillige Mitarbeit der Juden in der Vernichtungsmaschinerie bietet nach Hannah Arendt „den tiefsten Einblick in die Totalität des moralischen Zusammenbruchs” durch die Naziherrschaft auch unter den Verfolgten. Dieser Zusammenhang freilich fehlt im Film. Folgende Stelle dient dort als Stein des Anstoßes:

„ [D]ie Mitglieder der Judenräte [waren] in der Regel die anerkannten jüdischen Führer des Landes, in deren Hände die Nazis eine enorme Macht legten, die Macht über Leben und Tod so lange, bis sie selbst auch deportiert wurden […] Diese Rolle der jüdischen Führer bei der Zerstörung ihres eigenen Volkes ist für Juden zweifellos das dunkelste Kapitel in der ganzen dunklen Geschichte. […] In Amsterdam wie in Warschau, in Berlin wie in Budapest konnten sich die Nazis darauf verlassen, daß jüdische Funktionäre Personal- und Vermögenslisten ausfertigen, die Kosten für Deportation und Vernichtung bei den zu Deportierenden aufbringen, frei gewordene Wohnungen im Auge behalten und Polizeikräfte zur Verfügung stellen würden, um die Juden ergreifen und auf die Züge bringen zu helfen bis zum bitteren Ende, der Übergabe des jüdischen Gemeindebesitzes zwecks ordnungsgemäßer Konfiskation. […] Daß die Anklage [im Jerusalemer Prozess] […] gewichtige[ ] und einleuchtende[ ] Gründe hatte, dieses Kapitel nicht zu beleuchten, lag auf der Hand. Vor allem […] hätte das Gesamtbild der Anklage insofern gelitten, als es durchgängig eine scharfe Trennungslinie zwischen Verfolgern und Opfern zog, obwohl die Rolle des Kaposystems in allen Lagern und die Funktion der jüdischen Sonderkommandos vor allem in Auschwitz ja allgemein bekannt sind.”

Die Trennlinie zwischen Opfern und Tätern ist laut Arendt unmöglich zu ziehen, da es sich auf beiden Seiten um Menschen handelt, die derselben menschlichen Verantwortlichkeit unterliegen. Die verfolgten Juden handelten demnach, wie alle verfolgten Menschengruppen in einer totalitären Gesellschaftsverfassung handeln: Die meisten unterwarfen sich der Macht und hofften, irgendwie durchzukommen; einige Wenige fanden die moralische Kraft, sich aufzulehnen; und wieder Andere versagten als Menschen und folgten, z. B. als Ghettopolizisten, für kurze Zeit eigenen Machtgelüsten. Den europäischen Juden wurde laut Arendt zum Verhängnis, dass sie miteinander nicht solidarisch genug waren, um gemeinsam Widerstand zu leisten. Arendt beklagt den Verrat der jüdischen Gemeindevorsteher, die ihre Untergebenen nicht zum Ungehorsam gegen die Obrigkeit und nicht zur Flucht aufriefen; und sie beklagt den Verrat der assimilierten deutschen Juden, die lange glauben wollten, Entrechtung und Deportation beträfen nur die jiddische Orthodoxie in Osteuropa. Das jüdische Volk, urteilt sie, hat nicht eigenverantwortlich gedacht und gehandelt; sonst wäre es den Nazis nicht so völlig ausgeliefert gewesen. Diese Einschätzung wird jedoch dadurch relativiert, dass Arendt einräumt, es sei über jedes vorstellbare Maß hinausgegangen, mit einer Vernichtungsaktion dieser Größenordnung zu rechnen, geschweige denn, sich dagegen zu wehren. Nur so sei es zu erklären, dass im Holocaust Juden ihrer menschlichen Möglichkeiten derart vollständig beraubt wurden, dass sie sich an Massenmorden beteiligten. Diese neue Qualität des Verbrechertums Eichmann'scher Prägung hätten auch die Richter in Jerusalem erkannt, die im Urteilsspruch formulierten, das Verantwortlichkeitsausmaß für solche Taten wachse, je mehr man sich vom buchstäblichen Totschläger entfernt. Insofern sie diesem Urteil zustimmt, nimmt sie ihrer Analyse viel von deren Eindeutigkeit: Denn wie bereits der mit Arendt befreundete Philosoph Hans Jonas kritisierte ist es tatsächlich als eine Vermischung von Täter und Opfer zu betrachten, wenn man wie Arendt konstatiert, dass ganz und gar ausgelieferte, vom Tod bedrohte Menschen zur Mittäterschaft gezwungen wurden? In ihrem Vorwurf an die „jüdischen Führer” traut sie ihnen denselben Handlungsspielraum zu, den sie ihnen als verfolgte Minderheit des totalitären Staats abspricht. Das Beharren auf dem denk- und handlungsmächtigen Einzelnen, auf den letztlich jede politische Maßnahme zurückgeht, widerspricht ihrer Einsicht, dass die Bedingungen des Denkens und Handelns im Nationalsozialismus von einem staatlichen Rahmen gesetzt wurden, dem die physische Ausrottung des Judentums Staatsziel war.

Hannah Arendts Ausführungen sind spürbar gezeichnet von der Erschütterung, die die Prozessbeobachterin angesichts der verhandelten Verbrechen heimgesucht haben muss; sie lesen sich wie eine mühevoll rationalisierte Antwort auf die Frage: Wie konnte das nur geschehen? Es drängt sich die Vermutung auf, dass Arendts Versuch, den beispiellosen Zivilisationsbruch des Holocaust zu erklären, den Rahmen ihrer politischen Theorie zu sprengen drohte.

„Was gesagt werden muss”?!

Wie setzt nun Margarethe von Trotta die Ereignisse um Eichmann in Jerusalem filmisch um? Ihre Hannah Arendt fährt nach Israel und zurück und sitzt am Schreibtisch und tippt und tippt und bläst nachdenkliche Rauchkringel ins New Yorker Mietshauspanorama und diskutiert lebhaft und lässt sich doch von niemandem dreinreden, weder von den intellektuellen Freunden noch von ihren Auftraggebern. Schon zeichnen sich Standhaftigkeit und Eigensinn der bejahrten Emigrantin mit dem rührend schrecklichen deutschen Akzent ab. Als die Aufsätze zum Eichmann-Prozess schließlich veröffentlicht werden, möchte man ihr gegen die hohen Wellen der Empörung beistehen: Unsere Hannah Arendt wird verfolgt von der amerikanischen Presse, einer aufgebrachten Öffentlichkeit und natürlich von geschniegelten Mossad-Agenten, die allesamt daran interessiert sind, die große Denkerin mundtot zu machen.
Dass viele persönlich aufgewühlte Reaktionen wie die Diffamierung Arendts als „Nazihure” im Licht der gesellschaftlichen Stimmung der frühen 60er zu sehen sind, als viele Holocaust-Überlebende in den USA eine neue Heimat gefunden hatten, verschweigt von Trotta nicht. Und obwohl sie auch die Kritik, die enge Freunde wie Hans Jonas und Kurt Blumenfeld an Arendts Eichmann-Schrift äußerten, ernst nimmt und das Scheitern dieser Freundschaften eindringlich darstellt, kann die Film-Arendt am Ende gegenüber ihrem Mann feststellen: „Jetzt weiß ich, wer meine wahren Freunde sind.” Freunde sind demnach diejenigen, die ihre Meinung als solche hinnehmen und nicht versuchen, sie zum Umdenken zu bewegen. Darunter fallen der geliebte Mann und ihre College-Studenten als Angehörige einer neuen Generation, der es hoffentlich vergönnt sein wird, unabhängig von Redeverboten zu denken.

Mit ihrer Verfilmung von Hannah Arendts Geschicken liegt Margarethe von Trotta im Trend. Die deutsche Intellektuelle für Freiheit und Zivilcourage und gegen Totalitarismus, erfreulicherweise Jüdin, ohne darauf herumzureiten erst neulich war sie im ZDF-Film gegen autoritäre Heimerziehung vertreten, mit dem überaus schulbuchtauglichen Zitat: „Wo das Reden aufhört, beginnt die Gewalt.” Hannah Arendt scheint einer Broschüre der Bundeszentrale für politische Bildung entsprungen zu sein.
Von Trotta expliziert die pluralistische Botschaft Arendts nun ausgerechnet am Beispiel der zitierten Passage über die Judenräte und bedient sich dabei einer ausgesprochen antisemitischen Darstellung. Der Schuldspruch über die jüdischen Opfer wird ohne den oben entwickelten ambivalenten Kontext wiedergegeben und für das Schema Eine Frau geht ihren Weg funktionalisiert, das von vornherein Sympathie mit der Hauptdarstellerin erzeugt.
Ein Anliegen der Regisseurin ist es wie schon in den Filmen über Rosa Luxemburg und Hildegard von Bingen ersichtlich , herausragende Frauengestalten und die Bedingungen weiblicher Intellektualität darzustellen (die sich quasi naturgemäß gegen eine starke männliche Dominanz behaupten muss). Leider verträgt sich dieses schöne feministische Ansinnen in Hannah Arendt ausgezeichnet mit der Weltsicht des Antisemiten, der zufolge die offensichtliche Wahrheit über die Juden aus bestimmten Interessen heraus unterdrückt wird und es unsäglichen Mut erfordert, sie dennoch auszusprechen. Von Trottas widerborstige Hannah Arendt kommt der israelkritischen Attitüde eines Günter Grass oder Jakob Augstein sehr nahe, die gleichfalls vermeinen, sagen zu müssen gerade als Demokraten, Linke, Menschenfreunde , dass die Juden als Israelis die Nazis von heute sind, und sich dabei als Tabubrecher eines Redeverbots fühlen, das sowohl die deutsche Vergangenheit als auch die political correctness ihnen auferlegt. Sie tun es, wie die Film-Arendt, unter Schmerzen, die ihnen der Verlust öffentlicher Huldigung und sogar alter Freunde bereitet, die nicht verstehen wollen, dass sie kein prozionistisches Feigenblatt mehr vor den Mund nehmen, sondern endlich bei sich selber angekommen sind. Das existenzialistische Pathos des Grass'schen Machwerks Was gesagt werden muss verdeutlicht diese Haltung ganz ausgezeichnet.
Dasselbe Pathos umweht die Arendt im Film wie der Rauch ihrer Kippe. Sie nimmt diese Haltung zwar nicht ein, um den Staat Israel zu kritisieren, sondern sie spricht über den Holocaust aber das tut wenig zur Sache. Es geht ja darum, die Wahrheit über die Juden zu sagen; und dass sich deutscher Antisemitismus nach Auschwitz gern ins Gewand der legitimen Israelkritik hüllt, ist bekannt. Alle Ehren den toten Juden; die lebendigen stiften nach wie vor nur Unheil und sind darin keinen Deut besser, als wir es damals waren. Die suggestive Botschaft des Films Hannah Arendt lautet: Es müsse doch gesagt werden dürfen, dass auch die Juden keine Unschuldslämmer sind. Die damit erreichte, pseudodifferenzierende Weichzeichnung der Täter-Opfer-Relation impliziert etwas ziemlich anderes, als Arendt in Eichmann in Jerusalem geschrieben hat nämlich die Relativierung deutscher Schuld zugunsten einer Perspektive der allseitigen Versöhnung, die als menschlich ausgegeben wird. Wie wir in Hitlers Krieg nicht nur gemordet, sondern auch gelitten haben, so haben halt auch die Juden jeder ihren kleinen Eichmann in sich.
Es ist eine Frechheit, Hannah Arendt, die sich zeitlebens als Jüdin, nicht als Deutsche verstand und sich immer wieder für die Sache der Juden einsetzte, als Kronzeugin solcher Vergangenheitsbewältigungsakrobatik aufzufahren.

Von der Banalität des Meinens

Komplett trivialisiert wird Arendts Mahnung zum Selber-Denken, wenn wie es im Film geschieht „denken” mit „meinen” verwechselt wird. Im Interview mit der Hannoverschen Allgemeinen vom 04. Januar 2013 sagt von Trotta, am Beispiel Hannah Arendts habe sie zeigen wollen, wie wichtig es ist, die eigene Meinung zu vertreten; deshalb habe sie die Denkerin Arendt dem nicht denkenden Eichmann gegenübergestellt. Auf diese Weise werden „denken” und „meinen” fälschlich miteinander identifiziert.
Eine gedankliche Reflexion bezieht sich auf einen Gegenstand in einer Weise, die für andere, die darüber nachdenken, grundsätzlich verständlich ist; denn begriffliches Denken erfolgt in objektiven, universalistischen Kategorien, ohne die Wissenschaft, Philosophie und Kritik nicht möglich wären. Denken, wie es sich im historischen Prozess der Aufklärung herausgebildet hat (worin die von Hannah Arendt so sehr verehrte griechische Philosophie eine nicht unmaßgebliche Rolle spielt), heißt folglich, Dinge zu anderen Dingen in Beziehung zu setzen, sie einer Debatte oder einem theoretischen Rahmen einzufügen und dabei ihre Besonderheit, ihr konkretes und unverwechselbares Wirken erst einmal auszuschalten. Der gewaltige Hinkefuß der aufklärerischen Vernunft: die Verdrängung des Fühlens, der Leidenschaften, alles Sinnlich-Körperlichen, kann jedoch nicht dadurch beseitigt werden, indem Denken durch eine Priorität des Meinens ersetzt wird, das um bei den Griechen zu bleiben seinen Ursprung im Bauch hat und nicht im Kopf. „Eine Meinung haben” verweist gerade auf das unvermittelte und undiskutierbare Moment einer Äußerung, die dadurch fast zur Geschmackssache wird. Von Trotta verfällt der gängigen Mode, Meinungen als Identitätsäußerungen des Einzelnen zu verabsolutieren, die anzugreifen oder jemandem „abzusprechen” fast schon etwas Beleidigendes hat und an der, will man authentisch bleiben, unbeirrbar festgehalten werden muss. Darin besteht der ganze Heroismus ihrer Hannah Arendt. Sie ist ihre Meinung; wer gegen ihre Meinung anredet, redet gegen sie selber und kann kein Freund mehr sein. Dass diese Meinung an einen so zweifelhaften und unzureichend dargestellten Sachverhalt wie die These von der jüdischen Mitschuld geknüpft ist, zeigt, wie tauglich die unkritische Hochschätzung der Meinung als solcher gerade für ideologische Glaubensbekenntnisse ist.
Die Moral, die daraus folgt, ist die letztlich gedankenfeindliche Toleranz der Andersmeinenden, die an einer Vermittlung und Richtigstellung von Meinungsinhalten nur wenig interessiert ist. Ähnlich wie das allzu selbstverständliche Gegen-Gewalt-Sein, welches verleugnet, dass jedes Denken, jedes Reden und jede Erziehung herrschaftlich, also gewaltförmig verfasst ist, bildet Toleranz eines der Schlagwörter, die Hannah Arendts politische Theorie für den Jargon der demokratischen Vielfalt so vermarktbar machen. Ich kann nicht beurteilen, inwieweit der heute populäre Meinungspluralismus tatsächlich mit Hannah Arendt zu rechtfertigen wäre. Es bleibt vorerst abschließend zu sagen, dass ihre grundlegende Erwartung, aus der Rationalität des Denkens müsse menschenwürdiges Handeln resultieren, die Dialektik der Aufklärung missachtet. An einer Stelle definiert sie Eichmanns angebliche Denkschwäche wie folgt: „[E]r war nicht imstande, vom Gesichtspunkt eines anderen Menschen aus sich irgend etwas vorzustellen. Verständigung mit Eichmann war unmöglich, nicht weil er log, sondern weil ihn der denkbar zuverlässigste Schutzwall gegen die Worte und gegen die Gegenwart anderer, und daher gegen die Wirklichkeit selbst umgab: absoluter Mangel an Vorstellungskraft.” Arendt setzt hier Denken in eins mit der Empathie erfordernden Bereitschaft, andere Menschen in ihrer Besonderheit und in ihrem Leiden wahrzunehmen als wären dies nicht Momente, die sich seit Anbeginn unseres Denkens unversöhnt gegenüberstünden. Ihr idealistischer Begriff vom Denken missversteht, dass gerade das Verallgemeinerungs- und Abstraktionsvermögen des vernünftigen Denkens, das einerseits das Potenzial einer bewusst und frei eingerichteten Gesellschaft birgt, andererseits dazu befähigt, vom Mitleiden abzusehen und entsetzlichste Grausamkeiten zu ersinnen. Eichmanns Unfähigkeit lag somit nicht im Denken, sondern in einer Desintegration von Denken und Fühlen, an der das gesamte aufgeklärte Denken krankt und das die Nazis nutzten, um zu ihren eigenen Gräueltaten imstande zu sein. Das wird nur zu deutlich in der berühmten Himmler-Rede (die auch Arendt zitiert), worin der Hauptzuständige für die Judenvernichtung ausführt, die Massenerschießungen schlügen zwar aufs Gemüt, aber jeder Soldat habe sich zu ermannen und die historische Tat fürs Vaterland zu vollbringen.

Mit seiner wohlfeilen Botschaft, dass es prima von Hannah Arendt war, an ihrer Meinung festgehalten zu haben, zielt von Trottas Film nicht aufs Denken z. B. auf eine Diskussion über die Richtigkeit von Arendts Eichmann-Analyse , sondern aufs Bauchgefühl. Ausgerüstet mit dieser Botschaft samt ihren antisemitischen Implikationen ließ sich für viele ZuschauerInnen sicherlich ein geruhsamer Heimweg antreten.



Korinna Linkerhand

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Alle Zitate aus Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Aus dem Amerikanischen von Brigitte Granzow. Hamburg: Rowohlt 1978.

03.05.2013
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