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das Erste, 0.9k

„Bombenkrieg über Leipzig“ – „über Nacht alles vorbei!“


Es ist immer wieder erschütternd nachzulesen, wie in Deutschland die Verbrechen des Nationalsozialismus ausgeblendet und postwendend die deutschen Opfer ins Rampenlicht gerückt werden. In einer kleinen Leipziger Zeitung aus dem Musikviertel (Nr. 12) folgt auf einen Artikel über den Pleißemühlgraben einer über den „Bombenkrieg im Musikviertel“. Der reißerische Einstieg: „Zweiter Weltkrieg – Bomben über Leipzig“, kündigt das Unheil an. Es geht im gesamten Artikel um den „Feuersturm“ in der Leipziger Innenstadt, den „Bombenteppich“, der im Musikviertel nieder ging, die „Zerstörungen“, die die „Verwüstungen“ übertrafen, und – die Rhetorik der Neonazis bedienend – die „Vernichtung Dresdens“. Der Nationalsozialismus wird nicht nur im gesamten Artikel mit keiner Silbe erwähnt, er wird auch noch schön geschwiegen. Die Zerstörung des Gewandhauses durch Brandbomben wird folgenderweise kommentiert: „Hier gab sich die internationale Solistenelite die Klinke in die Hand – über Nacht alles vorbei!“ Über Nacht alles vorbei?
Die internationale Solistenelite hatte sich inklusive Gewandhauskapellmeister schon längst nicht mehr die Klinke in die Hand geben können. Als Bruno Walter, der seit 1929 das Gewandhausorchester leitete, am 16.03.1933 ins Gewandhaus wollte, um ein Konzert zu dirigieren, durfte er es auf Direktive der Polizei nicht betreten. Als Grund wurde von der Polizeidirektion die „Volksstimmung“ angeführt. Bruno Walter flüchtete nach Wien und 1938 schließlich in die USA. Auch der Operndirektor Gustav Brecher wurde 1933 abgesetzt, weil er Jude war. Ihn allerdings ließen die Nazis erst ziehen, als er im März 1933 eine Oper Richard Wagners zur Aufführung gebracht hatte, deren Scheitern man wahrscheinlich nicht provozieren wollte.

Gewandhausruine, 11.6k
Zeitung aus dem Musikviertel Nr. 12, Dezember 2005:
Gewandhausruine 1950

Richard Wagner wurde im Nationalsozialismus verehrt. Adolf Hitler hatte 1934 in Leipzig den Grundstein zu einem monumentalen Richard-Wagner-Denkmal gelegt. Das Großprojekt wurde dann, im Bau befindlich, während der Kriegsvorbereitungen auf Eis gelegt und prägt heute als Parkanlage das östliche Ufer des Elsterflutbeckens zwischen der Jahnallee und dem Palmengartenwehr. Dort sollte inmitten eines Aufmarschplatzes das zehn mal fünf Meter große Relief stehen, „um“, wie es während der Grundsteinlegung hieß, „den gewaltigen Kulturwillen des nationalsozialistischen Staates gegenüber der Welt zum Ausdruck zu bringen“.
Dem Leipziger Richard Wagner wurde die Ehre durch die Nazis unter anderem wegen seiner 1850 veröffentlichten antisemitischen Hetzschrift „Das Judentum in der Musik“ zuteil, in der er die Juden als „abstoßend“ und kulturlos charakterisiert und ihnen die „Beherrschung des öffentlichen Geschmackes“ andichtet und verübelt. In dieser Hetzschrift wird auch der drei Jahre zuvor verstorbene Komponist und berühmte Gewandhauskapellmeister Felix Mendelsohn-Bartholdy angegriffen, dessen Denkmal bis 1936 vor dem Gewandhaus stand. Im Mai jenes Jahres ging beim Stadtrat folgender von der NSDAP-Kreisleitung verfasster Brief ein: „Auf Grund verschiedener Beschwerden bei uns fühle ich mich verpflichtet, Sie darauf hinzuweisen, daß das vor dem Gewandhaus aufgestellte Denkmal des Vollblutjuden Mendelssohn-Bartholdy öffentliches Ärgernis erregt.“ Schließlich wurde noch im selben Jahr das Mendelssohn-Denkmal durch die Nazis entfernt. Aus Protest gegen den Abriss spielte das weniger Tage später im Gewandhaus gastierende Londoner Philharmonic Orchestra in Straßenbekleidung. Der Vorsitzende der Gewandhausdirektion, Hellmuth von Hase, trat, ebenfalls aus Protest, von seinem Posten zurück. Das New Yorker College for Music wollte das abgerissene Denkmal erwerben und bot dafür der Stadt Leipzig, wohl wissend um den Kult, bedeutende Reliquien Wagners an, wurde aber hartnäckig ignoriert. Die Deutschen wollten
Barnet Licht, 17.0k
Dieses Porträt des Musikers Barnet Licht entstand in Theresienstadt, wohin er 1945 deportiert wurde.
sämtliche Erinnerungen an Mendelssohn-Bartholdy auslöschen. Von dem Verbleib des Denkmals ist nur der Verkauf (150 Reichsmark) des Sockels an eine Steinmetzfirma aktenkundig. Auch die Kompositionen Mendelssohn-Bartholdys sollten zum Verschwinden gebracht werden. So hieß es 1937 in der in Leipzig herausgegebenen Zeitschrift für Musik: „Hans Stieber [...] hat im Auftrag der Städt. Theater zu Leipzig eine neue Schauspielmusik zu Shakespeares Sommernachtstraum geschaffen [...]“.
In den dreißiger Jahren gab es in Leipzig das beliebte Leipziger Mendelssohn-Trio. Es musste sich allerdings 1938 auflösen, als die Pianistin Hella Mandelbrot-Chitrik und der Geiger Leo Schwarz, der bis 1934 auch Gewandhauskonzertmeister war, Vorbereitungen für die Flucht aus Deutschland trafen. Aufgrund der politischen Situation flohen die Pianistin Sina Berlinski und ihr Mann, der Komponist Herman Belinski, aus Leipzig. Sie hatten Glück und schafften es rechtzeitig nach Paris und später in die USA. Im Gegensatz etwa zu Samuel Lampel, dem berühmtesten der Leipziger Synagogenkantoren, der Auschwitz nicht überlebte. Auch der Leipziger Musikverleger Henri Hinrichsen, der Gustav Mahler, Max Reger und andere Musiker in Leipzig förderte, starb in Auschwitz.
Barnet Licht überlebte trotz seines hohen Alters Theresienstadt. Vor 1933 hatte er mehrere Chöre in Leipzig dirigiert und sich als Leiter des Arbeiterbildungsvereins engagiert. Von ihm war 1915 die Initiative ausgegangen, Sinfoniekonzerte für Arbeiter im Gewandhaus aufzuführen, für die nur 60 Pfennig Eintritt zu zahlen waren. In dem damaligen Gewandhauskapellmeister Arthur Nikisch fand er einen Förderer und Mitorganisator dieser Veranstaltungen.
Arthur Nikisch ist anlässlich seines 150. Geburtstages in der Zeitung aus dem Musikviertel ein kleiner Text gewidmet – vom selben Autoren, der ein paar Seiten vorher die Zerstörung des Leipziger Gewandhauses bejammert und dabei den Nationalsozialismus schön schweigt. Als Nikisch-Experte des Musikviertels hätte er wissen können, dass eine Tochter von Arno Nikisch, die Sängerin Nora Schindler, im Zuge des Nationalsozialismus Deutschland und Europa mit ihrem jüdischen Mann gen Nordamerika verlassen musste, das sie unter anderem mit der Hilfe Bruno Walters erreichte. „Hier gab sich“ also nun wirklich „die internationale Solistenelite“, und überhaupt ein bedeutender Anteil der aus Deutschland geflüchteten Menschen, „die Klinke in die Hand“, nachdem die deutsche Volksgemeinschaft ihr Verfolgungs- und Vernichtungsprojekt ins Werk gesetzt hatte.
Die letzte Aufführung im ursprünglichen Gewandhaus hatte übrigens am 20. Februar stattgefunden – wenige Stunden vor dem Bombardement, das das Gewandhaus in Schutt und Asche verwandelte. Gespielt worden war, wie seit 1933 so oft, Musik Richard Wagners. Auch wenn es die Zeitung aus dem Musikviertel immer noch nicht wahrhaben will: dieser Abend des 20. Februars 1944 ist eine pointierte Allegorie auf die NS-Zeit, denn „die kämpferisch erneuerte Kultur sah schon am ersten Tag aus wie die Städte an ihrem letztem, ein Schutthaufen.“ (Theodor W. Adorno)

Hannes Gießler

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last modified: 28.3.2007