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Kritische Theorie und Kino

Benjamin und Adorno über Kunst und Kulturindustrie

In seinen geschichtsphilosophischen Thesen formulierte Walter Benjamin den seither häufig zitierten Satz, es sei „niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein.“(1) Auch Kunst, die sich hoch über das gesellschaftliche Leben erhebt, habe gleichwohl teil an dessen gewalttätiger Reproduktion. Und sei es nur dadurch, dass sie dem unschönen Dasein unweigerlich einen Anstrich von Schönheit verleiht. Dies hat Adorno später als den „konservativen Aspekt“ eines jedes Kunstwerks bezeichnet, dessen „Existenz hilft, die Sphären von Geist und Kultur zu befestigen, deren reale Ohnmacht und deren Komplizität mit dem Prinzip des Unheils nackt zutage treten.“(2) In der Beurteilung dieses Schuldzusammenhangs waren Benjamin und Adorno einig. Einig waren sie aber auch darin, dass die Konsequenz daraus nicht lauten könne, Kunst und Kultur zu dispensieren und zynisch der unmaskierten Barbarei das Wort zu reden. Dem Unbehagen in der Kultur zu entkommen, dürfe nicht heißen, sich auf die tierische Natur zurückzuziehen, sondern im Gegenteil die von der zweiten, gesellschaftlichen Natur geschaffenen Bedingungen des Lebens zu ändern, die für das schlechte Gewissen der Kultur im wesentlichen verantwortlich sind.
Uneins hingegen waren sie in der Beantwortung der Frage, wie im Medium der Kunst selbst die Barbarei, deren Dokument sie sein soll, reflektiert werden könne in der Hoffnung, jenen Zustand vielleicht einmal real abzuschaffen. Während Adorno allein der autonomen Kunst zutraute, als „Statthalter der nicht länger vom Tausch verunstalteten Dinge“(3) ein emphatisches Bewusstsein von Freiheit zu vermitteln, das in sonst allen Bereichen der Gesellschaft verbaut werde, vertraute Benjamin darauf, dass gerade von der sogenannten Massenkultur – für die Adorno dann den Begriff Kulturindustrie prägte – der Funken ausgehe, der nicht nur die traditionelle Kunst aufheben, sondern die gesamte Gesellschaft aus ihrem barbarischen Zustand befreien sollte; mit dem „Dynamit der Zehntelsekunden“, das mit dem Film erfunden worden war, sollte „diese ganze Kerkerwelt […] gesprengt“ werden.(4)
Die hier schematisch gegenübergestellten Positionen sollen im folgenden erläutert werden, und zwar in bezug vor allem auf den Film. Die verbreitete Meinung, derzufolge Benjamin sich als freundlicher Fürsprecher der später sogenannten „popular culture“ empfahl, wohingegen Adorno auf diese vermeintlich demokratischen Kulturerrungenschaften mit Verständnislosigkeit und elitärem Hochmut herabgesehen habe, soll am Material (d.h. an entsprechenden Textauszügen Benjamins und Adornos) nachvollzogen und dadurch zugleich korrigiert werden. Denn wichtiger als eine Parteinahme für dies oder jenes erscheint zunächst die beiden gemeinsame Perspektive der Erlösung von den Zwängen einer Gesellschaft, aus denen die Kunst die Menschen befreien helfen soll. Aus dieser gemeinsamen Perspektive lassen sich die gegensätzlichen Interpretationen Benjamins und Adornos als Versuche einer materialistischen Kunst- bzw. Kulturtheorie explizieren, in welche die einst in die „weltbefreiende Tat […] des modernen Proletariats“(5) gesetzte Hoffnung sich geflüchtet hat.
Zur offiziell marxistischen Kunsttheorie hielten beide Distanz. Benjamin nannte sie „bald bramarbasierend und bald scholastisch.“(6) Ihr gegenüber sahen sich Benjamin sowohl wie Adorno vielmehr in der Nachfolge der inzwischen als dekadent verspotteten Avantgarde, an deren enthusiastischem Versprechen, die Kunst ins praktische Leben aufzulösen, sie in veränderter Form festhielten. Historisch war die Avantgarde in den 1930er Jahren spätestens erledigt. Hinter die Erkenntnis, die sie zutage gefördert hatte, gab es jedoch kein Zurück mehr.
Peter Bürger hat das historische Selbstbewusstsein der Avantgarde in zwei Thesen zusammengefasst. Die erste lautet, „dass erst die Avantgarde bestimmte allgemeine Kategorien des Kunstwerks in ihrer Allgemeinheit erkennbar macht, dass mithin von der Avantgarde aus die voraufgegangenen Stadien des Phänomens Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft begriffen werden können“(7); erst die Avantgarde, heißt das, macht „die Kunstmittel in ihrer Allgemeinheit erkennbar, weil sie die Kunstmittel nicht mehr nach einem Stilprinzip auswählt, sondern über sie als Kunstmittel verfügt.“(8)
Der Ausbruch aus den stilistischen Restriktionen zeitigte überdies eine weitere, noch radikalere Konsequenz: „Mit den historischen Avantgardebewegungen“, so Bürgers zweite These, „tritt das gesellschaftliche Teilsystem Kunst in das Stadium der Selbstkritik ein.“ Und dies meint nicht bloß die „Kritik an […] vorausgegangenen Kunstrichtungen, sondern an der Institution Kunst, wie sie sich in der bürgerlichen Gesellschaft herausgebildet hat.“(9)
Die Institutionalisierung und Funktionalisierung von Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft war bereits von Schiller ratifiziert worden: „Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst“, heißt es im Prolog zum „Wallenstein“. Der „Hofpoet des deutschen Idealismus“, bemerkte dazu Adorno, habe so „die verfestigte und allbeliebte Zweiteilung zwischen Beruf und Freizeit [bestätigt]. Was auf die Qual prosaisch unfreier Arbeit und den im übrigen keineswegs unberechtigten Abscheu vor ihr zurückgeht, sei ein ewiges Gesetz der beiden reinlich getrennten Sphären. Keine soll mit der anderen vermischt werden. Gerade durch ihre erbauliche Unverbindlichkeit wird die Kunst dem bürgerlichen Leben als dessen ihm widersprechende Ergänzung eingefügt und unterworfen.“(10)
„Dem Idealisten“, schrieb er, „verdeckt sich die Möglichkeit, es könne real einmal anders werden.“(11) Benjamin und Adorno hielten diese Möglichkeit ausdrücklich fest, und die Kunst, mit dem Selbstbewusstsein der Avantgarde ausgestattet, sollte selbst einer der Kampfplätze sein, auf dem die Veränderung der Gesellschaft sich vorbereitet: „ästhetisch entfesselte Produktivkräfte“ sollten jene „reale Entfesselung“ vertreten, „die von den Produktionsverhältnissen verhindert wird.“(12)
Für Adorno bestand kein Zweifel, von welcherart Kunst allein er eine solche Entfesselung der ästhetischen Produktivkräfte zu erwarten hatte: nämlich jener, die er verschiedentlich als „radikale Moderne“ bezeichnet und im Unterschied zu den Produkten der Kulturindustrie jedenfalls als autonome Kunst verstanden hat. Benjamin, der wie Adorno den Neoklassizismus und – zumindest was Literatur und Malerei betraf – auch jedweden naiven Realismus verachtete, machte sich von der ästhetischen Moderne allerdings etwas großzügigere Vorstellungen. Neben den Produkten der im engeren Sinn modernen Kunst zählte er insbesondere auch jene modernen Massenspaktakel dazu, die ihrerseits im Begriff waren, die Kunst wenn nicht zu liquidieren, so doch auf eine nie dagewesene Art und Weise zu verändern. Vor allem in seinen Schriften der 30er Jahre tritt diese Tendenz immer deutlicher zutage.
Schon bei der Photographie, schrieb er, habe sich nicht mehr die Frage gestellt, ob sie eine Kunst sei, sondern vielmehr, „ob nicht durch die Erfindung der Photographie der Gesamtcharakter der Kunst sich verändert habe“.(13) Der Film spätestens habe „die Kunst von ihrem kultischen Fundament“(14) gelöst. Und mehr als das: „unter der genialen Führung des Objektivs“ habe er einerseits „die Einsicht in die Zwangsläufigkeiten vermehrt, von denen unser Dasein regiert wird“, und andererseits zugleich dafür gesorgt, „eines ungeheuren und ungeahnten Spielraums uns zu versichern!“(15)
Diese politische Stilisierung des Films – auf Kosten der autonomen oder auratischen Kunst – wird an anderer Stelle noch übertroffen, wo Benjamin dem Film gerade in dessen Funktion als Massenveranstaltung vor der „Avantgarde des Bürgertums“ und sogar vor den Versuchen des avantgardistischen Films den Vorzug gibt. Im „Passagenwerk“ notiert er:
„Nie wäre der Sozialismus in die Welt getreten, hätte man die Arbeiterschaft nur einfach für eine bessere Ordnung der Dinge begeistern wollen. Dass es Marx verstand, sie für eine zu interessieren, in der sie es besser hätten und ihnen die als die gerechte zeigte machte die Gewalt und die Autorität der Bewegung aus. Mit der Kunst steht es aber genau so. Zu keinem, wenn auch noch so utopischen Zeitpunkte, wird man die Massen für eine höhere Kunst sondern immer nur für eine gewinnen, die ihnen näher ist. Und die Schwierigkeit, die besteht gerade darin, die so zu gestalten, dass man mit dem besten Gewissen behaupten könne, die sei eine höhere. Dies wird nun für fast nichts von dem gelingen, was die Avantgarde des Bürgertums propagiert. [...] Dieser Aufgabe ist heute vielleicht allein der Film gewachsen, jedenfalls steht sie ihm am nächsten. Und wer das erkannt hat, wird dazu neigen, den Hochmut des abstrakten Films – so wichtig seine Versuche sein mögen – zu beschränken.
Er wird eine Schonzeit, einen Naturschutz für denjenigen Kitsch erbitten, dessen providentieller Ort der Film ist.“(16)
An keiner Stelle seines Werks dürfte Benjamin von der Kunstauffassung Adornos weiter entfernt sein als hier, wo er den Film nicht seiner ästhetischen Qualitäten, sondern seiner Publikumswirkung wegen zum Leitmedium erklärt. Adorno, der selber keine Gelegenheit ausließ, Benjamins Werk zu vereinnahmen und in seinem Sinne auszulegen, wusste jedoch sehr genau, wen er dafür zur Rechenschaft zu ziehen hatte: „Immerhin mag beim späten Benjamin dort, wo er von ästhetischer Avantgarde sich distanziert, wo sie nicht das Ticket der kommunistischen Partei unterschreibt, Brechts Feindschaft gegen die Tuis hereinspielen.“(17) Adorno respektierte Brecht als Literaten, hatte aber nichts übrig für sein „plumpes Denken“, dem Hannah Arendt zufolge Brechts Anziehungskraft auf den subtilen Denker Benjamin sich verdankte. Tatsächlich spielte Bertolt Brecht, mit dem Benjamin in den 30er Jahren freundschaftlich verbunden war und den er beinahe verehrte, hier eine nicht zu unterschätzende Rolle.(18)
Deutlich wird das in der Kontroverse um Benjamins Aufsatz über das „Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“. Adorno sah Brechts Einfluss vor allem in der „Simplifizierung“ am Werk, „die dann der Reproduktionsarbeit zu ihrer penetranten Beliebtheit verhalf.“(19) Wie sehr er diesen Einfluss fürchtete, geht aus zahlreichen Zeugnissen hervor. In einem Brief an Benjamin vom 18. März 1938 zum Beispiel beschrieb er es als seine Aufgabe, „Ihren Arm steifzuhalten bis die Sonne Brechts einmal wieder in exotische Gewässer untergetaucht ist.“(20) Ironischerweise dachte jedoch Brecht selbst, nebenbei, über Benjamins Reproduktionsaufsatz sehr despektierlich: „alles mystik, bei einer haltung gegen mystik“, notierte er 1938 in seinem „Arbeitsjournal“.(21)
Ohne die Thesen über das „Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ hier im Einzelnen zu referieren, wäre im Hinblick auf den Einfluss Brechts sowohl wie die Kritik Adornos zu fragen, wie Benjamin sich den Filmzuschauer als „Sachverständige[n]“(22) vorstellte und was es mit der „Haltung des fachmännischen Beurteilers“(23) auf sich hat. Diese Begriffe hatte Brecht im Rahmen seiner epischen Theaterkonzeption entwickelt und darin dem sich einfühlenden Publikum des illusionistischen Theaters ein distanziert fachkundiges Publikum entgegengesetzt. Hervorgerufen werden sollte eine solche begutachtende Haltung der Zuschauer durch die Verfremdungseffekte der epischen Inszenierung. Wenn nun Benjamin sich dieser sehr rationalistischen Konzeption bediente und das Konzept des >>fachmännischen Beurteilers<< auch auf den Film übertrug, so wäre zunächst zu fragen, was denn im Unterschied zum epischen Theater eine solche begutachtende Haltung beim Filmpublikum hervorrufen sollte. Bemerkenswerterweise bezieht sich Benjamin dabei nicht auf eine bestimmte Gattung von Filmen, sondern auf den Film als Medium. Der russische Revolutionsfilm gilt ihm gleichviel wie der amerikanische Groteskfilm. Denn verantwortlich dafür, dass das Publikum sich als „zerstreuter Examinator“(24) betätige, sei nicht die besondere Ästhetik eines einzelnen Films, sondern bereits die Filmtechnik als solche.
Die „verborgene politische Bedeutung“ schon der photographischen Aufnahmen sah Benjamin darin, dass sie „Beweisstücke im historischen Prozess“ seien: „Ihnen ist die freischwebende Kontemplation nicht mehr angemessen. Sie beunruhigen den Betrachter; er fühlt: zu ihnen muss er einen bestimmten Weg suchen.“(25) Und dies gelte um so mehr für den Film: „Man vergleiche die Leinwand, auf der der Film abrollt, mit der Leinwand, auf der sich das Gemälde befindet.“(26) Vor dem Film könne sich der Zuschauer nicht mehr seinem freien Assoziationsablauf überlassen, denn: „Kaum hat er sie ins Auge gefasst, hat sie sich schon verändert.“(27) Das mit den Mitteln des Films Dargestellte ist Benjamin zufolge dem Zuschauer nicht nur auf Anhieb vertrauter als die bislang dagewesenen Darstellungsweisen der Kunst, wie jemand meinen könnte, der im Film nicht viel anderes sehen wollte als eine optische Reproduktion der bewegten Wirklichkeit; es ist zugleich weitaus befremdlicher und erstaunlicher, weil erst der Film dem Zuschauer wirklich erlaubt – und ihn sogar zwingt –, die Welt mit immer wieder anderen Augen zu sehen. Nicht nur wechselt die Perspektive des Betrachters in Sekundenschnelle in Raum und Zeit, auch ist das filmische Auge viel besser als das menschliche imstande, gleichsam ins Innere der äußeren Realität zu blicken, indem es die sichtbare Wirklichkeit seziert und, der Psychoanalyse vergleichbar, verborgene Eindrücke ans Licht bringt. Erst der Film ist demnach der Wahrnehmung der technifizierten Wirklichkeit ganz angemessen: „Der apparatfreie Aspekt der Realität ist hier zu ihrem künstlichsten geworden und der Anblick der unmittelbaren Wirklichkeit zur blauen Blume im Land der Technik“.(28)
Benjamin sprach diesbezüglich von einer zweiten Technik, die sich von einer ersten, nämlich den „Gegenstände[n] einer magischen Kontemplation“(29), die bereits in die Frühgeschichte der Menschheit gehörten, unterscheide. Die zweite Technik sei die „der fernlenkbaren Flugzeuge, die keine Bemannung brauchen.“ Ihr Ursprung sei „da zu suchen, wo der Mensch zum ersten Mal und mit unbewusster List daran ging, Abstand von der Natur zu nehmen.“(30) Im Unterschied zu fernlenkbaren Flugzeugen, die Medientheoretiker erfreuen mögen, die sich an einer menschenleeren Eskalation der Technik berauschen, braucht allerdings der Film eine „Bemannung“, das heißt ein Publikum. Ohne das Publikum – das wäre Benjamin zugute und der aus seinen Schriften herausdestillierten Technikphilosophie entgegen zu halten – wäre die politische Bedeutung des Films gegenstandslos. Die Filmapparatur soll aber gerade den Zuschauern eine neue Wahrnehmungsweise der Wirklichkeit einüben und sie so befähigen, diese Wirklichkeit real zu verändern. Indem sie die Zuschauer, die ihr in Massen zuströmen, als Gutachter einer von der Apparatur durchdrungenen Wirklichkeit einsetzt, soll auch die Filmtechnik zur Veränderung der Wirklichkeit beitragen und schließlich eine Gesellschaft vorbereiten helfen, „in der weder die objektiven noch die subjektiven Bedingungen zur Formierung von Massen mehr vorhanden sein werden.“(31)
Dass die Filmtechnik allein es kaum bewerkstelligen würde, die Massen dem Zugriff des Faschismus zu entziehen und die Zuschauer zu mündigen Subjekten fortzubilden, hat freilich auch Benjamin geahnt. Er schrieb, dass „die politische Auswertung […] so lange auf sich wird warten lassen, bis sich der Film aus den Fesseln seiner kapitalistischen Ausbeutung befreit haben wird.“(32) Fortschritte in der Technik, wusste Benjamin, könnten den politischen Kampf nicht ersetzen. Sie könnten aber, so hoffte er, in Gestalt des Films dem Proletariat einen Trumpf in die Hand spielen, der es befähigen würde, den Kampf um so entschlossener zu führen.
Adorno blieb demgegenüber skeptisch, und das sowohl in kunst- und medientheoretischer als auch in politischer Hinsicht. Was die von Benjamin umworbenen Proletarier anlangte, so teilte er ihm mit, dass sie „vor den Bürgern nichts aber auch gar nichts voraushaben außer dem Interesse an der Revolution, sonst aber alle Spuren der Verstümmelung des bürgerlichen Charakters tragen.“(33) Großes Vertrauen in die guten Absichten des Proletariats hatte Adorno schon damals nicht, später sollte er auch den Glauben an dessen revolutionäre Interessen verlieren.
Benjamins Medienphilosophie stand er von vornherein ablehnend gegenüber. Das betraf zunächst Benjamins euphorische Hochschätzung der Filmtechnik, d.h. der optischen Apparatur als solcher, auf Kosten der künstlerischen Verfahren. „Sie unterschätzen die Technizität der autonomen Kunst und überschätzen die der abhängigen; das wäre vielleicht in runden Worten mein Haupteinwand“, schrieb Adorno.(34) Technizität der Kunst bedeutete für ihn die konsequente Entwicklung künstlerischer Formgesetze, nicht den Triumph der Apparate. Benjamin warf er deshalb vor, genau diesen Unterschied zwischen künstlerischer Technik und apparativer Technologie zu vernachlässigen.
Im einzelnen kritisierte er darüber hinaus Benjamins Konzeption der Filmwahrnehmung als „Test“ sowie vor allem die Theorie der Zerstreuung und, damit zusammenhängend, die angeblich befreiende Wirkung des kollektiven Gelächters im Kino, das Benjamin als „heilsamen Ausbruch“(35) gedeutet hatte. „Das Lachen der Kinobesucher“, entgegnete ihm Adorno, sei „nichts weniger als gut und revolutionär sondern des schlechtesten bürgerlichen Sadismus voll; […] und vollends die Theorie der Zerstreuung will mich, trotz ihrer chockhaften Verführung, nicht überzeugen. Wäre es auch nur aus dem simplen Grunde, dass in der kommunistischen Gesellschaft die Arbeit so organisiert sein wird, dass die Menschen nicht mehr so müde und nicht mehr so verdummt sein werden, um der Zerstreuung zu bedürfen.“(36)
Benjamins zuversichtliche Versicherung, auch in der Beurteilung des Films bald Einigkeit zu erzielen, klingt im nachhinein beinahe komisch. Die „Lancierung des Tonfilms“, konzedierte er Adorno, müsse in der Tat „als eine Aktion der Industrie betrachtet werden […], welche bestimmt war, das revolutionäre Primat des stummen Films, der schwer kontrollierbare und politisch gefährliche Reaktionen begünstigte, zu durchbrechen. Eine Analyse des Tonfilms würde eine Ihre und meine Ansicht im dialektischen Sinne vermittelnde Kritik der heutigen Kunst abgeben.“(37)
Wie eine solche Vermittlung hätte aussehen können, bleibt der Phantasie überlassen. Zwei Jahre nachdem er das geschrieben hatte, nahm sich Benjamin auf der Flucht vor den Nazis das Leben. Adorno war unterdessen in die USA übergesiedelt, wo er sich einerseits der empirischen Sozialforschung zuwandte und andererseits seine bis heute berüchtigte Kritik der Kulturindustrie formulierte. Berüchtigt vor allem deshalb, weil sie bisweilen entweder – wie der Ausdruck „Massenbetrug“ im Untertitel des entsprechenden Kapitels in der „Dialektik der Aufklärung“ nahelegt – als bloße Manipulationstheorie (worüber immerhin zu diskutieren wäre) oder gar als Wehklage eines Bildungsbürgers verstanden wurde, der um den Verlust seiner Kulturgüter fürchtet und den Massen ihr schlichtes Vergnügen missgönnt. Der „geläufigen Kritik an der Kultur, die selbstgerecht auf Verflachung, Oberflächlichkeit, Vermassung herumhackt“(38), stand allerdings Adornos Kritik der Kulturindustrie von vornherein unversöhnlich entgegen. „Die Konstellation vom bildungsbürgerlichen deutschen Intellektuellen, der in der Emigration zum antiamerikanischen Kulturkritiker einer allmächtigen Filmindustrie wird“, bemerkt dazu Detlev Claussen treffend, „passt allzu gut in das dünkelhafte Vorurteilsbild europäischer Mittelschichten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.“(39) Adorno wollte nicht sowohl die Massenkultur, in der die zur „Masse“ gemachten Menschen an ihrem möglichen Glück systematisch gehindert werden, als vielmehr die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse denunzieren, welche die sogenannten Kulturgüter ebenso wie die Lebensmittel oder die dadurch reproduzierte Arbeitskraft in Waren verwandeln und der Akkumulation des Kapitals subsumieren. Mit der Kulturindustrie bereitete sich eine neue Epoche kapitalistischer Vergesellschaftung vor; neu insofern, als nun eine Ökonomisierung und Funktionalisierung auch des Alltags vollzogen wurde, des ehemals privaten Bereichs der Reproduktion, der fortan den gleichen Gesetzen unterworfen sein sollte wie der Produktionsprozess selbst. Soziologisch hatte dies übrigens in der Tat eine „Vermassung“ zur Folge (der eine „Individualisierung“ als Tendenz keineswegs widerspricht; denn inviduiert, wusste schon Marx, wird der einzelne stets erst in und durch die Gesellschaft); „das Wesen der Klassengesellschaft“, so drückte Adorno es aus, werde „von der Massengesellschaft verzaubert, in der die Klassengesellschaft sich vollendet.“(40)
Ästhetisch – und das betrifft nun den Film an erster Stelle – habe die Kulturindustrie es „zur Standardisierung und Serienproduktion gebracht und das geopfert, wodurch die Logik des Werks von der des gesellschaftlichen Systems sich unterschied.“(41) Ihre Reproduktionsverfahren zielten darauf ab, „dass an zahllosen Stellen gleiche Bedürfnisse mit Standardgütern beliefert werden.“(42) Dabei würden Bedürfnisse nicht nur mit entsprechenden Produkten bedient, sondern selber erst produziert. Die Kulturindustrie, schrieb Adorno, „hat nicht erst den Schund für die Kunden, sondern die Kunden selber hervorgebracht.“(43) Dadurch befestige sie einen „Zustand […], der sich weitgehend durch die Bedürfnisse der ihr Ausgelieferten hindurch an der Macht hält.“(44)
Benjamin hatte den Film unter ästhetischen bzw. medientheoretischen Aspekten betrachtet. Adorno bemerkte dagegen lakonisch, man werde „die Erzeugnisse der Kulturindustrie eher mit Begriffen der Marktforschung durchdringen als mit ästhetischen Kriterien.“(45) Unbeschadet seiner freundschaftlichen Beziehungen etwa zu Fritz Lang konnte Adorno der Filmkunst kaum Positives abgewinnen.(46) Ästhetische Überlegungen hierüber stellte er sporadisch erst in den 60er Jahren an. Im amerikanischen Exil der 40er Jahre erschien ihm der Film als „das drastische Medium der Kulturindustrie“.(47) Nahm Benjamin noch an, dass im Kino die „kritische und genießende Haltung des Publikums zusammen[fallen]“(48), behauptete nun Adorno von den Filmen, „dass ihre adäquate Auffassung zwar Promptheit, Beobachtungsgabe, Versiertheit erheischt, dass sie aber die denkende Aktivität des Betrachters geradezu verbieten, wenn er nicht die vorbeihuschenden Fakten versäumen will.“(49) Von einer kritischen Haltung des Zuschauers könne schon der medienspezifischen Präsentation des Materials, d.h. der „vorbeihuschenden Fakten“ wegen keine Rede sein, und die stereotyp konstruierten Sujets der Filme leisteten schließlich ihr übriges, um jedwede Reflexion zu unterbinden: „Der Zuschauer soll keiner eigenen Gedanken bedürfen: das Produkt zeichnet jede Reaktion vor: nicht durch seinen sachlichen Zusammenhang – dieser zerfällt, soweit er Denken beansprucht – sondern durch Signale. Jede logische Verbindung, die geistigen Atem voraussetzt, wird peinlich vermieden.“(50)
Ein solches Urteil würde man heute kaum aufrechterhalten. Auch Adorno wusste übrigens, dass die von der Kulturindustrie behauptete Identität mit ihren Konsumenten „nicht so über jedem Zweifel ist, wie der Kritische denkt, solange er auf der Produktionsseite verbleibt und nicht die Rezeption empirisch überprüft.“(51) Nicht zuletzt in der Filmgeschichte selbst lassen sich mühelos Beispiele finden, die der Annahme, dass der Film die denkende Aktivität des Betrachters verbiete, krass widersprechen.
Ähnliches gilt umgekehrt allerdings für die euphorische Filmtheorie Walter Benjamins, deren Prognosen von der nachfolgenden Geschichte – nicht nur des Films – schmerzlich widerlegt wurden. Der revolutionäre Sprengsatz zumindest, den er in sein medientheoretisches Konzept eingebaut hatte, entpuppte sich als Blindgänger. Benjamin hatte, so drückte es später Rolf Tiedemann aus, „was allenfalls dem einzelnen Menschen, dem Menschen avanciertesten Bewusstseins, vorbehalten ist, bereits der technischen Apparatur des Films gutgeschrieben.“ Eine solche „Umfunktionierung des kulinarischen Kunstgenießers in den kritisierenden Fachmann“ könne jedoch „nicht von der Tendenz des künstlerischen Mediums geleistet werden.“(52)
Nimmt man Abstand sowohl von Benjamins Hypostasierung der Filmtechnik als auch von Adornos Fundamentalkritik des Films als Medium, ohne indes die Hoffnung preiszugeben, die beide noch in ihrem Gegensatz verband, so wird man etwa nach den Möglichkeiten Ausschau halten können, die dem Film als Kunst unter den veränderten Bedingungen heute gegeben sind. Eine polemische Überhöhung der Technik zulasten des künstlerischen Einsatzes liefe längst ins Leere, seit der Film gegenüber neueren Medien selber bereits wie ein retardierendes Moment in der Mediengeschichte erscheint. Vielleicht müsste vielmehr das Rückständige des Films betont werden, das ihn im Verbund der technischen Medien durchaus noch als Kunst im traditionellen Sinne ausweist. Über die mögliche Wirkung des Films als einer auf Politik fundierten Praxis, wie Benjamin es nannte(53), bräuchte man sich vorerst keinen Illusionen hinzugeben. Zuzutrauen aber ist den Filmen, die unweigerlich als Produkte der Kulturindustrie oder des Kunstgewerbes zirkulieren, dass sie, wie andere Kunstwerke auch, zur gesellschaftlichen Wirklichkeit Stellung nehmen. Mit der Wahl des Mediums ist noch nicht entschieden, inwiefern Filme „leeres Spiel und Dekoration des Betriebs“ oder „in welchem Maß ihre Konstruktionen und Montagen zugleich Demontagen sind, zerstörend die Elemente der Realität in sich empfangend, die sie aus Freiheit zu einem Anderen zusammenfügen.“(54)

Christoph Hesse

Literatur:

BGS — Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, 7 Bände, Frankfurt a.M. 1991
Adorno, Theodor W.: Aldous Huxley und die Utopie (1951), in: Gesammelte Schriften (im folgenden GS) Bd. 10, Frankfurt a.M. 1997
— : Ästhetische Theorie (1970, hg. v. Rolf Tiedemann u.a.), GS 7
— : Filmtransparente (1966), GS 10
— : Ist die Kunst heiter? (1967), GS 11
— : Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie (1964), GS 6
— : Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben (1951), Frankfurt a.M. 1994
— : Reflexionen zur Klassentheorie (1942), AGS 8
— : Zur gegenwärtigen Stellung der empirischen Sozialforschung in Deutschland (1952), GS 8
Adorno, Theodor W./Walter Benjamin: Briefwechsel 1928-1940, Frankfurt a.M. 1994
Brecht, Bertolt: Arbeitsjournal 1938-1942, Frankfurt a.M. 1993
Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde, Frankfurt a.M. 1974
Claussen, Detlev: Theodor W. Adorno. Ein letztes Genie, Frankfurt a.M. 2003
Engels, Friedrich: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft (1880), in: Marx/Engels, Werke Bd. 19, Berlin 1976
Horkheimer, Max/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung (1947), in: M.H., Gesammelte Schriften Bd. 5, Frankfurt a.M. 1987
Tiedemann, Rolf: Dialektik im Stillstand. Versuche zum Spätwerk Walter Benjamins, Frankfurt a.M. 1983
— : Studien zur Philosophie Walter Benjamins, Frankfurt a.M. 1972


Anmerkungen

(1) BGS I, 696.

(2) Ästhetische Theorie, 348

(3) Ebd., 337.

(4) Vgl. BGS II, 752.

(5) Engels, Die Entwicklung des Sozialismus..., 228.

(6) BGS V, 581.

(7) Theorie der Avantgarde, 24.

(8) Ebd.

(9) Ebd., 28f.

(10) Ist die Kunst heiter?, 599.

(11) Ebd.

(12) Adorno, Ästhetische Theorie, 56.

(13) BGS VII, 362.

(14) BGS I, 486.

(15) BGS I, 499.

(16) 16 BGS V, 499f.

(17) 17 Ästhetische Theorie,377. – In seinem Fragment gebliebenen „Tui-Roman“ bezeichnet Brecht damit spöttisch die Intellektuellen, die fern der Praxis das Elend der Welt beklagen, für das sie selbst mitverantwortlich sind.

(18) 18 Vgl. Tiedemann, Dialektik im Stillstand, 42ff.

(19) Ästhetische Theorie, 89.

(20) Adorno/Benjamin, Briefwechsel, 175.

(21) Arbeitsjournal, 14.

(22) BGS I, 493

(23) BGS I, 497.

(24) Vgl. BGS I, 505.

(25) BGS I, 485

(26) BGS I, 502.

(27) Ebd.

(28) BGS I, 495.

(29) BGS VII, 359.

(30) Ebd.

(31) BGS VII, 371, Anm.

(32) BGS VII, 370.

(33) Adorno/Benjamin, Briefwechsel, 173.

(34) Ebd.

(35) BGS VII, 377.

(36) Adorno/Benjamin, Briefwechsel,171f

(37) Adorno/Benjamin, Briefwechsel, 385.

(38) Jargon der Eigentlichkeit, 495.39 Theodor W. Adorno, S. 203 u. 164.

(39) T.W. Adorno S. 203 u. 164.

(40) Reflexionen zur Klassentheorie, 380.

(41) Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, 145.

(42) Ebd.

(43) Minima Moralia, Aph. 96.

(44) Aldous Huxley und die Utopie, 113.

(45) Zur gegenwärtigen Stellung der empirischen Sozialforschung in Deutschland, 484.

(46) Vgl. Adorno, Filmtransparente.

(47) Minima Moralia, Aph. 131.

(48) BGS I, 497.

(49) Dialektik der Aufklärung, 151.

(50) Ebd., 162.

(51) Filmtransparente, 360.

(52) Studien zur Philosophie Walter Benjamins, 112.

(53) Vgl. BGS I, 482.

(54) Adorno, Ästhetische Theorie, 379.

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last modified: 7.7.2009