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Das Erste


Die Nachricht über die Vergewaltigung und Ermordung der achtjährigen Michelle hat in den letzten Monaten wie kein anderes Thema die Schlagzeilen der Leipziger Tagespresse diktiert und bot Anlass für politische Bündnisse, bei denen zusammenwuchs was schlechthin zusammen gehört. Noch am Tag des Fundes der Leiche präsentierte sich dem Zuschauer die Leipziger Zivilgesellschaft bei der ZDF-Sendung „heute nacht“(1) von ihrer Schokoladenseite: Engagierte Leipziger Bürgerinnen und Bürger demonstrierten durch Reudnitz und legten ihr begrenztes Verständnis vom Rechtsstaat mit Parolen wie „keine Gnade“ und „Todesstrafe für Kinderschänder“ zusammen mit Nazis der „Freien Kräfte Leipzig“ dar, deren Aufruf sie gefolgt waren. Diesem nach eigenen Angaben(2) mit Fackeln bewehrten Lynchmob begegneten viele Pressevertreter mit Blumensträußen.

So schnipselte das RTL-Magazin „Extra“ schnell aus Archivmaterial einen Beitrag zu den Möglichkeiten der Kastration pädophiler Täter zusammen, um zum Schluss die Kurve nach Leipzig zu kriegen: „(Die) Angst treibt die Menschen in Leipzig auf die Straße. Sie machen sich Sorgen um ihre Kinder, solange der Mörder von Michelle noch frei herumläuft und fordern drakonische Strafen. Allein im Raum Leipzig sollen 350 Kinderschänder registriert sein. Die Bürger hier wollen jetzt keine Haftstrafen mehr für verurteilte Pädophile, sie fordern die Todesstrafe.“(3) Zu den Worten der Sprecherin wurde die Demonstration gezeigt, wie sie „Todesstrafe für Kinderschänder“ skandierte und die Kamera fing das Bild eines Transparents der Neonazi-Gruppe „Freie Kräfte“ ein, auf dem mit dem gleichen Aufruf für Selbstjustiz geworben wurde. So machte RTL aus mit Nazis im Gleichschritt laufenden Bürgern eine Kummernummer und sprang dem unaufhaltsam wachsenden Kreis der „Betroffenen“ in Leipzig mit Tipps zur Kastration Pädophiler zur Seite.

Die Bild-Zeitung hingegen wusste selbstredend noch vor der ersten Stellungnahme der Polizei, dass es sich nur um einen vorbestraften Sexualstraftäter handeln könne und veröffentlichte in ihrer Sonnabendausgabe(4) die mit Phantombild versehene Täterbeschreibung. Jedoch handelte es sich nicht etwa um das Bild des Gesuchten, sondern um das eines Mannes, der vor vier Monaten eine Elfjährige in der Gegend belästigt haben soll. Einige Tage später wartete auch die Dresdner Morgenpost ohne von Kenntnis getrübt zu sein mit einem weiteren Vorschlag für das Täterprofil auf(5). Demnach fiele der Verdacht auf Männer mittleren Alters, denen es sowohl an Bildung als auch Arbeit fehle. Pädophilie ist für die Dresdner Morgenpost also eine Angelegenheit von Arbeitslosen, während in dieser Logik ein akademischer Abschluss oder eine feste Anstellung wahrscheinlich als Alibi ausreichen.

Um nicht den Eindruck zu erwecken, die Politik bliebe in dieser Sache untätig, kam aus dem Leipziger Rathaus der Vorschlag, dass Arbeitslose als sogenannte Schülerbegleiter eingesetzt werden könnten(6). Diese sollten dann auf Spielplätzen, dem Schulweg und anderen öffentlichen Räumen auf die Rotzlöffel achtgeben. Sozialbürgermeister Thomas Fabian erklärte, die Idee gemeinsam mit der Polizei sowie der Bildungs- und Arbeitsagentur „rasch“ auf ihre Umsetzbarkeit hin „abklopfen“ zu wollen. Da zu dieser Zeit bereits das Bild des „arbeitslosen Kinderschänders“ in den Medien kursierte, stieß die Maßnahme nicht auf die erwartete Gegenliebe. Nach einem nicht repräsentativen Online-Poll der Zeitung Die Welt, der uns aber für einen groben Stimmungseindruck ausreichen mag, sahen nur 10% der Teilnehmer die Sicherheit durch die Schulbegleiter erhöht, während 52% nur unter der Voraussetzung einer „genauen Überprüfung“ der Arbeitslosen zustimmen würden. Arbeitslose als Schulbegleiter stellen somit aus Sicht der Befragten eher ein potentielles Risiko dar, was sich nicht zuletzt mit der Realität der Medien deckt, die ohne jeden Anhaltspunkt dem Täter geringe Bildung und Arbeitslosigkeit zuschreiben. Dass eine Tätertypologie(7) bei sexuellem Missbrauch von Kindern nicht nur den dissozialen und minderbegabten Typus, sondern auch den normal bis hochintelligenten kennt, sei hier nur angemerkt.

Die Vorstellung des Täters als eines Paria, der dem Bodensatz der Gesellschaft entstammt, ist für die Hetze gegen „Kinderschänder“ auch anschlussfähiger, als das Bild eines Mannes der aus den eigenen Reihen kommt. Denn als Projektionsflächen sind jene am effektivsten, bei denen äußerlich genug Distanz hergestellt werden kann, damit die persönlichen aber tabuisierten Wünsche, welche im Anderen verfolgt werden, sich nicht als die eigenen entblößen. So ist zu bezweifeln, dass die verbale Brutalität der Teilnehmer der sogenannten „Montagsdemos gegen Kinderschänder“ sich allein aus einer persönlichen Betroffenheit speist, wie es die LVZ und andere seriösen Journalismus vortäuschende Blätter gebetsmühlenartig behaupten. Nach Blut lechzende Aufrufe wie „Kinderschänder an die Wand“ können wohl kaum als Beleg für Betroffenheit und Mitgefühl gelten.

Der Mord an Michelle bot lediglich den willkommenen Anlass, mit den ohnehin bereits schwelenden Ressentiments zur Tat zu schreiten. Die Initiative aus Eltern und Anwohnern, welche sich nach Aussage der Anmelderin der ersten Montagsdemonstration nach dem Mord „spontan zusammengeschlossen“ habe, gehe es nicht nur um den Fall der getöteten Michelle, sondern um „die generelle Sicherheit der Kinder und den Umgang mit Sexualstraftätern“(8). Wie man sich den „Umgang mit Sexualstraftätern“ vorzustellen habe, konnte der geneigte Betrachter auf der Montagsdemonstration erfahren. Laut Angaben der Polizei waren unter den 500 Demonstrationsteilnehmern allein 300 Nazis, was die Initiative nicht daran hinderte unter den gemeinsamen Rufen nach „Todesstrafe…“ und mit eilig gemalten Transparenten loszuziehen, auf den u.a. „Wir hassen euch!“ zu lesen war.

Die „Montagsdemonstration“, die mit reger Beteiligung durch Nazis stattgefunden hatte, rief allgemeine Missbilligung hervor. So ließ OBM Burkhard Jung vernehmen: „Die Vereinnahmung des schrecklichen Mordes durch Rechtsextremisten ist abscheulich und menschenverachtend. Mit platten populistischen Parolen wird versucht, den Zorn über die Tat und die Trauer der Bürgerinnen und Bürger zu instrumentalisieren und für die politischen Ziele der Rechtsextremisten zu missbrauchen.“(9) Auf diese Weise wurden die Bürger, die noch einen Tag zuvor für Pädophile den Tod gefordert hatten, entschuldigt und als wehrlose Opfer einer Instrumentalisierung durch Nazis dargestellt. In dieselbe Kerbe schlug der ehemalige Nikolaikirchenpfarrer Führer: Wo der Ruf nach härteren Strafen auftauche, setzten sich die Neonazis populistisch drauf, beklagte Führer(10). Nicht das Auftreten aller Demonstranten wurde zum Skandal gemacht, sondern lediglich die Beteiligung durch Nazis erschien als nicht statthaft. So drängt sich die Frage auf, warum die Bürger – nachdem mit 300 schwarz gekleideten Nazis und Transparenten, auf denen der Nationalsozialismus befürwortet wurde, eine „Vereinnahmung“ offensichtlich gewesen wäre – sich trotzdem entschlossen, zusammen zu demonstrieren und die gleichen Parolen zu brüllen? Nach der Montagsdemonstration distanzierte sich Simone Thalheim, Sprecherin der Bürgerinitiative aufgrund des öffentlichen Drucks von der Forderung nach der Todesstrafe. Wie sich diese Distanzierung auf den vergangenen beiden Demonstrationen ausnahm, wird wohl ihr süßes Geheimnis bleiben.

Der Ruf nach der „Todesstrafe für Kinderschänder“ ist nicht nur in nationalsozialistischen Kreisen populär, sondern gehört zum festen Repertoire von Stammtischen und Familienfeiern, wenn wieder ein Fall von sexuellem Missbrauch an Kindern über den Fernseher flimmert. Die öffentliche Aufmerksamkeit, die solchen Fällen unweigerlich folgt, wird keiner anderen Verbrechensform in dieser Weise zuteil. Das erweckt den Eindruck, als würden diese Verbrechen im Vergleich zu anderen verhältnismäßig häufig auftreten. Dabei offenbart die polizeiliche Kriminalstatistik(11) ein anderes Bild. Die – ungeachtet einer mit Sicherheit hohen Dunkelziffer – aktenkundig gewordenen Fälle nehmen von der Gesamtzahl der verübten Straftaten lediglich einen Anteil von 0,2% ein. Das öffentliche Interesse entspringt aber auch der Tatsache, dass viele Eltern aus Sorge um ihre eigenen Kinder diese mit dem eigentlichen Opfer und sich mit den Hinterbliebenen identifizieren. Nicht selten wird sich die Frage gestellt, wie man selbst in einer derartigen Situation gehandelt hätte. Dies führt jedoch auch zu teils idiosynkratischen Reaktionen, die mit einer Dämonisierung des Täters und einem grausigen öffentlichen Interesse an den Einzelheiten der Tat einhergehen(12).

Die Forderung nach einer „Todesstrafe für Kinderschänder“ erweist hier ihre Anschlussfähigkeit, indem sie die Unterscheidung von einer vorgeblich rechtschaffenen und unverfälschten Gemeinschaft und den diese Gemeinschaft bedrohenden Elementen vornimmt. Die Existenz von Pädophilie wird aus der Gesellschaft externalisiert und diese nicht mehr als gesellschaftliches und psychologisches Problem, sondern als außergesellschaftliches dargestellt. Dass rund die Hälfte aller Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern von Bekannten und Verwandten verübt werden(13), sich also im direkten sozialen Umfeld zutragen, stellt somit keine unangenehme Frage mehr für jene dar, welche die ganze Zeit „Kinder sind unsere Zukunft“ plärren, und dabei schon voraussetzen, dass die Kinder schon mal „für uns“, will heißen für die Zukunft der Gemeinschaft und nicht für die ihrige vorgesehen sind. Damit die Verlagerung des gesellschaftlichen Konfliktes nach außen gelingen kann, darf der „Kinderschänder“ auch nicht mehr als Exemplar der Gattung Mensch behandelt werden, sondern wird in seinen Zuschreibungen bestialisiert und dämonisiert. So erscheint den selbsternannten „Kinderschützern“ auch die Todesstrafe als recht und billig, womit sie in ihrer Gnadenlosigkeit dem Mörder von Michelle alle Ehre machen würden.

Nazis sind auf den vergangenen Demonstrationen des Volkszorns deswegen nicht falsch wie OBM Burkhard Jung und Pfarrer Führer freundlich unterstellen, sondern gerade richtig. Sie unterscheiden sich lediglich in ihrer Ideologie, die nicht erst an der Schwelle zu totalitären Lösungen steht, sondern diese schon als Ziel voraussetzt. Gemein ist ihnen, dass sie eine angeblich natürliche und rechtschaffene Gemeinschaft konstruieren, die von außen durch Pädophile bedroht werde, wobei die Gemeinschaft gleichzeitig als Ankläger, Richter und Henker auftreten solle.

Manchmal gestaltet sich aber auch für die selbsternannten Kinderschützer die Unterscheidung zwischen Freund und Feind als ausgesprochen schwierig. So musste vor zwei Jahren Matthias Paul, seines Zeichens Abgeordneter der NPD im sächsischen Landtag, von seinem Amt zurücktreten, weil die Polizei bei Hausdurchsuchungen in seinem Büro und seiner Wohnung Videos, CDs und Computer mit Kinderpornografie beschlagnahmt hatte.

Martin K.

Anmerkungen

(1) ZDF heute nacht, Sendung vom 21.08.2008

(2) http://de.altermedia.info/general/achtjahrige-michelle-ermordet-220808_15747.htm

(3) Zitiert nach http://meedia.de/details/article/tote-michelle—rtl-gesteht-fehler-ein_10000715.html

(4) Bild-Zeitung vom 23.08.2008

(5) Dresdner Morgenpost vom 26.08.2008

(6) Die Welt vom 6.9.2008

(7) Hartmut A. G. Bosinski: Sexueller Kindesmißbrauch: Opfer und Täter, zitiert nach Oliver Walter in Forum Verhaltenswissenschaft, http://forum.verhaltenswissenschaft.isthier.de

(8) Siehe dazu LVZ-Online vom 27.8.2008

(9) ebenda

(10) ebenda

(11) www.bka.de/pks/pks2007/download/pks-jb_2007_bka.pdf

(12) Die Berichterstattung der Bild-Zeitung vom 2.9.2008 über den mutmaßlichen Tathergang mag davon Zeugnis ablegen.

(13) www.bka.de/pks/pks2007/download/pks-jb_2007_bka.pdf

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last modified: 21.9.2008