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das Erste, 0.9k

Holy Shit!

Sieben Tage in Hamburg

Was war das für ein Sommer! Eigentlich kein besonderer. Wie immer war im Conne Island wenig los und wie immer unterhielt man sich über das Wetter, das abwechselnd für zu nasskalt oder zu heiß befunden wurde. Wie immer auch, versuchte die deutsche Journaille mit allen Mitteln das sprichwörtliche Sommerloch zu stopfen, was wie immer, trotz Inkaufnahme enormer Peinlichkeiten, misslang. Diesmal allerdings auf besonders nervtötende Weise, denn da weit und breit keine Sportgroßveranstaltung in Sicht war und sich leider auch kein Ersatz für die Nationalbären Bruno und Knut finden ließ, war guter Rat teuer. Gott sei Dank trug es sich diesen Sommer aber zu, dass der Dalai Lama Deutschland, erklärtermaßen eines seiner Lieblingsländer, für zehn Tage besuchte. In Hamburg erteilte der Dalai Lama seinen deutschen Anhängern sieben Tage lang so genannte „Unterweisungen“ zu Themen wie „Mitgefühl in der globalisierten Welt“ oder „Frieden lernen – die Praxis der Gewaltlosigkeit“. Zehntausende Besucher lauschten Wal, 7.0k gespannt den Worten des „Ozeans der Weisheit“, obwohl die Dauerkarten mit 330 Euro nicht allzu günstig ausfielen. Was lag da für die deutsche Presse näher, als dem begeisterten Volk auf`s Maul zu schauen und ihrerseits ihre Spiritualität zu entdecken?
Eben, nichts! So kam es dann auch folgerichtig, dass die deutsche Presse sich ihrem Gegenstand, dem Dalai Lama, mit einer klebrigen Mischung aus Devotion, Verzückung und Interessiertheit annahm. Die kackfreche „Taz“, eigentlich bekannt für extrabissige Bemerkungen über Stoiber & Co, nahm ausnahmsweise einmal ein Blatt vor den Mund, als sie sich getraute „Eure Heiligkeit“ zu fragen „welche buddhistischen Praktiken (…) sie den politischen Führern der Nationen empfehlen, um eine bessere und friedlichere Welt zu schaffen?“. Da wollte auch „Der Spiegel“, Vertreter eines illusionslosen, knallharten Investigativjournalismus und Hausblatt der deutschen Viertelintelligenz, sich nicht lumpen lassen! Hier machte man mit einer 14-seitigen Schmonzette in drei Akten über den „Gottkönig zum Anfassen“ auf. Doch woher kommt dieses allgemeine wohlwollende Interesse für den Dalai Lama? Und: wer ist der Dalai Lama überhaupt?

Hard Facts

Der Dalai Lama wurde 1935 als Sohn einer wohlhabenden Bauernfamilie im Nordosten Tibets geboren, seine Muttersprache ist chinesisch. Im Alter von zwei Jahren wurde er als Reinkarnation, also Wiedergeburt des 13. Dalai Lamas „erkannt“ und infolgedessen als legitimer Nachfolger und 14. Dalai Lama inthronisiert. Die Prozedur dieses „Erkennens“ kann getrost als völlig irrsinnig bezeichnet werden. Aufgrund der Kopfneigung seines verstorbenen Vorgängers, der im Totenbett angeblich nach Nordosten blickte, war man sich klar, dass man in dieser Richtung nach dem neuen Babygottkönig würde suchen müssen. Irgendein orakelnder Priester hatte dann noch einige Eingebungen und Halluzinationen, die man ebenfalls geographisch deutete, man schickte einen Suchtrupp los und schwuppdiwupp: schon hatte man einen niedlichen kleinen Gottkönig gefunden. Seitdem ist der Dalai Lama, mit bürgerlichem Namen Lhamo Dhöndup, geistiges und weltliches Oberhaupt des tibetischen Volkes, zumindest stört sich niemand daran, dass er sich selber dafür hält.
Der heutige tibetische Lamaismus der „Gelbmützen“ hat mit dem „ursprünglichen“ Buddhismus, wie er sich aus diversen, über 2000 Jahre alten Schriften rekonstruieren lässt kaum etwas gemein. Er steht vielmehr einen großen Teil der Grundideen des Buddhismus diametral gegenüber. So sind für den tibetischen Lamaismus eine extreme Heiligenverehrung, die Vorstellung von einem transzendenten Wesen (Gott), Priesterschaft, Hölle- bzw. Paradiesglauben und die Integration zahlloser archaischer Dämonen- und Geistervorstellungen charakteristisch.
Zu keinem Zeitpunkt konnte der tibetische Lamaismus nur als spirituelle Angelegenheit verstanden werden, im Gegenteil: bereits die Herausbildung der Gelbmützen-Sekte im 15. Jahrhundert war das Resultat brutaler Rivalitäten verschiedener mönchischer Gruppen, die um wirtschaftliche und ökonomische Macht rangen und dabei keineswegs allzu viel Toleranz und Mitgefühl an den Tag legten: Mord und Totschlag waren an der Tagesordnung beim Weg zum Machtmonopol. Der Lamaismus war nie einfach eine Glaubensrichtung sondern immer auch ein Herrschaftssystem, eine Art feudale Theokratie, in der die Klöster das Sagen hatten und die Bevölkerung auf grausamste Art und Weise ausbeuteten. Das Leben der großen Mehrheit der Bevölkerung war unter der Herrschaft der Gelbmützen durch ein unbeschreibliches Ausmaß an Elend, Willkür und Ahnungslosigkeit geprägt. Es gab keinerlei Sozial-, Gesundheits- oder Bildungssystem, die Alphabetisierungsquote lag bei zwei (!) Prozent und das Rechtssystem, das auf Dschingis Khan zurückging, war so barbarisch, dass noch bis in die 50er Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts das Abtrennen von Gliedmaßen oder das Abziehen der Haut bei lebendigem Leibe geläufig waren. Die Mönche, die etwa zwei Prozent der Bevölkerung ausmachten, kontrollierten jeden Teilbereich der Gesellschaft, die meisten anderen Menschen lebten als Leibeigene oder Sklaven und hatten keinerlei Handhabe gegen die Lamas. Diese unmenschlichen Zustände rechtfertigten und festigten die Priester durch Versatzstücke buddhistischen Glaubens, wie etwa die Karmalehre, die besagt, dass jedwedes Unheil und Leid selbstverschuldet ist. Als schlimmste Sünde galt es, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen; jede Form von Unglaube oder Ungehorsam gegenüber der Lamadespotie führte den Lamas zufolge direkt in verschiedene Höllen, wo unendliche Schmerzen auf die Häretiker warteten.

Angesichts solcher Zustände ist die Bezeichnung des „alten Tibets“ als Hölle auf Erden, wie sie von der chinesischen Propaganda immer wieder vorgenommen wurde, durchaus verständlich. Obwohl seit langem bekannt ist, unter welch barbarischer Herrschaft die tibetische Bevölkerung vor der chinesischen Besatzung leiden musste, wird Tibet seit Jahrzehnten in völliger Verdrehung der Fakten als „Shangri-La“, das Paradies auf Erden, glorifiziert. Aus den immer gleichen Ingredienzien wird ein rosarotes Wunschbild gezeichnet, man imaginiert ein Land, in dem die Menschen friedlich und glücklich sind, mit sich und ihrer Umgebung im Einklang leben und sich ansonsten gerne kollektiv einer natürlichen, ganz und gar harmlosen Spiritualität hingeben. Dieses zynische Zerrbild wurde in einer Flut von Büchern und Filmen wie etwa „Kundun“ von Martin Scorsese oder „ Sieben Jahre in Tibet“ mit Brad Pitt mit großer Wirksamkeit reproduziert und ermöglicht dem Dalai Lama sein Image als erleuchteter Botschafter des Friedens.
Auch wenn die westliche Tibet-Begeisterung seit den 80er Jahren einen bisherigen Höhepunkt erreicht hat, ist die Faszination für den Buddhismus im Allgemeinen und Tibet im Besonderen nicht ganz neu. Bereits vor über 100 Jahren wurde sie in Deutschland von esoterischen Spinnern, Rassekundlern und Kulturpessimisten gepflegt. Besonders in völkisch-okkulten Kreisen fanden etwa die Schriften von Helena Blavatzky großen Anklang. Sie und ihr Gefolge halluzinierten eine „Große Weiße Bruderschaft“ mit so illustren Mitgliedern wie Jesus, Buddha und Goethe, die angeblich von Tibet aus das Schicksal der Menschheit lenke. Im Nationalsozialismus wurde ein starker Tibetkult gepflegt, der sich nicht zuletzt in einer Vorliebe für Bergsteigerfilme äußerte, sich aber vor allem aus eben solchen esoterischen Wahnvorstellungen speiste. Heinrich Himmler, der von jeglichem Humbug angetan war, solange er sich durch ein gerütteltes Maß an Irrationalität und Obskurantismus auszeichnete, war ebenfalls verzaubert von Tibet. Unter seiner Schirmherrschaft fand 1938 eine SS-Expedition nach Tibet statt, um dort nach Spuren einer „nordischen Rassenseele“ zu suchen. Auch Waffenlieferungen an die Lamas waren geplant, kamen dann aber nicht zustande. Für die Ergebnisse dieses „rassewissenschaftlichen Vergleichs“ dürfte sich heute glücklicherweise kaum mehr jemand interessieren.

Soft Skills

Vielleicht wäre all dies gar nicht so schlimm, wenn es sich beim Dalai Lama um einen aufgeklärten Mann handelte, der sich deutlich von der Geschichte seines Amtes distanzierte, seine esoterischen Anhänger von sich wiese und wenigstens ab und an einen intelligenten und emanzipatorischen Gedanken äußerte. Leider ist nichts davon der Fall. Der Dalai Lama ist ganz wesentlich selbst für den Kult um ihn verantwortlich und unterhält beste Verbindungen zu weltweiten Okkultszene, in der er dann auch sehr wohl gelitten ist. Auch wenn der „Ozean der Weisheit“ gerne auf bescheiden macht („ich bin ein einfacher Mönch“), hält er in Theorie und Praxis an seinem Status als Gottkönig fest. Seine Lehre schließlich ist genauso debil wie sein penetrantes Dauergrinsen, das ihn hierzulande so beliebt macht. Seine „Philosophie“ verteilt der Dalai Lama sehr gewinnträchtig über hunderte von Büchern, an denen er als Autor, Koautor oder einfach als Werbeträger beteiligt ist. Sie tragen Titel wie „Mit dem Herzen Denken“ oder „Goldene Worte des Glücks“ und enthalten tiefe Weisheiten wie beispielsweise „Wer einmal von einer Schlange gebissen wurde, der fasst selbst ein Seil nur ganz vorsichtig an“ oder „Denk daran, dass Schweigen manchmal die beste Antwort ist“. Es ist schon eine Kunst für sich, einen derartigen Ausstoß an Wortmüll zu produzieren und dafür nicht ausgelacht, sondern im Gegenteil vergöttert zu werden.
Es bleibt die Frage, warum sich trotz der offensichtlichen Dumpfheit des Dalai Lamas so viele Menschen mit ihm sympathisieren oder sich zumindest für seine Produkte interessieren. Die Antwort ist wohl nicht im objektiven Gehalt des tibetischen Lamaismus oder gar in den tatsächlichen Zuständen im alten Tibet selbst zu finden, denn diese dienen ausschließlich als Projektionsfläche für die Bedürfnisse und Befindlichkeiten der hiesigen Anhängerschaft. Schließlich haben die die oftmals beschworenen Bilder und Ideale mit der Wirklichkeit rein gar nichts zu tun. Was sich anhand der klassischen Tibet-Wunschvorstellung leicht rekonstruieren lässt ist vielmehr, wie ihre Vertreter sich Mensch und Gesellschaft vorstellen und wie nicht.
Bei genauerem Hinsehen stellt sich heraus, dass die Projektion „altes Tibet“ durchaus als das klassische Gesellschaftsideal deutscher Ideologen begriffen werden kann:
Eine vormoderne Gemeinschaft ohne „übersteigerten Individualismus“, in der alle durch ein einigendes Band des Glaubens auf untrennbare Weise miteinander verbunden sind und in der jeder in einer „natürlichen“ Hierarchie, die nicht zu Widersprüchen sondern zu Harmonie führt, eingelassen ist. In dieser Gesellschaft ist das Leben zwar manchmal hart und einfach, die Menschen sind aber anspruchslos und bescheiden sich mit ihrem Schicksal. Für sie gibt es Höheres als individuelles Glück und seelenlosen Materialismus: ihre Spiritualität, ihre Tradition und das Wohlergehen ihrer Gemeinschaft. Unfreiwillig bringt „Der Spiegel“ diesen Wahn in zwei Sätzen auf den Punkt: „Es entstehen neue Kasernen (…), Supermärkte, Schnellrestaurants. Wirtschaftlich ist es den Tibetern noch nie so gut gegangen in ihrer Geschichte wie jetzt – und spirituell nie so schlecht.“
Nun sei leider alles „überfremdet“ durch den „Konsum“, das „chinesische Plastik“, das die schöne Harmonie von außen zersetzt.
Dass der Gelbmützen-Buddhismus analog dazu eine reine, ehrliche, tiefe und authentische Form des Aberglaubens ist, die man auch irgendwie spürt, tief drinnen, das ist klar. Und dass es kein Problem ist ihm zu frönen sieht man an Richard Gere, der ja wegen seines Abfalls vom rechten Glauben auch noch nie auf eine Rolle als schmalziger Filmlover verzichten musste. Ganz anders Tom Cruise, dem dieser Tage ernsthaft vorgeworfen wurde, er habe sich seine Gehirnwäsche bei der falschen Sekte abgeholt, was ihn als Darsteller des Lieblingsnazis der Deutschen disqualifiziere. So ein Quatsch! Was Cruise versucht, und das müsste das deutsche Feuilleton eigentlich wissen, ist konsequentes Method Acting!

Johannes Knauss

Zur weiteren Beschäftigung mit dem Dalai Lama empfehle ich die vorzügliche Biographie von Colin Goldner aus dem Alibriverlag.

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last modified: 22.8.2007