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kulturreport, 1.7k

Alice Herz-Sommer

„Eine Jüdin ohne Religion“

      Ich sage ihnen auch darüber denk ich sehr viel nach. Die Deutschen, die diese Juden so fürchterlich gequält und getötet haben usw., die sind jetzt alte Menschen. Die waren damals ganz jung. Die mussten zu der Hitlerjugend gehen, sie waren gezwungen. Jetzt sind sie alt, krank, am Ende ihres Lebens und haben ein schreckliches Ende. Die sind gestraft. Die spüren die Strafe. Ich denke sehr viel an diese Menschen.

      Also ich gehöre zu den Juden, meine Eltern sind auch Juden. Aber wir sind vollkommen ohne Religion. So sind wir aufgewachsen. Ich brauche keine Religion, ich bin ein anständiger Mensch.(1)
Ich hatte die Ehre und das große Glück, die Shoa-Überlebende Alice Herz-Sommer in London kennen zu lernen, wo sie schon seit einigen Jahren lebt. Ich selber habe nichts über sie gewusst, bevor ich sie traf. Für Liebhaber klassischer Musik ist sie, soweit ich gehört habe, ein beschriebenes Blatt. Von unserer ersten Begegnung an, zog sie mich in den Bann ihrer ehrlichen Offenheit, Freundlichkeit und ihres unschlagbaren Optimismus. Diesen Einblick in ein Leben, das ein ganzes Jahrhundert mitgemacht, das Ein Garten Eden inmitten Der Hölle größte Grauen der Menschheit überlebt und nebenbei noch andere Menschen musikalisch verzaubert hat, möchte ich gern teilen.
Das Folgende soll daher ein Porträt sein: ich möchte vor allem sie zu Wort kommen lassen und die historischen Ereignisse und Zustände nicht weiter als notwendig erläutern. Zusätzliche Informationen habe ich hauptsächlich aus dem Roman über ihre Person „Alice Herz-Sommer. Ein Garten Eden inmitten der Hölle“. Zugegebenermaßen sind einige ihrer Aussagen nicht einfach zu schlucken (einige Ansichten muss man nicht akzeptieren, sollte man sogar kritisieren). Sie sagen aber über ihren Umgang mit Erlebtem, ihre Art der Verarbeitung und eben viel über ihre Person aus, und darum geht es mir zuallererst.
Alice spricht perfekt tschechisch, deutsch, französisch und hebräisch. Es gibt unzählige Interviews mit ihr und, soweit ich weiß, drei Filme und eben jenes Buch.(2) Mit ihren stolzen 105 Jahren pflegt sie immer noch Besuch zu empfangen, jeden Tag Klavier zu spielen und viel zu lesen.
Alice ist im damals österreichisch-ungarischen Prag aufgewachsen – in der nächsten Umgebung von Franz Kafka, Max Brod, Oskar Baum und Felix Weltsch (er war ein bekannter tschechischer Zionist und gab schon 1919 die zionistische Wochenzeitschrift „Selbstwehr“ heraus), um nur einige zu nennen.

Alice über Felix Weltsch und Franz Kafka:

Der Felix war der Mann meiner älteren Schwester. Jeden Abend war er da. Wir haben viel von ihm gelernt, ohne es zu wollen irgendwie. Gesprochen haben wir von Politik und allem Möglichen bis zur Musik. [...] Und er war der beste Freund von Kafka, und dadurch kamen wir in Verbindung mit ihm.

Was Kafka nicht hatte, war eine besondere Beziehung zur Musik. Also über Musik konnten wir mit ihm nicht reden. Das hatte er nicht gern. Aber die Natur liebte er sehr, wir sind mit ihm spazieren gegangen. Humor hatte er auch. Alle seine Kurzgeschichten, die manchmal sehr grausam sind und so unglücklich, haben immer einen gewissen Humor. Vielleicht will er damit sagen, dass sich nur mit Humor dieses schwierige Leben leben lässt. Nicht so ernst nehmen, wenn etwas passiert.

Alice wurde am 26.11.1903 in Prag geboren und hatte drei ältere Geschwister (Georg, Irma und Paul Herz) sowie eine Zwillingsschwester Marianne. Ihr Vater Friedrich Herz, der durch die jüdischen Reformen von Kaiser Joseph II zu etwas Vermögen als Fabrikdirektor gekommen war, verlor einen Großteil davon durch den ersten Weltkrieg. Die Familie war zwar jüdisch, aber zelebrierte die Religion kaum. Zu Hause wurde deutsch gesprochen und hebräisch lernte sie erst später in Israel. Sie verlebte, wie sie sagt, eine wundervolle und glückliche Kindheit, bei der sie bereits früh von ihrer Schwester lernte, Klavier zu spielen und in der jeden Abend mit der Familie musiziert wurde (sie sagt heute noch dass sie am Liebsten mit ihrem Bruder Paul (Geige) spielte). Alice über ihre Kindheit in Prag:

Na die war wunderbar. Es war nur Musik, wir haben über nix anderes gesprochen. Fünf Kinder, sehr musikalisch, die ältere Schwester war meine Lehrerin, die hat mich erzogen. Eine wunderbare Lehrerin und mein Bruder ein großartiger Geiger. Meine Mutter sehr musikalisch, mein Vater war auch musikalisch. (lacht)  Ich weiß nicht warum, es hat nie jemand was gesagt, z. B. hab ich jeden Abend, also fünf Kinder waren wir, zwei Eltern, sind sieben und ein Dienstmädchen sind acht. Für acht Leute hab ich, freiwillig irgendwie, die Schuhe geputzt. Und früh bin ich um sechs aufgestanden und bin in die Bäckerei und da hab ich Semmeln geholt und den Tisch gedeckt [...] Ich hab das alles gern gemacht. Arbeit ist fabelhaft, ich finde es wunderbar. Jede Art von Arbeit. Auch Wäsche waschen – was es ist. Wenn man es dann gemacht hat, ist es eine Genugtuung. Das schlechteste und blödeste ist Langeweile, wenn man nicht weiß was man machen soll.

In der damals wohl weltweit einzigartigen Prager Hochkultur ging Alice vollkommen auf und wurde früh als Talent entdeckt (sie wurde an der deutschen Musikakademie Prag angenommen). Fast täglich ging sie zu Konzerten und beginnt auch Unterricht zu geben. Anfang der 30er Jahre steigt ihre Bekanntheit in Europa und Max Brod beginnt, Musikkritiken über sie zu verfassen.
1931 heiratete sie Leopold Sommer und bekam mit ihm 1937 einen Sohn: Stefan (später dann in Israel Namensänderung zu Raphael). Die junge Familie blieb in Prag als die Stadt 1939 von den Deutschen besetzt wird. Ihre Schwester und Schwager Irma und Felix Weltsch können mit Hilfe vom früh ausgezahlten Erbe der Mutter nach Palästina reisen. Ebenso wie Max Brod erreichten sie noch den letzten Zug, um zu flüchten.
Alice versuchte weiterhin zu unterrichten und veranstaltet Hauskonzerte – da es Juden verboten wurde, abends das Haus zu verlassen. In dieser Zeit traf sie Viktor Ullmann, der später mit ihr in Theresienstadt inhaftiert sein wird und dort das „Kulturprogramm“ gestalten musste.(3) Leopold, der für die jüdische Gemeinde arbeitete, wurde gezwungen, Deportationslisten zusammenzustellen. 1942 musste Alice ihre 72jährige kranke Mutter zum Deportationszug bringen. Sie hat heute noch genaue und schmerzhafte Erinnerungen an diesen Tag. Ihre Mutter wurde zunächst nach Theresienstadt und später in ein anderes Lager gebracht und man weiß bis heute nicht, wo und wann sie verstorben ist.
Dieses traumatische Erlebnis markierte für Alice einen tiefen Einschnitt und machte sie zutiefst traurig und depressiv. Sie sammelte erst später wieder durch die Musik Kraft:

Eine innere Stimme kam mir in den Sinn. Ich erinnere mich auch nach 80 Jahren noch genau, an welcher Stelle in Prag dies geschah. Diese Stimme sagte mir: Jetzt kannst nur du dir helfen, nicht der Mann, nicht der Doktor, nicht das Kind. Und im selben Moment wusste ich: Ich muss die 24 Etüden von Frédéric Chopin spielen. Diese Etüden sind die größte Anforderung an jeden Pianisten. Sie sind wie Goethes Faust oder Shakespeares Hamlet. Herrliche Kompositionen. Ich rannte nach Hause und von dem Moment an habe ich Stunden um Stunden und Stunden geübt. Bis zu unserer Deportation.(4)

Im Juli 1943 wurden Alice, Leopold und ihr Sohn nach Theresienstadt deportiert. Am Schlimmsten war für Alice ihrem Kind das Unvorstellbare erklären zu müssen (bzw. ihm keine Erklärung geben zu können) und zu versuchen ihn von all dem fernzuhalten und zu beschützen. Er, gerade einmal Fünf Jahre alt, verstand die Welt nicht mehr und stellte natürlich Fragen.

Theresienstadt – oder Terezín – war seit dem ersten Weltkrieg eine Garnisonstadt der Armee und wurde von den Deutschen als Sammel-, Durchgangs- und als Arbeitslager benutzt. Aber auch Hinrichtungen fanden dort statt. Angst und Schrecken versetzten die wöchentlichen Transporte nach Auschwitz. Ein jüdisches Komitee musste grausamerweise selbst festlegen, wer „auf der Liste steht“. Im September 1942 wurde ein Krematorium errichtet um die immer größer werdende Anzahl von Leichen beseitigen zu können.
Meist wurden ältere und allgemein bekannte Juden in Theresienstadt festgehalten. Um der Weltöffentlichkeit vorzutäuschen wie gut es ihnen dort ginge, war es einigen Wenigen erlaubt, Gedichte zu schreiben, Vorträge zu halten, Theaterstücke aufzuführen, Instrumente zu spielen oder Konzerte zu geben. Auch gab es eine Bibliothek mit 60 000 Büchern. Obwohl es verboten war wurden sogar einige Kinder heimlich unterrichtet.
Zum Besuch des Roten Kreuz am 23. Juni 1944 zum Beispiel, wurde die Stadt mit Blumen, reichlich Nahrungsmitteln und weiteren Täuschungsmanövern „hergerichtet“. Zu diesem Anlass fanden auch Konzerte statt. Diese „gute“ Behandlung war natürlich die Ausnahme um der Weltöffentlichkeit eine „funktionierende“ Judenstadt zu präsentieren. In Wirklichkeit spekulierten die Nazis darauf, dass die Mehrzahl der inhaftierten durch die schlechten Bedingungen an Hunger- und Seuchentod sterben würde und die kleine Überlebende Minderheit dann „nur noch beseitigt“ werden müsste.
Alice sah, wie auch viele andere Inhaftierte, die Musik als Hoffnungsschimmer und war froh, Klavier spielen zu können. Bis zur Befreiung gab sie über 150 Konzerte.

Wir mussten spielen, weil dreimal im Jahr das Rote Kreuz kam, da wollten die Deutschen zeigen, dass es den Juden in Theresienstadt sehr gut geht. Es war Propaganda der Deutschen.(5)

Vor allem die vorher einstudierten Chopin Etüden haben ihr und ihren Zuhörern viel Kraft gegeben und wurden oft wiederholt. Alice musste sich mit den anderen Künstlern (Hans Krása, Pavel Haas, Gideon Klein, Karel Reiner und – wie schon erwähnt – Viktor Ullmann) ein einziges Klavier teilen, so dass jeder nur eine halbe Stunde zum Üben hatte. Durch ihren Bekanntheitsgrad und ihre künstlerischen Fähigkeiten wurde sie vor der weiteren Deportation bewahrt und anfangs auch von Zwangsarbeit verschont.
Nach Aussage von Alice wurde ihr dies von einem Offizier versprochen, der gestand, jedes Konzert von draußen mit anzuhören. Später musste sie jedoch mit ihrer langjährigen Freundin Edith Kraus (die später auch ihren Ehemann verlor) und vielen anderen Frauen Kohlenstücke spalten (die als Sichtfenster für Öfen vorgesehen waren). Die Kinder von Theresienstadt, so auch Raphael, wurden auch in das „Kulturleben“ eingebunden und führten die von Krása komponierte Kinderoper Brundibár(6) auf. Alice hat dies für Kinder und Erwachsene als sehr erbauend und als Quell großer Hoffnung in Erinnerung.

Nach eigener Aussage war für sie das Schlimmste ihren Sohn vom alltäglichen, nicht enden wollenden Elend fernzuhalten.(7) Der Hunger belastet alle sehr. Sie war von Anfang an mit Raphael untergebracht, jedoch immer von Leopold getrennt, dem nur spät abends nach harter Arbeit für wenige Minuten ein Besuch bei seiner Familie gestattet war.
Im September 1943 wurden, um Aufstände zu verhindern, alle Männer zwischen 20 und 40 Jahren nach Auschwitz transportiert. Leopold Sommer war unter ihnen. Er wurde nach Auschwitz, dann nach Buchenwald, Flossenbürg und zuletzt nach Dachau gebracht und starb kurz vor der Befreiung an Fleckentyphus.

Eines Abends kam mein Mann und sagte mir, dass am nächsten Tag tausend Männer mit einem Transport weggeschickt würden. Und dass er darunter sei. Er hat mir das Ehrenwort abgenommen, nichts freiwillig zu machen, wenn er weg ist. Am Tag nach seinem Transport gab es einen weiteren Transport unter dem Motto: Frauen gehen den Männern nach. Viele Frauen haben sich freiwillig gemeldet. Sie haben die Männer nie getroffen, sie sind getötet worden. Ich hätte mich ohne seine Warnung sofort gemeldet.(8)

Alice über die Shoa: ihre Familie und sie müssen doch fürchterlich gelitten haben?

Ja das spielt keine Rolle, ich denke immer ans Allgemeine. Ich sage ihnen: ich hab eigentlich nicht…(pause) Ich habe anderen geholfen. Das war eine Situation, die können sie in dem Film sehen [2005 Michael Teutsch „Von der Hölle ins Paradies oder Chopin hat mich gerettet”]. Da mussten wir – eine große Gruppe von Frauen und Kindern – bevor wir weg transportiert wurden, an einen bestimmten Ort. Wir haben also gewusst: das ist unser Ende. Wir sind gegangen, es war am 13. März 43, nein 44 Pardon. Es regnete und war wahnsinnig kalt. Und die Kinder haben geweint und wir wussten nicht was wir mit den Kinder machen sollten. Da kam ein Nazi und sagte: „Aufstehen”. Zehn Frauen in einer Reihe. Und ich hab gedacht „Also jetzt werden wir erschossen“. Und die Frauen waren in einem schrecklichen Zustand und begannen zu weinen. Und ich habe sie eigentlich getröstet. Und sie haben mich gefragt: „Aber was sagen sie dazu?“ Ich hab mein Kind in meine Hände genommen und gedacht, was mich erwartet, erwartet auch ihn. Und ich sagte dazu: sterben ist ja nicht so schrecklich. Leben ist manchmal viel ärger als sterben. Ich hab sie vielleicht ein bisschen getröstet. Das einzige woran ich mich alleine erinnere ist schwarz. Wie ein schwarzer Vorhang. Aber dann kommt eben das Paradies, das Buch heißt danach und der Film heißt auch so: Der Nazi schrie: „Zurück ins Ghetto“. Von dem Ort wo wir waren, weit draußen, zurück. Also dieses Ghetto, was das bedeutete für Menschen, die schon bereit waren, im nächsten Moment zu sterben; es bedeutete plötzlich, dann also nicht sterben. Was auch immer kommt, ist besser als das Sterben.

Haben sie denn nie so was wie Hass empfunden gegenüber den Menschen die Ihnen das angetan haben? 

Ich habe meine besten Freunde in Deutschland. Mein Sohn war auch wunderbar geschätzt, immer wieder aufgefordert zu spielen. Das sind Menschen wie alle anderen, gut und schlecht, wie alles im Leben. Es kann nichts vollendet sein.

Als Alice nach der Befreiung wieder nach Prag zurück kam, schrieb sie ein Telegramm an die Schwestern in Israel und berichtete, dass sie und ihr Sohn lebten, sowie dass sie am nächsten Abend ein „Mitternachtskonzert“ im Radio Prag spielen wird. Ihrer Schwester Marianne war diese weltweite Übertragung bis zu ihrem Tod ein unvergessliches, bewegendes Erlebnis.
Im Nachkriegsprag erlebte Alice neuen Antisemitismus. Sie wurde angefeindet, da jetzt „Rücksicht“ auf die Juden genommen werden musste. Nachbarn, die eine Nacht vor ihrer Deportation die gesamte Einrichtung entwendet hatten und sich vor ihren und Leopolds Augen darum stritten, fragten sie nun, ob sie deren Unschuld attestieren könnte. Sie hatte große Angst vor dem neuen Regime, wurde schon fast paranoid. Und hatte z. B. große Mühe eine Wohnung zu finden. Die deutsch-tschechischen Juden wurden zudem benachteiligt, weil sie sich vor dem Krieg angeblich an einer „Germanisierung“ beteiligt hätten. Im Buch wird sie sogar zitiert mit: es war „tausendmal schlimmer ist als unter den Nazis“.(9) 1947 zieht sie letztlich nach Israel, wo ihre Schwestern schon seit einigen Jahren lebten.

Haben sie in Jerusalem gelebt?

Ja es war herrlich. Und auch die Sprache, ich liebe die Sprache. Zehn Stunden lang habe ich jeden Tag gelernt. Das Lesen ist sehr schwer. Ich habe gute Freunde dort. Die Natur ist fabelhaft. Es ist ein Traum. Einen Tag bevor ich weggegangen bin, bin ich zu einer sehr guten Freundin um mich zu verabschieden. Und ich habe ihr gesagt: „Also morgen fahren wir“. Sie sagte: „Ich kann nicht verstehen wie du in ein Land gehen kannst in dem nur Juden leben“. Da hab ich ihr gesagt: „nur dort werde ich nicht spüren dass ich eine Jüdin bin. Wenn‘s alle Juden sind, sind wir alle gleich“.

Alice über Israel:

Ich kann Ihnen nur sagen das war die schönste Zeit meines Lebens. Kein einziger Tag ohne Spannung – politisch. Die größten Schriftsteller, die größten Ärzte, die größten Wissenschaftler und was es da auch alles gab, die haben „gelectured“ in Israel. Sie haben an manchen Tagen nicht gewusst wohin sie gehen sollten. Und vielfach sind sie auch zu mir zu Besuch gekommen. Ich habe ihnen vorgespielt, es war herrlich.

Vor allem das Land: herrlich. Jerusalem ist einer der schönsten Orte der Welt. Ein Sonnenuntergang – es ist unbeschreiblich, dafür gibt es keine Worte.

Es leben aber in Israel auch sehr sehr viele Nichtjuden. Und außerdem sind Juden ziemlich schwierig. Diese Erfahrung hab ich auch dort gemacht. Sie sind auf der einen Seite außergewöhnlich und auf der anderen Seite ebenso (lacht) unerträglich. Sie sind unbescheiden, sie wissen alles besser als der andere, sie sind unhöflich, zu ambitioniert vielleicht. Ich rede jetzt vor allem von der Musikerwelt, die ich sehr gut kenne. (lacht) Also die waren manchmal nicht anständig.

In Israel unterrichtete Alice weiter am Jerusalemer Konservatorium und war Gründungsmitglied der Akademie in Jerusalem. Sie wohnte auch dem Prozess gegen Adolf Eichmann in Israel bei.
Ihr Sohn Raphael entwickelte sich zu einem hervorragenden Cellisten und bekam ein Stipendium um in Paris zu studieren. Später gab er Konzerte in aller Welt und gewann nicht zuletzt hohes Ansehen mit dem „Salomon Trio“. Der plötzliche Tod ihres Sohnes auf einer Konzertreise in Israel 2001 traf Alice sehr tief und sie brauchte nach schwerer Krankheit lange, um sich zu erholen.
Alice bezeichnet sich selbst als Optimistin. Sie beharrt darauf, das Schöne im Leben zu sehen. Das Positive spürt man stets im Umgang mit ihr. Sie ist sehr interessiert und neugierig, lacht viel und geht völlig in der Musik, der Literatur (am liebsten Stefan Zweig) und der Philosophie auf. Die „University of the Third Age“(10) hat sie noch mit 90 Jahren aufgesucht, um drei geisteswissenschaftliche Fächer zu belegen.
Jedesmal, wenn ich sie besuche und mich angeregt mit ihr unterhalte, bin ich immer wieder aufs neue überwältigt von ihrer Lebensfreude, nicht zuletzt, weil ich um ihr bewegtes Leben weiß.

Der Mensch braucht nicht essen, er braucht nur einen Inhalt. Und das kann die Musik sein. Nicht die Malerei und nicht der Goethe mit dem Shakespeare, denn die Musik macht uns vergessen. Zeit existiert dann nicht mehr. Man hört, und speziell in einer schwierigen Situation ist man verzaubert, in einer anderen, in einer besseren, hoffnungsvolleren Welt.(11)

Ich bin glücklich, dass ich noch Klavier spielen kann. Ich hab zwar zwei Finger die machen was sie wollen, aber ich spiele. Beim spielen bei mir, die Zeit vergeht so rasch.. ich wunder mich manchmal, ich schau auf die Uhr. Soviel Zeit schon vergangen, das ist unerhört. Bei nichts vergeht mir die Zeit so rasch wie beim Klavier spielen.

Das Resultat? Sagen wir, ein Gott war da oder ist da, er hat Gutes und Schlechtes gleichzeitig geschaffen. Das Schlechte ist da, um besser zu werden. (12)

Anmerkungen

(1) Alle kursiven Stellen sind Zitate und stammen – soweit nicht anders vermerkt – aus Gesprächen mit ihr.

(2) z. B. bei BBC woman‘s hour www.bbc.co.uk/radio4/womanshour/2006_04_fri_04.shtml
„Ein Garten Eden Inmitten Der Hölle: Ein Jahrhundertleben“ (2006). Das Buch beschreibt ihr Leben ab der frühesten Kindheit mit Hauptaugenmerk auf der Musik, die sie umgab und die einen so großen Einfluss auf sie hatte. Ich kann leider nicht auf den musikalischen Aspekt eingehen der einen großen Teil des Buches einnimmt.
Von der Hölle ins Paradies oder Chopin hat mich gerettet”, (2005) Michael Teutsch
Die Pianistin von Theresienstadt“,(2005) Inga Wolfram
We want the light“, (2005) Christopher Nupen. Dieser Film beleuchtet die Beziehung von Juden und deutscher Musik, wobei Emanzipation, Assimilation, Ausgrenzung, Antisemitismus und Verfolgung diskutiert werden. Behandelt werden z. B. Moses und Felix Mendelssohn sowie Richard Wagner und die Aufnahme seiner Musik im heutigen Israel. Zu Wort kommen sowohl Musikexperten als auch Überlebende wie z. B. Anita Lasker-Wallfisch und Alice Herz-Sommer.

(3) „Ullmann wirkte als Klavierbegleiter, organisierte Konzerte („Collegium musicum“, „Studio für neue Musik“), schrieb Kritiken über musikalische Veranstaltungen und komponierte. Sein Theresienstädter Nachlass blieb nahezu vollständig erhalten.“ http://de.wikipedia.org/wiki/Viktor_Ullmann

(4) http://de.wikipedia.org/wiki/Alice_Herz-Sommer

(5) Ebd.

(6) „Ganz eindeutig ist die politische Qualität des Stücks, die Möglichkeit, die Auswirkungen des dritten Reichs auf die Juden auf kindgerechte Art zu zeigen, eine Qualität dieser Kinderoper. Daneben bleibt aber auch die musikalische Qualität bestehen: Melodien, die leicht zu lernen sind, einfach aber nicht kitschig, Harmonien, die nicht fremd, sondern eigenartig klingen, ein in sich geschlossenes Ganzes, das auch ohne politischen Bezug Bestand hat. Überlebende berichteten, dass Brundibár neben den offiziellen 50 - 55 Aufführungen weitere unzählige Male in Hinterhöfen, auf Gängen und Dachböden aufgeführt wurde.“ www.drmk.ch/werke/wbrundibar.html
Am 18.03.2009 wurde die Oper vom israelischen Moran Choir im Leipziger Gewandhaus aufgeführt.

(7) Wenn man Raphaels Vorwort im Buch trauen darf, dann ist ihr das auch gelungen. Er spricht davon, trotz allem, eine glückliche Kindheit gehabt zu haben, was ich sehr bemerkenswert finde.

(8) http://de.wikipedia.org/wiki/Alice_Herz-Sommer.

(9) „Ein Garten Eden inmitten der Hölle“ S. 335

(10) Dies ist keine Universität im eigentliche Sinne, aber kann mit einer lokalen Uni verbunden sein. In Großbritannien wird es mehr als eine Selbsthilfegruppe gesehen. Es ist ein Zusammenschluss interessierter, lernfreudiger, meist ältere Menschen die wöchentlich ein Thema diskutieren, das durch ein Mitglied mit Erfahrung/ Spezialwissen in diesem Gebiet vorgetragen oder geleitet wird.

(11) http://de.wikipedia.org/wiki/Alice_Herz-Sommer

(12) Ebd.

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last modified: 20.5.2009