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The times are changing?

Leipzig und seine Nazis

2008 ist viel passiert und so war auch die Leipziger Naziszene im letzten Jahr sehr aktiv. Die Frage ist, warum es dagegen scheinbar oder tatsächlich so wenig Gegenaktivitäten der Antifa gab. Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Anzahl von Aktionen, Aufmärschen und militanten Übergriffen ist es wichtig, die einzelnen Protagonisten zu benennen. Neben den Freien Kräften (eigene Bezeichnung „Nationalen Sozialisten“) aus Leipzig und Umgebung und der NPD spielten auch Kontakte zur Fussball-/ Hooliganszene eine wichtige Rolle. In diesem Zusammenhang sind exemplarisch die Blue Caps als Fangruppierung des Fußballvereines Lok Leipzig zu nennen. Sie agieren zusammen mit den Freien Kräften und Nazihools aus anderen Städten. Obwohl mittlerweile gegen die Blue Caps ein Stadionverbot verhängt wurde, sind sie auch weiterhin vorwiegend an gewalttätigen Aktionen beteiligt. Ziel ihrer Angriffe sind vor allem die Diablos als antirassistische Fangruppe der BSG Chemie Leipzig.

Horoskop, 214.0k


Im vergangenen Jahr kam es zu vielen Aktionen und Aufmärschen der Nazis in Leipzig und in der näheren Umgebung. Nur einige Beispiele: Am 12. Januar gab es einen intern organisierten Aufmarsch der „Freien Kräfte Leipzig“ durch die Stadtviertel Reudnitz, Anger-Crottendorf und Stötteritz mit 350 teilnehmenden Nazis. Die Wahl des Veranstaltungsortes und die inoffizielle Mobilisierung sprechen dafür, dass die Nazis mit einer starken Gegenwehr rechneten. Was allerdings folgte, waren keine wahrnehmbaren Gegenaktionen der Antifa. Es gab zudem insgesamt weitere fünf Aufmärsche sowie diverse Angriffe auf Linke und linke Projekte im letzten Jahr. Anfang des Jahres 2008 lag das Hauptaktionsfeld in Reudnitz, was wohl im Zusammenhang mit dem inoffiziellen Wohnprojekt von Ishtvan Repazki stand. Bereits zu diesem Zeitpunkt versuchten die Nazis de facto die Deutungshoheit in diesem Stadtteil auszuüben. Sie begrenzten ihre Aktionen zu diesem Zeitpunkt dann allerdings doch auf die Leipziger Außenbezirke. Organisatorisch orientierten sie sich an der Entwicklung der bundesweiten Naziszene bspw. an der Sachsen-Anhalts und gründeten am 20.April auch in Leipzig einen JN-Stützpunkt. Eine wichtige organisatorische Struktur ist zudem die Internetplattform „Das freie Netz“. Beteiligen tun sich an diesem Projekt unter anderem Nazis aus Leipzig, Delitzsch, Altenburg und Borna. Ziel ist vordergründig eine Mobilisierungs- und Kommunikationsplattform zu schaffen, die über die inhaltlichen Differenzen der einzelnen Gruppen und Städte hinweg funktioniert. Zum inhaltlichen Schwerpunkt innerhalb der Leipziger aber auch zunehmend innerhalb der bundesweiten Naziszene entwickelten sich die Kampagnen gegen Kindesmissbrauch. In den letzten Jahren vornehmlich unter dem Slogan „Todesstrafe für Kinderschänder“ bekannt geworden, sind bundesweite Aufmärsche oder Aktionen von Nazigruppen zu dieser Thematik an der Tagesordnung. Vor allem die Beteiligung der Nazis an den Demonstrationen im Zusammenhang mit dem Mord an einem Mädchen in Leipzig dokumentiert dies eindrücklich. Die Nazis interpretierten ihre Rolle als die Vorreiter und Vollstrecker des Volkszorns. Tatsächlich waren sie anfangs maßgeblich in die Organisation und thematische Ausrichtung der Demonstrationen involviert. Erst nach Interventionen von außen gab es vor Ort eine Distanzierung von den Nazis. In diesem Zusammenhang wurden auch am Connewitzer Kreuz von Linken Kerzen zum Gedenken an dieses Mädchen aufgestellt, was deutlich die fehlende Auseinandersetzung mit dieser Thematik innerhalb der linken Szene in Leipzig zeigt. Einzig INEX setzte mit einer Erklärung zu dieser Problematik einen Kontrapunkt. Bereits 2007 gelang es den Nazis aus Leipzig und Delitzsch Proteste zum Thema Kindesmissbrauch in Schkeuditz maßgeblich zu bestimmen. Im Verlauf des Jahres kam es zunehmend zu militanten Aktionen der Leipziger Nazis. Es gab Angriffe auf Personen, die als links wahrgenommen wurden und auf linke Projekte. Als es am 20. April mitten in Connewitz zu einem Brandanschlag auf den Fischladen, den Fanladen des Roten Stern Leipzig kam, wartete man vergeblich auf eine adäquate und öffentliche Reaktion der Bertoffenen. Weiterhin wurden beim Linxxnet, einem linken Abgeordneten- und Projektebüro, sowie beim Buchladen Rotes Antiquariat mehrfach die Scheiben sowie später ein PKW mit dem Schriftzug DIE LINKE, der vorm Linxxnet parkte, beschädigt. In Grünau waren die Räume des „Vereins für Kultur und Kommunikation“ im „KOMM Haus“ mehrmals das Ziel von Angriffen, wobei die Fensterscheiben zerstört wurden. Am 24. November wurde auf diese Räume schließlich ein Brandanschlag verübt, die Räume brannten daraufhin komplett aus. Immerhin gab es daraufhin eine Spontandemonstration. Weiterer Höhepunkt war die Eröffnung des Abgeordnetenbüros des Landtagsabgeordneten der NPD Winfried Petzold in Leipzig-Lindenau. Dieses Büro dient als Mobilisierungs- und Treffpunkt der Nazis und war bereits mehrfach Ausgangspunkt für Angriffe auf Linke und von Einschüchterungsversuchen gegenüber alternativen Projekten aber auch unpolitischen Geschäften in Lindenau.
Zusammenfassend muss man feststellen, dass die Nazis seit Anfang 2008 deutlich geschlossener agieren. Spätestens mit dem Bürgerbüro von Petzold gibt es eine sichtbare Zusammenarbeit mit der NPD und einen festen Anlaufpunkt für Nazis in Leipzig. Mit der zunehmenden regionalen Vernetzung ist eine Vergrößerung des Mobilisierungspotentials der Nazis zu beobachten. Die Nazis setzen auf verschiedene Aktionsformen, es gab eine Vielzahl von Aufmärschen, Kundgebungen und Propagandaaktionen in Leipzig. Darüber hinaus werden die Aktionen der Nazis zunehmend militanter – vor allem im Zusammenhang mit Fußball suchen Nazis gezielt die körperliche Auseinandersetzung. Das mittlerweile Nazis auch im Leipziger Süden ungestört agieren können, ist leider der Normalzustand. Antifaschismus ist ein Themenfeld linker und linksradikaler Gruppen. Diese Feststellung sollte als Grundlage für eine erfolgreiche antifaschistische Intervention gesehen werden, denn sie stellt klar, dass daraus keine Revolution resultiert. Die Diskussionen um Antifa und deren Ausrichtung haben in den letzten Monaten offenbar dazu geführt, dass in Antifa zwar eine Menge Inhalt interpretiert wurde, aber die Praxis zum Teil auf der Strecke geblieben ist. Das Motto gerade älterer AntifaschistInnen war wie zu Zeiten des BGR „Auschlafen gegen Nazis“. So sympathisch die Formel war, um eine Überidentifikation von Antifa zurückzuweisen, darf die konkrete Bedrohung durch Nazis nicht übersehen werden. Es ist auch wenig sinnvoll, im Nachhinein am Kneipen- oder WG-Tisch die richtige Strategie oder Praxis zum Besten zu geben oder die organisierenden Gruppen in Hinterzimmern zu kritisieren. Scheinbar leben einige noch vom Leipziger Mythos der 90er Jahre oder haben sich komplett in den Wissenschaftsbetrieb zurückgezogen. Kurz formuliert: es fehlt am ausgewogenen Verhältnis von Theorie und Praxis. Und so wichtig auch die Arbeit der INEX als inhaltlicher Schwerpunkt sein mag, hat dies scheinbar zu einem Rückzug der einzelnen Akteure aus der Antifa-Arbeit geführt. Im Szene-Mief ist die Glorifizierung der eigenen Gruppe und die Darstellung der in den Jahren gewonnenen Weisheiten, welche selten hinterfragt werden, doch sehr verbreitet. Die Strategie der letzten Monate zielte darauf ab, durch spontane Mobilisierungen den Nazis die Präsenz in den Außenbezirken Leipzigs streitig zu machen oder zu erschweren. So sinnvoll ein schnelles reagieren auf Naziübergriffe ist, darf sich die Praxis darin nicht erschöpfen. Gab es in der Vergangenheit oftmals wenig konkrete Ziele für eine antifaschistische Intervention, hat sich dies mit dem Nazizentrum in Lindenau verändert. Das sollte endlich zur Kenntnis genommen werden. Die Nazis haben in Leipzig jetzt einen offiziellen Mobilisierungs- und Anlaufpunkt. Diese neue Qualität gilt es zu berücksichtigen und die Politik darauf auszurichten. Die Antifa-Aktionen in den letzten Monaten wurden von wenigen Gruppen und vor allem jüngeren Antifas getragen. Dies führte aber dazu, dass es an einem entschlossenem Auftreten und einer entsprechenden Durchschlagskraft gegenüber den Nazis, aber auch der Polizei fehlte. Möglicherweise ist einem Teil der Szene die konkrete Bedrohung auch nicht deutlich genug und auch im CEE IEH wird wohl eher eine weitere Hausarbeit oder Dokumentation veröffentlicht. Nicht dass diese inhaltliche Ausrichtung problematisch wäre, allerdings hilft diese wenig, wenn Nazis an die Wand der Plenumsräume Parolen sprühen. (Anmerkung der Redaktion: Vorfall geschehen im Oktober 2008, als das Conne Island Front-Graffiti mit Naziparolen versehen wurde). Es muss endlich wieder über konkrete Strategien zum agieren gegen Nazis in Leipzig nachgedacht werden. Dass die bisher gewählten Strategien nicht ausreichen, scheint immer deutlicher zu werden. Findet jetzt keine Diskussion über alternative Aktionsformen statt, wird das Problem 2009 nicht von allen Gruppen ernster genommen, so ist damit zu rechnen, dass die Antifa in Zukunft weiter in die Defensive gerät. In diesem Sinne:

clark g.

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last modified: 21.1.2009