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Aktuelles Heft

INHALT #196

Titelbild
Editorial
• das erste: Fußball statt Deutschland
• inside out: Der heutige Alltag
• doku: Offener Brief gegen Denunziation
• doku: Israelsolidarität oder Pro Israel?
• leserInnenbrief: LeserInnenbriefe
• sport: Distillery Games
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• neues vom: Neues… vom Stadtteilmanagement

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Israelsolidarität oder Pro Israel?

Auch wenn es der Partei Pro NRW derzeit vortrefflich gelingt, einer breiteren Öffentlichkeit zu demonstrieren, was es mit diesen Salafisten auf sich hat, ist eine Welle der Solidarisierung oder ein größerer Wahlerfolg nicht zu erwarten. Die verwendete „Entlarvungsstrategie“ basiert auf fundamentalen Fehlannahmen, die auch unter israelsolidarischen Linken verbreitet sind.
Günter Grass hat Recht. Meinen zumindest viele Menschen wie zum Beispiel der Sonderbeauftragte für die Israelfrage des Landesverbandes Bremen der Partei Die Linke (ohne Parteimitgliedschaft, das ist ihm wichtig) Arn Strohmeyer, Jürgen Elsässer, der traurige, aber in Bremen noch immer erschreckend große Rest der Ostermarschierer, die Zombies der globalen Linken (Noam Chomski, Domenico Losurdo, Jean Ziegler…) und natürlich die Masse der Kommentar- und Leserbriefschreiber.
Wolfgang Pohrt hatte Recht. Meint das Aktionsbündnis gegen Wutbürger. Oft sind bei Pohrt die wichtigsten Erkenntnisse dort zu finden, wo man sie nicht vermutet, in solchen Sätzen, die man zunächst verwirft oder die aus einer fragwürdigen Argumentation erst noch gelöst werden müssen. In „FAQ“ schreibt Pohrt, als wolle er die Debatte um Günter Grass' „Gedicht“ mit dem zeitlos schönen Titel „Was gesagt werden muss“ kommentieren: „Antisemiten und Rassisten werden bekämpft, weil man sie benötigt. Sie werden gebraucht, weil sie sowas wie der Dreck sind, an welchem der Saubermann zeigen kann, dass er einer ist.“
Das mediale Dauerfeuer der gerecht Empörten, das über Leute wie Grass oder auch Thilo Sarrazin hereinbricht, weil sie die offiziellen Sprachregeln verletzen (und nicht weil man grundsätzlich anderer Auffassung wäre), wird von den Wutbürgern und anderen Vertretern des gesunden Volksempfindens mit durchaus nicht unverständlicher Abscheu betrachtet. Es ist aber weniger der berechtigte Ekel vor dem Gesindel, das die sogenannten Qualitätsmedien vollschreibt und die Sprachregelungen und Denkformen vorgeben will, in denen sich die Ressentiments äußern dürfen, der die Wutbürger dazu treibt, sich massenhaft mit Günter Grass zu solidarisieren. Es liegt auch nicht daran, dass sie alle die Argumente voll und ganz teilten, die er vorzubringen hat. Wie bereits kaum jemand, der Sarrazin zustimmte, das gähnend langweilige Buch überhaupt gelesen hatte, so kam es auch den Fans von Günter Grass, die durchaus nicht derselben Fraktion angehören müssen, gar nicht darauf an, ob die vorgebrachten Behauptungen stichhaltig sind.
Wird einer wie Grass kritisiert, dann fühlt sich der gemeine Deutsche vielmehr einem unerträglichen Terror der political correctness ausgeliefert, die ihm die hemmungslose, unregulierte Abfuhr seiner Triebe versagt – und er wird wütend. Es ist also unerheblich, was Grass oder Sarrazin genau gesagt haben, um ihnen lauthals beizupflichten und das „man wird ja wohl noch sagen dürfen…“ anzustimmen, weil es dafür ausreicht, dass der Wutbürger spürt, dass jemand seinem Ressentiment Ausdruck verleiht. Wenige Reizwörter genügen, um heftige Reaktionen auszulösen – wie es bei Günter Grass, der als Schriftsteller doch fähig ist, seinen Verstand zu bemühen, vollkommen ausreicht, dass von „Juden“ oder „6 Millionen“ die Rede ist, um einen kompletten Systemabsturz auszulösen.
So offenkundig es ist, dass der Grund für diesen Ausschlag in seiner Verdrängung der eigenen Nazi-Vergangenheit liegt – wobei die verdrängten Gefühle als Angst zurückkehren und ihm als Fremdes gegenübertreten, was in Kombination mit der Weigerung, mit allen Elementen der Nazi-Ideologie restlos zu brechen, diesen vollendeten Wahnsinn erst möglich macht, welcher Grass wie ferngesteuert von sechs Millionen ermordeten deutschen Soldaten in der Sowjetunion fabulieren lässt, wenn er mit einem israelischen Historiker spricht – so verpönt ist diese Ansicht nicht etwa nur unter denen, die Grass Recht geben. Die Frage überhaupt nur zu stellen, warum der Antisemit antisemitische Dinge nicht nur sagt, sondern sagen muss, gilt durch den Hinweis auf das verdrängte Wissen um die eigene Schuld bereits als unsachliche, auf Vernichtung der Person gerichtete „Psychologisierung“.
Festgezurrt wird in Debatten wie der um Grass lediglich der gesellschaftliche Konsens, was eine legitime Israelkritik ist und was nicht, und die Tabubrecher dienen dabei als Schmutzfinken, an denen die eigene Sauberkeit umso strahlender präsentiert werden kann. Niemand sagt in einer solchen Debatte, dass es Israel selbstredend gestattet ist, alles zu unternehmen, um die Sicherheit seiner Bürger zu schützen, dass insbesondere militärisches Vorgehen gegen eliminatorische Antisemiten ausdrücklich zu unterstützen ist. Stattdessen läuft die Debatte so: Israel gefährdet den Weltfrieden – bitte nicht übertreiben. Für Weltfrieden gilt, was Johannes B. Kerner über die Autobahn bereits wusste: Das geht gar nicht. Politisch korrekt und im Jargon der Eingeweihten, den Grass leider nicht ausreichend rezipiert hatte, hat man denselben antisemitischen Sermon folgendermaßen zu formulieren: Israel diskriminiert die Palästinenser, der Siedlungsbau muss sofort gestoppt werden, es muss die gesamte Westbank inklusive Ostjerusalem an die Palästinenser fallen, Israel hat von Provokationen und militärischen Vergeltungsmaßnahmen abzusehen und Abenteuer wie ein Militärschlag gegen den Iran sind zu unterlassen, weil dies einen Flächenbrand im gesamten Nahen Osten und den verständlichen Zorn der arabischen Straße auslösen würde.
In Zeiten, in denen der Mainstream der gemäßigten Israelkritiker mit Begriffen wie „strukturellem“ oder „sekundärem“ Antisemitismus herumhantiert und in Zeiten einer restlos verblödeten Occupy-Bewegung, in der Vertreter der Linkspartei und andere linke Spinner vor „verkürzter Kapitalismuskritik“ warnen, die sie verlängern wollen, haben diese Begriffe jeden kritischen Gehalt verloren, wenn sie ihn denn je hatten. Ob die Occupy-Bewegung antisemitisch ist, ist eine irrelevante Frage, da ihre „Gesellschaftskritik“ – oder besser: ihre wahnhafte Gesellschaftsvorstellung – notwendigerweise darauf gerichtet ist, die Parasiten – die 1% – zu vernichten. Und dies unabhängig davon, ob die 1% jüdisch konnotiert werden oder ob sie sich als Israelkritiker oder Israelfreunde präsentieren. Die dort vorgetragene „Kapitalismuskritik“, die von der gesamten Linken wie z.B. der Jungen Welt, der Linkspartei, aber auch von konkret, BAK Shalom oder Teilen der Jungle-World-Autoren im Kern geteilt wird, ist nicht „verkürzt“, sondern falsch und wahnhaft und bedarf keiner Verlängerung. Und mehr muss man über Occupy Wall Street nicht wissen.
Die endemische linke Beschäftigung mit dem „strukturellen Antisemitismus“, die deutsche Antisemitismusbeforschung von Dr. Heni bis Prof. Benz, der BAK Shalom, das „Bremer Bündnis gegen Antisemitismus“ und wie sie alle heißen, sind somit aus der Perspektive der Kritik oder gar der Abschaffung des Antisemitismus nicht nur vollkommen irrelevant, sondern leisten vielmehr ihren Beitrag zum Fortleben der „Judenfrage“ als Antisemitismusfrage. Dies gilt auch und insbesondere für die antideutsche Bewegung, wo sie als Bewegung auftritt und Aktionen durchführt, bei denen tätliche Angriffe gewaltbereiter Antisemiten provoziert werden, anstatt diese zu vermeiden. Wer zum Beispiel einen Israel-Soli-Stand auf dem Kreuzberger Myfest aufbaut, wer mit Israelfahnen durch Neukölln zieht oder in unmittelbarer Nachbarschaft zu einem antisemitischen Zentrum ohne sinnvollen Schutz einen Lanzmann-Film aufführt, leistet nicht nur keinen Beitrag zur Sicherheit Israels und verhilft keinem Antisemiten zu tiefen Einsichten, sondern setzt sich und andere in unverantwortlicher Weise Gefahr für Leib und Leben aus. Der Verdacht liegt nahe, dass genau darin aber der eigentliche Zweck einer solchen Übung besteht: Man will sich nachher Stolz als Opfer antisemitischer Gewalt präsentieren können, um aus dem Opferstatus einen politischen und moralischen Mehrwert zu generieren (ganz wie es auch Pro NRW versucht).
Das bedeutet nicht, dass politische Interventionen oder ein gewisses Maß an Militanz grundsätzlich falsch wären, aber es drängt sich der Eindruck auf, dass diese Art der Praxis weniger auf Veränderung unhaltbarer, nicht nur Bremer Zustände zielt, sondern dass es sich um das narzisstische Um-Sich-Selbst-Kreisen handelt, das für (linke) Identitätspolitik typisch ist. Das existentielle Bedürfnis nach dem ursprünglichen Erlebnis, die Sehnsucht, den eigenen „Auschwitzphantasien“ (U. Meinhof) einen Hauch von Plausibilität zu verleihen, um sich besser in die Opfer einfühlen zu können, sich gleichzeitig aber als heroische Resistance-Kämpfer zu inszenieren, muss grenzenlos sein. Fabian Kettner hat es auf den Begriff gebracht: „Die Existenz des Kämpfers wird zur Materiatur der Glaubwürdigkeit seines Einsatzes.“
Aber nicht nur in den Wahnvorstellungen, sondern auch in den zugrundeliegenden Annahmen reproduziert eine solche „Israelsolidarität“ das Elend der RAF: Bekanntlich wollte die RAF den Faschismus aus den staatlichen Institutionen herauslocken – was ihr auch mit niederschmetterndem Erfolg gelungen ist. Nur hat dies nicht etwa, wie die RAF sich erhoffte, zu einer Erhebung der Massen gegen den Staat geführt. Vielmehr sehnen sich die Massen bis heute nach der Führerperson Helmut Schmidt, dem Kanzler des Ausnahmezustands, wie Thomas Maul (Bahamas Nr. 63) und Richard Kempkens (Prodomo Nr. 16) schlüssig darlegen.
Wie die RAF sich Illusionen über die postnazistische BRD hingab, so glauben diese antideutsch Bewegten in völliger Verkennung der Realität, dass die Hervorbringung und Entlarvung des linken Antisemitismus zu einem Erschrecken, zu einer Art Besinnung führen könnte. Aus der Perspektive dessen, der meint, aus den Erfahrungen vorangegangener Bewegungen lernen zu können, ist dies ein trostloser Befund. Im Gegensatz zur RAF und der antideutschen Bewegung ging es der Kritik des Antisemitismus nie darum, Opfer zu erzeugen. Ziel war vielmehr, Denken und Handeln so einzurichten, dass Auschwitz sich nicht wiederhole – eine Forderung, deren Konsequenz es sein muss, dass niemand mehr zum Objekt, zumSündenbock, zum Opfer gemacht werden soll. Hierin liegt der Grund für die Israelsolidarität, denn in einer in Staaten organisierten Welt, in der der Antisemitismus allgegenwärtig ist, kann einzig ein jüdischer Staat den Juden zuverlässig Schutz bieten.
Diese banale Erkenntnis der Vernunft wird durch eine Praxis dementiert, die es darauf anlegt, antisemitische Gewalttaten auszulösen oder die dies zumindest in Kauf nimmt. Anstatt sich unnötigen Gefahren auszusetzen, sollte man allen Menschen, die Opfer antisemitisch motivierter Übergriffe werden könnten, von jedem Risiko abraten. Man müsste ihnen empfehlen, antisemitische Massenaufläufe wie den ersten Mai in Kreuzberg zu meiden und aus Gegenden, in denen der antisemitische Mob die Kiezmiliz spielt, wegzuziehen, anstatt sich bei linken Szenemenschen auszuweinen und sich von diesen in den Dhimmi-Status befördern zu lassen. So bescheiden das kleine, private Glück auch sein mag: Es ist allemal nicht nur dem eigenen Wohlbefinden, sondern auch einer befreiten Gesellschaft dienlicher, am ersten Mai einen schönen Tag mit den Liebsten zu verbringen, als sich von linken oder ordinären Nazis verprügeln zu lassen.
Auch realpolitisch erscheint die Strategie der Erzeugung antisemitischer Skandale ebenso wie der Tonfall moralischer Empörung gegen die bösen Antisemiten, für den ein Dr. Heni prototypisch steht, nicht geeignet, die Stimmung im Lande im Sinne Israels zu beeinflussen. In dieser Hinsicht ist die Regierung Merkel, die bei aller berechtigten Kritik ihrer Nahostpolitik Israels Sicherheit immerhin zur Staatsräson erklärt hat und von der kein ernsthafter Protest zu erwarten ist, wenn Israel militärisch gegen die Nuklearanlagen seiner Todfeinde vorgeht, das Maximum, das man hierzulande bekommen kann, weil von keiner anderen Regierungskonstellation ein besserer Kurs zu erwarten wäre, ganz im Gegenteil. Dies belegen nicht nur die einschlägigen Aussagen von Sigmar Gabriel und seinen Genossen von der Linkspartei, sondern insbesondere die neuformierten Piraten, deren Israelbeauftragte in den einschlägigen Internetforen schon einmal eine nukleare Bewaffnung der Palästinenser fordern oder Norman Finkelstein als „glaubwürdigen Friedenskämpfer“ (sic!) feiern. In Anbetracht einer solchen Opposition, die in dieser Angelegenheit das Volksempfinden auf ihrer Seite hat, gilt: Je weniger von Israel die Rede ist und je weniger antisemitische Skandale es gibt, desto unbehelligter kann die Regierung einen realpolitischen Kurs in der Israelpolitik verfolgen. Die Erzeugung einer Öffentlichkeit dagegen, wie zum Beispiel im Fall Grass, mobilisiert den Mob in den Kommentarspalten oder auf der Facebook-Seite von Ruprecht Polenz, was Zugeständnisse erzwingt.
Gänzlich offensichtlich wird dieser Zusammenhang an dem größten antisemitischen Skandal, den es in den letzten Jahren in Deutschland gegeben hat. Als zwei Abgeordnete des deutschen Bundestags, Anette Groth und Inge Höger, sich an einem terroristischen Akt gegen Israel, einem befreundeten Staat, dessen Sicherheit doch Staatsräson sein sollte, beteiligten, löste dies bei den Parteien der sogenannten Mitte nicht etwa wütende Verurteilungen des politischen Gegners von der linken Seite des politischen Spektrums aus, sondern es wurde alles nur noch schlimmer. Sofort und wie von Geisterhand zusammengefügt, bildete sich eine Volksgemeinschaft aller Demokraten, die keine Parteien, sondern nur noch Israelkritiker kannte und eine sofortige Aufhebung der legitimen Blockade des Gaza-Streifens und damit die Vergrößerung unmittelbarer Lebensgefahr für die angeblich befreundeten Staatsbürger in Sderot und Umgebung forderte.
So sehr der Antisemit nicht alle Menschen, sondern alle Juden, und nicht alle Staaten, sondern Israel hasst, so wenig ist diesem simplen Fakt dadurch beizukommen, dem Antisemiten vorzuhalten, dass er sich bewusst zum Antisemitismus entscheide – und erst Recht nicht durch Sprachregelungen und Kriterienkataloge. Solche Kriterien, die legitime von illegitimer Israel-, verkürzte von verlängerter Kapitalismuskritik usw. trennen wollen, sind blind gegenüber den zugrundeliegenden Triebkräften – und so wie jede Kritik des Antisemitismus sinnlos ist, die auf die „unwissenschaftliche“ Psychoanalyse meint verzichten zu können, so ist jede Strategie zunächst einmal abzulehnen, die den Antisemiten lediglich ihre destruktive Triebabfuhr ermöglicht.
Für die Israelsolidarität folgt daraus, dass Intervention und Kritik sich nicht gegen ohnehin nicht ansprechbare Radikalantisemiten richten kann. Deren Behandlung ist bewaffneten Kräften, im Falle von Hamas und Konsorten der IDF und im Falle der Kiezschläger der Polizei zu überlassen, wobei es natürlich zu fordern wäre, dass die angeblich befreundeten Staaten der NATO Israel stärker zur Seite stehen sollten und dass die Polizei in der Verfolgung antisemitischer Straftäter größeren Verfolgungseifer an den Tag legen sollte. So wenig aber Israel auf die Solidarität der Weltgemeinschaft zählen kann und deswegen gezwungen ist, selbst als gewalttätiger Staat zu agieren, so wenig ist zu erwarten, dass unter spätkapitalistischen Bedingungen die Staatsgewalt noch garantieren kann, dass bestimmte Gebiete nicht Gangs und Kiezmilizen in die Hände fallen, die willkürlich darüber bestimmen, wer Jude ist und wer nicht. Dem ist aber durch die eigene Degeneration zu einer Bande rivalisierender Kiezschläger nicht beizukommen.
Vielmehr sind diejenigen einer beißenden Kritik zu unterziehen, die ihren Antisemitismus durch offizielle Sprachregelungen zu zügeln gelernt haben, also diejenigen, bei denen eine vage Hoffnung auf Restvernunft noch besteht. Wo die Grenzen einer solchen Perspektive liegen und welche Praxis und Kritik notwendig wäre, ist die Frage, die wir uns stellen und auf die wir auch keine zufriedenstellende Antwort bieten können. Sicherlich gilt aber, dass eine solche Kritik Selbstkritik und Selbstreflexion voraussetzt, also die Erkenntnis, dass jeder dem Kapitalverhältnis unterworfen ist und die damit einhergehenden Deformationen, die Beschädigungen, die dieses Leben, das auf Versagung basiert, notwendigerweise mit sich bringt, zu einer moralischen Erhöhung der eigenen Person keinen Anlass bieten.
Der partielle Alterswahnsinn, den Wolfgang Pohrt an den Tag legt, ist ein Beispiel dafür, dass jede der inneren und äußeren Natur abgetrotzte Erkenntnis notwendig prekär bleiben muss, denn „(w)as immer sich übers Bestehende erhebt, ist mit dem Zerfall bedroht und damit dem Bestehenden meist erst recht ausgeliefert“ (Adorno). Aber einzig durch diese Reflexion, zu der nicht nur einer wie Grass vollkommen unfähig und erst Recht unwillig ist, ist die Möglichkeit einer Entscheidung, hoffentlich gegen den Antisemitismus, überhaupt erst zu gewinnen.

Aktionsbündnis gegen Wutbürger

17.06.2012
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