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Zonenstory


Die Siebziger waren die mit Abstand schlimmsten Jahre meines Lebens. Öde, aber langweilig. Oft probierten wir, diese brachiale Trostlosigkeit mit kleineren Ladendiebstählen aufzulockern, aber in den Geschäften gab es nichts Klauenswertes. Wer, bitteschön, stiehlt Ersatzhonig? So bescheuert waren nicht mal wir! Das Angebot der HO-Kaufhalle um die Ecke bestand nämlich komplett aus Ersatzhonig und bärbeißigen Ersatzverkäuferinnen, die uns in der Regel die Tür aufhielten, froh, dass sich jemand für ihre aus Erdöl hergestellten Lebensmittel interessierte. Über dem Eingang stand in blumigen Schriftzügen: „Eier – jetzt kaufen!“ Sinnlosigkeit allerorten. Das Bier schmeckte sauer, und die überreichlich vorhandenen Schwebeteilchen lösten bei uns Durchfälle aus. Wir waren ja gerade mal sieben oder acht oder so.

Im Grunde kümmerten wir uns um nichts. Einmal, wir kamen gerade aus der Gaststätte (besoffen), stürzte ich mit dem Rad und riss mir Hose auf Kulturdisplace, 23.3k und Knie blutig. Zu meinem eigenen Erstaunen bemerkte ich an diesem Abend, dass ich keine weitere Kleidung besaß. So ging ich anderntags mit dem verschmutzten, kaputten Teil zur Schule. Es war mir alles wurscht. In der HO-Kaufhalle um die Ecke bekamen wir alsbald Ladenverbot, weil wir ständig nach Sachen fragten, die dort noch nie über die Schwelle getragen wurden: eine zweite Sorte Brot, ein Gemüse, das nicht Mohrübe heißt, Obst aus anderen Ländern, irgendwas aus Papier, ein Stückchen Lebenslust.

Dafür hatten wir die atomare Bedrohung, wie uns unsere saftärschigen Lehrer und Lehrerinnen tagtäglich versicherten. An Schlaf war nicht zu denken damals, aus Sorge, die nukleare Druckwelle hätte nicht nur Eltern, Geschwister und Haustier, sondern auch das Klo hinweggefegt, auf welchem ich allmorgendlich den zonenbierbedingten Dünnschiss verrichtete. Völlig übernächtigt torkelten wir durch die Siebziger, hinein in die Achtziger, keine Spur von Sex und freier Liebe, wir waren ja noch nicht mal geschlechtsreif.

Als Jungpioniere und später als Thälmannpioniere gründeten wir die wohl erste Terrorzelle im demokratischen Sektor. Ziel: anarchistische Unterwanderung des Spießersozialismus. Als wir beispielsweise einmal den Auftrag hatten, das Klassenzimmer neu zu streichen, kackten wir vorher Dünnes in die Farbeimer. Umrühren, anstreichen, fertig. Eine gute Aktion, gefällt mir noch heute. Danach wurde ich Wandzeitungsredakteur; ich hatte darüber zu wachen, dass die Wandzeitung informationsfrei blieb, eine schöne Aufgabe; das Einkassieren des Pionierbeitrags und Milchgeldes allerdings brach mir das Genick, ich hatte mit meinen Terrorfreunden immer alles versoffen. Bevor ich dafür zur Rechenschaft gezogen werden konnte, Kulturdisplace, 21.1k beförderten mich meine Gesinnungsgenossen jedoch zum stellvertretenden Gruppenratsvorsitzenden, ein Posten bar jeder Verantwortung und Aufgabe – ideal!

Einmal, in den großen Ferien, bot ich Vater Staat meine Teilnahme am Produktionsprozess an. Ich sollte für einen Monat die Altpapierentsorgung bei der „Lausitzer Rundschau“ übernehmen. Da aus Rohstoffmangel auch Fehldrucke ausgeliefert wurden, hielt sich die Belastung in Grenzen: Ich kam um sieben Uhr, sammelte ein paar liegen gelassene Druckfahnen ein, warf sie in eine Altpapierpresse aus dem Jahre 1871 und ging um sieben Uhr fünfundvierzig wieder nach Hause. Am nächsten morgen erwartete mich der Abteilungsleiter früh am Werkstor: Es sei bei den Kollegen nicht so gut angekommen, ich als Aushilfe, schließlich würde ich doch bis sechzehn Uhr bezahlt und so weiter und so fort. Mein Einwand, es gebe schlicht und einfach nichts zu tun, schien dem Genossen unangenehm. Von nun an sah mein Arbeitstag so aus: Ich kam um sieben Uhr, warf bis sieben Uhr fünfundvierzig zwei, drei alte Druckfahnen weg, schlief ein bisschen meinen Rausch aus, drückte mich von zehn bis vierzehn Uhr mit irgend einem Buch in der Kantine rum und ging dann nach Hause. Das Proletariat war`s zufrieden und ich auch. Obwohl hier natürlich kritisch angemerkt werden muss, dass in der Zone zu wenig Brauchbares veröffentlicht wurde, um ein Leben lang vier Stunden in der Kantine zu verbringen!

Die HO-Kaufhalle um die Ecke zog derweil alle Register. Sie verknappte das Angebot an Einkaufskörben derart, dass sich niemals mehr als zwei Leute im Verkaufsraum aufhielten (Aufenthalt ohne Korb verboten!), die Schlange nach Körben allerdings stets und ständig den Eindruck erweckte, es gäbe da sonstwas. Ein Selbstläufer. Tagein, tagaus erstürmten erwartungsfrohe Massen den Laden, schon bald war selbst der Ersatzhonig ausverkauft. Von Stund an gab es Ersatzhonigimitat, und das Ende schien nah.

Ich jobbte da bereits im „Konsument-Warenhaus“ als Möbelpacker, ein Beruf von höchstem gesellschaftlichen Prestige, bestand unsere Aufgabe doch hauptsächlich darin, den Leuten bei ihren frisch gelieferten Fernsehern professionell die Westprogramme einzustellen. Ich verdiente eigenes Geld und konnte in Gaststätten für den Rest meines Lebens mit einem staatlich garantierten Bierpreis von zweiundneunzig Pfennig (Ost!) pro halbem Liter rechnen. Mein Arbeitsalltag: Vormittags kurierte ich den Kopf mit Kollegen am Badesee, ab Mittag lieferten wir Fernseher aus und kassierten für das Einstellen der Westsender („Ist ja eigentlich verboten, Bürger!“) konspirativ horrende Trinkgelder.

Die HO-Kaufhalle um die Ecke hatte sich mittlerweile für die chinesische Variante entschieden; Panzer trieben allabendlich die sich um Körbe balgende Menge auseinander und die Stimmung wurde zunehmend aufgeheizter. Aber das ist eigentlich schon was für die Achtziger.

Christian

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last modified: 24.12.2007