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Eine Dorfidylle

Buchcover, 7.0k

„Der Kick“, Regie: Heike Scharpff, Theaterstück an der Neuen Szene.

Nächste Vorstellungen: 13.04., 23.04., 30.04.2007

„Der Kick: ein Lehrstück über Gewalt“, von Andreas Veiel, Deutsche Verlagsanstalt 2007, € 14,95, ISBN 3421042136.

Das Buch ist im Infoladen im Conne Island zur Ausleihe erhältlich.

Über einen weiteren Versuch, das Unfassbare in Szene zu setzen

Im Juli 2002 wurde in Potzlow (Brandenburg, Landkreis Uckermark) der sechszehnjährige Marinus Schöberl ermordet. Die drei Täter Marco Schönfeld, Marcel Schönfeld und Sebastian Fink, Bekannte von Marinus, quälten ihn einen Nachmittag und Abend lang. Schließlich töteten sie ihn mit einem – dem Spielfilm „American History X“ abgeschauten – ‚Bordstein-Kick' und indem sie einen Gasbetonstein auf seinen Kopf warfen. Die Mörder, augenscheinlich Neonazis, hatten Marinus, weil er stotterte, gefärbte Haare und Baggy-Pants trug, als Außenseiter identifiziert und ihn gezwungen, sich selbst als ‚Juden' zu bezeichnen. Nach der Tat verscharrten sie den Leichnam, der erst vier Monate später gefunden wurde, weil sich einer der Täter verquatscht hatte; in der Zwischenzeit galt Marinus als vermisst. 2004 wurden Gefängnisstrafen gegen alle Täter ausgesprochen.
Als die Tat bekannt wurde, hatte es das übliche Rauschen im Blätterwald gegeben. Die Presse, ihrer Nachrichtenproduktionsfunktion nachkommend, war bemüht, den Tathergang, den Alkoholkonsum von Tätern und Tätereltern, die Arbeitslosigkeit und folgende Perspektivlosigkeit in der Region in kompakten Dreispaltern darzustellen. Ob sich aus den Unmengen von ‚Daten' ein schlüssiges Bild des Herganges und des Motivs basteln ließ, war eher Nebensache. Eine Antwort auf das ‚Warum?' der Tat schien entweder nur als grobe Vereinfachung oder eben gar nicht möglich.
Insofern scheint eine ästhetische Annährung an den Fall eine lohnende Anstrengung. Und tatsächlich gab es schon mehrere Versuche, sich des Themas jenseits des Meutejournalismus anzunehmen. So wurde 2003 am Wiener Burgtheater ein auf dem Mordfall basierendes Drama gezeigt, das später auch als Hörspiel arrangiert wurde. Tamara Milosevics Dokumentation „Zur falschen Zeit am falschen Ort“, die Marinus' besten Freund im „Biotop Potzlow“ (Tjark Kunstreich) begleitet, war im Dezember im Conne Island zu sehen. Der Dokumentarfilmer Andreas Veiel (u.a. Black Box BRD) und die Dramaturgin Gesine Schmidt verarbeiteten 2005 mehr als 1.500 Seiten Gerichtsprotokolle, Polizeiverhör- und selbst zusammengetragenes Interviewmaterial in dem Theaterstück „Der Kick“, das 2006 auch verfilmt wurde. Angelehnt an Stück und Film von Veiel/Schmidt läuft nun „Der Kick“ seit dem 24. Februar an der Neuen Szene des Schauspiels Leipzig.
Veiels und Schmidts Inszenierung kam mit zwei Schaupielenden aus, die Aussagen von etwa zwanzig Personen vortrugen, einzige Bühnendekoration war eine Bushaltestelle – Veiel wollte alle mögliche Aufmerksamkeit auf den Inhalt lenken. Die Leipziger Aufführung mag so viel Kargheit ihrem Publikum nicht zumuten und zeigt eine Viererbesetzung, viel Bewegung, Licht- und Soundeffekte, teilweise vom Band eingespielte Verhör-Passagen (die das Zuordnen der Aussagen zu den Personen nicht immer erleichtern). Mitunter gelingt es zwar so, die Dynamik des sozialen Missverstehens in den dargestellten Beziehungen offenzulegen (so, wenn immer wieder über das kurzzeitige Aufbauen von Trennwänden die Bühne zerteilt und die Agierenden separiert werden). Teilweise scheinen aber (gerade die beiden jungen männlichen) Darsteller ohne Bewegung nicht auszukommen, und so muss die (ohnehin und schon in den Dialogen allgegenwärtige) Aggression der Täter zum Beispiel durch brachiales Springen auf die Bühnenplanken akustisch unterstrichen werden. An anderer Stelle darf das Grimassen-Schneiden ins Publikum nicht fehlen (auf diese Weise wird der Kommentar der Täter zu den vor Gericht über sie verlesenen Gutachten dargestellt). Mag sein, dass es nicht intendiert war, aber bei aller Grausamkeit des Falles scheint die Inszenierung auch ein klein bisschen subkutane Unterhaltung leisten zu wollen. Problematisch an diesem ‚Zuviel' an Schaustellerei ist, dass das ohnehin schwer aufzulösende Spannungsverhältnis zwischen Dokumentation und Interpretation zusätzlich verwischt wird. Das mehr einer Lesung gleichende Arrangement Veiels bleibt – deutlicher als die gestisch ausladend geschmückte Leipziger Adaption – als Präsentation von Gesammeltem und Aufgezeichnetem erkennbar. Es zeigt klarer, dass es ausgewählt wurde und vom Publikum interpretiert werden will. Die filigran gespielte Szene tarnt sich dagegen als abgebildete Wirklichkeit, die sie nicht ist (die Schauspieler wiesen immerhin im Nachgespräch selbst auf dieses Problem hin).

War in Tamara Milosevics Film die Identifizierung mit Matthias Muchow (Marinus' bester Freund – er grub dessen Leiche aus) möglich, der scheinbar als einziger Potzlower Empathie mit dem Opfer zeigte und gegen die Ignoranz von Dorfgemeinschaft und eigener Familie versuchte, nach Gründen zu fragen, so wird ein solcher, eine gewisse Sicherheit gebender, Rückzug dem Zuschauer des „Kick“ nicht gewährt. Abgesehen von den nicht als Charaktere dargestellten Vernehmungsbeamten und des Staatsanwaltes, versuchen alle im Stück Rezitierten, indem sie Begleitumstände oder gar mutmaßliche Gründe für die Tat liefern, diese und das Opfer zu vergessen. Der Bürgermeister lobt den Nachwende-Einwohnerzuwachs des beschaulichen Dörfchens (und prägt – leicht abgewandelt – den Titelsatz des Films von Tamara Milosevic: Marinus war eben „am falschen Tag am verkehrten Ort“). Die Täter zeigen keinerlei Reue (Marco Schönfeld zieht sich darauf zurück, dass die gerade abgesessene Knaststrafe ihn so aggressiv gemacht habe). Zwar betonen sie, dass der Mord nicht geplant gewesen sei, aber in Ausführung und Vertuschung erweisen sie sich als äußerst rational: trotz Alkoholspiegels und minderer Intelligenz wird, um das Ergebnis der Steinwürfe auf Marinus' Kopf zu kontrollieren, dem Opfer mal eben der Puls gemessen und nach dem Verbuddeln der Leiche das weitere Vorgehen (‚Dicht halten!') abgesprochen. Die Sozialarbeiterin des Ortes steht vor dem Trümmerhaufen ihrer Arbeit und scheint doch genau zu wissen, dass sie nie wirklich Einfluss auf ‚ihre' Jugendlichen hatte. Die Eltern der Täter beteuern immer wieder, dass Blut dicker als Wasser sei und sie, komme was da wolle, zu ihren Kindern halten werden. Der Vater von Matthias Muchow bescheinigt seinem Sohn, sich auf dem Trauma, das der Leichenfund bei ihm ausgelöst hat, auszuruhen und dem ermordeten Stotterer Marinus Schöberl, er hätte überall hingehört, bloß nicht „in die Gesellschaft“. Aber auch die – ohne jeden Gedanken an Tat und Verantwortung auskommenden – romantisierenden Zukunftspläne von Marco Schönfeld und seiner (ebenfalls wegen Körperverletzung eine Gefängnisstrafe absitzenden) Freundin fügen sich in das Panorama der abgeklärten Sinnlosigkeit.

Die Antwort auf die Frage, die die „an der Produktion beteiligten Theaterleute“ im Programmheft stellen: „Und was kann und muss dagegen
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(Siehe auch: Editorial)
getan werden?“, nun, die ergibt sich weder aus Inhalt noch Form des Dargebotenen – es ruft jedoch die Frage in eindringlicher Weise ins Bewusstsein. Dieses Dilemma bemerkten freilich auch die ‚Theaterleute' – nicht umsonst bieten sie nach jeder Vorstellung ein Publikumsgespräch an, holten zur Buchmesse Andreas Veiel für ein ebensolches ans Haus und planen, mit dem Stück in die theaterpädagogisch begleitete Bildungsarbeit zu Initiativen und an Schulen zu gehen.
Auch dem Initiator des Vorbildstückes Andreas Veiel war augenscheinlich sein allerorten positiv rezipierter Film nicht Antwort genug. Ein Jahr nach dem Film, zwei nach der Inszenierung am Maxim-Gorki-Theater in Berlin, knapp fünf nach der Tat legte er – pünktlich zur Buchmesse – den Band „Der Kick: Ein Lehrstück über Gewalt“ vor. Neben den Texten des Filmes/Stückes enthält das Buch weiteres Recherchematerial zu den Lebensläufen des Opfers und der Täter, zur Tat und zur Zeit danach, also vor allem der Knastzeit der Täter. Außerdem ein gut sechzigseitiges ‚Zusammenhänge' überschriebenes Kapitel und einige Anmerkungen zur Motivation, sich – über diesen langen Zeitraum – mit dem Fall zu beschäftigen.
Schon in Interviews zum Film verteidigte Veiel seine Annährung – vor allem an die Täter (im Buch werden deren Lebensläufe vor dem Marinus' abgehandelt) – mit dem Interesse, deren Handeln zu verstehen, ohne jedoch Verständnis hervorrufen zu wollen. Diesen Ansatz verfolgt er auch im Buch. Dabei sind zwei implizite Annahmen offensichtlich. Dass das Mörder- bzw. Täter-Werden aus den gesellschaftlichen Bedingungen erklärt werden muss, aber eben die (freie!) Entscheidung jedes Einzelnen zum Handeln letztes Erklärungsziel ist. Veiel trägt daher zu den Tätern weiteres – über Selbst- und Fremdaussagen in Film/Stück hinausgehendes – Material zusammen, rekonstruiert deren, Gewaltausübung aber eben auch Gewalterfahrungen beinhaltende, Biografien. Selbst Psychologe, gibt er dabei immer wieder Hinweise auf die fehlgeschlagene Ich-Entwicklung besonders Marcels und Marcos. Beide gehörten zum Beispiel (wie Marinus) einer nach Potzlow zugezogenen Familie an, an der andere Dorfbewohner immer wieder das Ressentiment gegen Fremde und ‚Zu-spät-Kommende' ausagierten (der Potzlower Pfarrer meint, wohl auf die Worte der Täter anspielend, die Mitglieder von Marinus' Familie seien die „Juden von Potzlow“ gewesen!). Beide hatten (wie Marinus) als Jugendliche Sprachprobleme und schlugen in Marinus offenbar ihre eigene empfundene Minderwertigkeit tot – es gab eben weder in Familie, noch Schule oder bei Freunden die Möglichkeit, Schwäche zu zeigen, „ohne Stärke zu provozieren“ (Adorno). Das kann sicher nicht den Mechanismus des ‚Nach-unten-Tretens' erklären, aber doch – vor allem gegen die Aussagen der Täter selbst (‚Das hätte jeden treffen können.') oder auch des Bürgermeisters (‚Die wollten halt jemanden aufklatschen.') – die Wahl des Opfers als nicht zufällig aufweisen.

Im Buch werden auch die selbstentlastenden Widersprüche, in die sich die Täter bei der versuchten Selbsterklärung ihres Handelns verwickeln, deutlicher als auf der Bühne (insofern lohnt es auch, in der – Zurückblättern ermöglichenden – Lehnstuhlatmosphäre noch einmal die Texte des Theaterstückes zu lesen). So gibt Marco Schönfeld als Grund für die Quälerei und die Tötung Marinus' mal an, es hätten sich eben im vorherigen Knastaufenthalt Aggressionen aufgestaut und die mussten raus, mal meint er, es sei einfach Langeweile gewesen, die dazu animiert hätte. Ein andermal zieht er sich (sicher angeregt durch die übliche Verteidigungsstrategie in Verhandlungen) auf die Wirkung des Alkohols zurück (das Gericht nahm an, dass keiner der Täter in seiner ‚Steuerungsfähigkeit' durch Alkohol übermäßig eingeschränkt war). Auch über die laufende Resozialisierung der zwei Haupttäter wird berichtet (die ja mit Haftstrafen von acht und fünfzehn Jahren durchaus eine Zukunft in Freiheit vor Augen haben). Die trostlosen Berichte über Tat, Täter und Umfeld bekommen dort einen leicht rosigen Schimmer, wo die aufkommende Reue, der Drogen-/Alkoholentzug Marcels oder die von beiden aufgenommenen Ausbildungen thematisiert werden. Auch trennen sich beide von ihrem Skinhead-Outfit – augenscheinlich ein Fortschritt. Der wird allerdings durch andere, sicher zutreffende Überlegungen Veiels konterkariert, die behaupten, die Jugendlichen würden oft das rechte Gedankengut der Eltern – an denen sie sich bei allem konstatierten „Wertevakuum“ ja orientieren – (nur) in die Tat umsetzen. Wer die Springerstiefel ablegt, wird eben nicht automatisch zum Demokrat und irgendwann werden Marcel und Marco Schönfeld Eltern sein, mit denen sich Kinder identifizieren…
Veiel kommt natürlich nicht umhin, auch die ‚Strukturschwäche' des ostdeutschen Dörfchens Potzlow zu beschreiben – muss allerdings bemerken, dass es gar nicht ‚besonders' strukturschwach ist (eine Untersuchung des Berliner ‚Zentrum für Antisemitismusforschung' zum Mord an Marinus von 2004 lässt keine ostspezifischen Gründe für die Tat gelten). So bekannt und hier eben nur wiederholt diese Klage ist, so interessant sind Veiels Ausführungen zur NS- und DDR-Geschichte des Ortes: hier unternimmt er so etwas wie einen Ausflug ins kollektive Unbewusste Potzlows. Unbewusst, weil eben konkrete Schuld- oder Verstrickungsgeschichten den Nationalsozialismus betreffend ebenso wenig (administrativ oder innerfamiliär) thematisiert wurden, wie Stasi-Mitarbeiterschaft und Denunziantentum vor 1989. So wie die Reflexion über den Mord an Marinus fast vollständig ausblieb, gilt dies auch für die historischen Ereignisse. Mal im Namen des verordneten Antifaschismus, mal im Namen des notwendigen Wiederaufbaus – und immer bei gleichzeitig durchaus vorhandenen Konflikten (so wurden in Potzlow nach 1945 ‚Heimatvertriebene' angesiedelt). Dieser interessante Exkurs zur Geschichte bleibt allerdings wenig vermittelt zu den konkreten Täterbiografien (sieht man von dem, auch im Theaterstück vorkommenden, Zusammenhang ab, der zwischen der Strangulierung der Urgroßeltern Marcels und Marcos durch „die Russen“ im Beisein ihres Sohnes und dessen späterer Gewalttätigkeit, hergestellt wird).
Beim Verweis auf Schulschließungen, fehlende Jugendclubs, Arbeitslosigkeit und andere Nachwendeprobleme kommt Veiel allerdings nie auf den Gedanken, dass er hier kapitalismusimmanente Mechanismen vor sich haben könnte – der Ausweg aus der Krise scheint immer gewiss (vgl. die recht wohlwollend bewerteten Resozialisierungschancen der Täter). Dass ein viel engerer Zusammenhang zwischen konstatierter „Verrohung“ und „Gewalt“ und den Segnungen der Marktwirtschaft besteht (wie ihn zum Beispiel Götz Eisenberg in seinem Buch ‚Amok – Kinder der Kälte' zu zeigen versucht), sieht Veiel nicht, ahnen aber einige seiner Interviewten (wenn auch mit selbst zweifelhaften Alternativen im Hinterkopf). So wird ein Taxifahrer zu seiner Bereitschaft befragt, in eine Schlägerei einzugreifen und antwortet: „Einerseits wird uns täglich vorgeführt, dass der andere immer der Wettbewerber und Konkurrent ist, der mir potentiell die Arbeit wegnimmt. Keiner hat mehr Zeit für den anderen, keiner kümmert sich – damit wird das letzte Maß an Solidarität, was es mal in unserer DDR-Gesellschaft gegeben hat, ausgemerzt. Und dann soll ich andererseits die Alibi-Werte dieser neuen Gesellschaft hochhalten, dem Schwachen helfen, der von den anderen zusammengeschlagen wird? Wenn ich so was sehe, schaue ich weg und gebe Gas.“
Veiels Motivation, einfachen Antworten, wie der, die Täter als „Monster“ abzustempeln, etwas entgegenzusetzen, ist durchaus nachvollziehbar. Aber auch darüber hinaus ist das (Theater- und Lese-) Publikum natürlich immer an einfachen, konsistenten Geschichten interessiert. Dass die meist nicht zu haben sind, zeigt das Theaterstück, auch in der Leipziger Fassung – davon sollte sich, wer gegen das leichte Übermaß an ‚Action' nichts einzuwenden hat, selbst überzeugen. Dass auch die längere Beschäftigung einer Erklärung sich nur bruchstückhaft nähert, zeigt Veiels Buch. Trotzdem sind gerade die letzten Kapitel durchaus die Lektüre wert.

M.M.

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last modified: 28.3.2007