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Zum Artikel „Ich hasse Musik“

LeserInnenbrief

Keine Ahnung, ob der Artikel von Sisyphos „Ich hasse Musik“ im Heft #139 des CEE IEH eine Verarsche sein soll oder einfach nur ein Aufhänger, um sich mit seiner Heldentat beim Butch Meyer-Konzert zu brüsten, den Artikel finde ich scheiße.
Um so schlimmer, dass ich beobachten muss, dass die Einstellung „bloß keine politischen Texte in meiner Band“ immer mehr um sich zu greifen scheint.
Und das eben bei Bands, deren Mitglieder man eigentlich als „politisch“ bis „politisch engagiert“ einschätzt.
Mein persönlicher Hintergrund ist, dass ich mich kürzlich von meiner Band, in der ich als Texter und Sänger fungiert habe, verabschiedet habe, nachdem man mir in der Band verklickern wollte, dass ich mal lieber keine politischen Texte schreiben sollte. Die Begründung dabei reichte von einem kategorischen „eine fundierte Gesellschaftskritik kann man nicht in zehn Textzeilen unterbringen“, über einem Sich-völlig-außerstande-Sehen, sich über ein politisches Thema überhaupt eine Meinung bilden zu können (zu dürfen?) und zu eher fragwürdigen Interpretation meines Textes (ohne Beachtung eventueller Stilmittel), bis zur Divergenz in politischen Auffassungen (was, im Gegensatz zu den anderen genannten Punkten, eine gute Begründung ist, um gegen einen, wohlgemerkt, EINEN speziellen politischen Text zu sein).
Dies soll nun aber keine persönliche Abrechnung mit meiner Ex-Band sein, wohl aber eine Kritik an dem Artikel von Sisyphos.
Sisyphos hasst also Musik, genauer, Musik mit politischen Texten. Als negatives Beispiel dient Sisyphos folgendes Szenario: ein stumpfes, als „links“ kategorisiertes Lied (natürlich könnte es sich im Beispiel bei dem stumpfen Text um einen Text gegen die USA handeln, denn ein stumpfer Text ist gegen die USA und ein Text gegen die USA ein stumpfer Text ???!) mit einfach zu begreifenden Refrain wird von einem ebenso stumpfen Publikum begeistert mitgegrölt. Das Publikum wähnt sich dabei politisch engagiert, als politischer Aktivist, der es denen da oben mal so richtig zeigt beim Conne Island-Konzert.
Daraus folgt (nach Meinung Sisyphos`): lasst uns das Publikum lieber mit Alkohol, Sex und Drogen-Texten zudröhnen. Automatisch wird es dann nach erfolgter Ausnüchterung zum politischen Schmöker greifen und sich für Weltpolitik interessieren. oder eben wenigstens nicht auf die schiefe Bahn (Anti-Amerikanismus) geraten?
Über den positiven Effekt, den ein politischer Text, sei er nun „verkürzt“ oder fundiert, bewirken kann, schweigt Sisyphos sich aus. Ein Text kann mich zum Nachdenken anregen, mich dazu bringen, mich mit einem Thema genauer zu befassen, mir eine eigene kritische Meinung zu bilden, kann Grundlage zu Diskussion sein. Außerdem möchte ich von der Band, der ich gerade zuhöre oder zusehe, eben schon wissen, welche politische Auffassung sie hat, wie bei allen anderen Menschen, mit denen ich Umgang pflege. Genauso wie ich den Schauspieler Tom Cruise in einem ganz anderen Licht betrachte, wenn ich über seine Verbindung zu Scientology weiss, so betrachte ich auch das Verhalten meiner sonstigen Umwelt eben in einem ganz anderen Licht, wenn ich den politischen Hintergrund kenne. Das kann positiv oder negativ sein.
Mir geht es völlig ab, dass mir als Musiker die nötige Intelligenz abgesprochen wird, mir eine eigene politische Meinung zu bilden (weil ich ja soviel üben muss, wie der Autor meint, und dann natürlich überhaupt keine Zeit mehr zum Informieren habe), und diese zu „verbreiten“. Noch viel schlimmer finde ich, dass mir als Zuhörer anscheinend die Intelligenz abgesprochen wird, politische Texte zu verstehen, mir eine eigene Meinung zu bilden. Am schlimmsten finde ich, dass wir auf Ratschlag des Autors eigentlich nur noch laue-Suppe-Musik mit Texten über Alkohol, Sex und Drogen (getreu nach dem Motto: Stumpf ist Trumpf!) anhören und produzieren sollen. Mir gruselts bei der Vorstellung, und Butch Meyer finde ich zum Kotzen.
Gesellschaftskritik und Politik sollen anscheinend nur noch im einem ganz bestimmten Rahmen stattfinden, der da wäre: Demonstrationen, Vorträge, politische Newsflyer (CEE IEH?!).
Urkomisch, dass gerade auf Demonstrationen nichts anderes als auf einem Konzert passiert: eine Handvoll Leute organisiert eine Demonstration mit ein paar Redebeiträgen (hört jemand zu???) – die Band sozusagen – der Rest läuft halt mit und lässt sich eventuell noch zum Brüllen irgendwelcher stumpfsinnigen Parolen überreden – das ausgelassene Publikum sozusagen. Während ich in meiner Jugend eine Demonstration als willkommenes Freizeitvergnügen (Sehen und Gesehen werden, sich der Illusion hingeben, politisch aktiv zu sein) betrachtet habe, fühle ich mich seit dem Zeitpunkt, als sich in mir ein wirklich kritischer Geist geregt hat, auf jeder Demonstration unwohl, da ich mich mit dem stumpfsinnige Parolen schreienden und Fahnen schwenkenden Mob überhaupt nicht identifizieren kann, und die Möglichkeiten, gegen einen Redebeitrag vorzugehen, doch eher eingeschränkt sind etc.
Gegen das politisch wahrscheinlich wahnsinnig bedeutende Engagement eines Aktivisten, der eine Demonstration und Vorträge veranstaltet und organisiert, der Flyer schreibt, druckt und verbreitet, kann ich überhaupt nichts sagen. Ich frage mich nur, wo genau der Unterschied zu mir als Musiker, der Texte schreibt und verbreitet, liegen soll. Das mir unterbreitete Argument meiner Ex-Band, dass man eine politische Meinung einfach nicht in zehn Zeilen unterbringen kann, kann ich einfach nur im Ansatz verstehen. Warum genau nochmal kann ich es nicht schaffen, mit weniger Worten und ohne geklaute Zitate aus Werken von Adorno und Horkheimer genauso eine wertvolle Meinung und Kritik auszudrücken wie ein DIN-A6-Flyer oder ein sechs Seiten langer CEE IEH-Artikel?
Offensichtlich soll mir als Musiker die Möglichkeit genommen werden, meine Wut und meinen Hass auf bestimmte Sachen auszudrücken. Mein Hass auf Sex, Alkohol und Drogen hält sich bis jetzt in Grenzen (es sei denn, es handelt sich um Sex in Thailand an Minderjährigen, den alkhoholisierten Schläger-Ehemann etc) – was mich ankotzt, sind Elend, Armut, Missbrauch, Gewalt, Gefühlskälte, Tyrannei, Zwang usw. Leider viiiiel zu politisch, um es auf ein Musikstück zu pressen.
Dass der Großteil meines Publikum wahrscheinlich entweder zu doof oder zu alkoholisiert ist, um meinen Gedankengängen zu folgen (oder mein Gesang einfach nur zu scheiße ist), da gehe ich ohne zu zögern mit. Warum das ein Grund sein soll, nur noch Stumpfsinniges von mir zu geben, kapiere ich nicht. Wird der CEE IEH-Newsflyer etwa nicht auch mit dem Gedanken gemacht, wenigstens eine Handvoll Leute zu erreichen, zum Nachdenken zu bewegen, von bestimmten – ich nenne es einfach mal so – Ideologien zu überzeugen? Schaut der Großteil nicht eigentlich nur in das Blättchen, weil die Ankündigungen für die nächste Konzert-Saison drinstehen? Mal ehrlich, wie groß ist die durchschnittliche Resonanz auf einen CEE IEH-Text?
Bemerkenswerte finde ich, dass am Ende des Artikels nicht etwa ein Songtext sondern ein T-Shirt zum beherzten Eingreifen von Sisyphos führt. Jaja, habe den Artikel schon verstanden, man kann ja die Texte der grunzenden brasilianischen Crust-Band nicht verstehen und hat auch keinerlei Möglichkeiten, sich diese vorher, nachher zu besorgen etc. Seltsam nur, warum ein stumpfes T-Shirt dann als Abschluss für einen „Ich hasse Musik und insbesondere Musik mit politische Texten“-Artikel gewählt wird. Fände dann einen Artikel à la „Ich hasse Merchandise“-Artikel für angebrachter, insbesondere, weil ich dann auch endlich meinen Dampf über Girlie-T-Shirts von Hardcore-Bands ablassen könnte.

Tiger


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last modified: 28.3.2007