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LeserInnenbrief

Zum Artikel Das Erste: „I can’t relax in Banlieue“ im CEE IEH #127

Es ist schon bemerkenswert, wenn ein zweieinhalb Seiten langer Artikel in einem kritischen Heft, der sich mit den Riots in den französischen Banlieues auseinandersetzt, ohne den Begriff des Rassismus auskommt. Damit ist weniger gemeint, dass das Wort als solches fehlt. Vielmehr geht es darum, dass der Autor die Vorkommnisse nicht mal im Ansatz vor dem Hintergrund der rassistischen Struktur der Gesellschaft analysiert. Dass, und wie ein Begriff des Rassismus helfen kann, Fakten aufeinander zu beziehen und assoziative Bilder und Mutmaßungen zu vermeiden, soll im folgenden kurz ausgeführt werden(1).

Ein Element des Rassismus ist die soziale Ausschlusspraxis. Wenn man, so wie dieser Text es tut, von den herrschenden gesellschaftlichen Praktiken einmal absieht, die tagtäglich und auf verschiedenen Ebenen den rassistischen Ausschluss (re)produzieren, kann die migrantische Ausgrenzung tatsächlich selbstbestimmt erscheinen und ethnisch-religiös(2) erklärt werden. Aber auch nur dann.

Ein weiteres Element des Rassismus ist die Konstruktion homogener Gruppen. Zeitgemäß definiert über Kultur und Religion, oftmals kunstvoll arrangiert um die Topoi der Bedrohung und des Fundamentalismus: Man hört von Massenvergewaltigungen, vermutet Spuren der Drahtzieher der Anschläge vom 11. September in den Banlieues, wo fast ausschließlich Migranten, vorwiegend islamischen Hintergrunds auf einem Haufen leben und kann berichten, dass modern-westlich gekleidete Frauen mittlerweile sogar auch außerhalb der Banngebiete von arabischen Jugendlichen und Männern als Huren bezeichnet werden. All diese Dinge klingen tatsächlich sehr alarmierend. Und das in mehr als einer Hinsicht.
Zusammen mit der Gewaltverherrlichung, der verstörenden Aggressivität, Kriminalität und islamistischen Ideologie herrscht
Schaufensterpuppe, 6.3k
auch in diesem Text eine explosive Mischung vor, denn genau so wird der Mythos der bedrohlichen Fremden reproduziert.
Als Gegengewicht ein paar Fakten, die helfen können, von der Projektion deutscher Verhältnisse und Vorstellungen auf Frankreich streuben.
Die Grundlage des französischen Staatsbürgerschaftsrechts ist das Territorialprinzip und nicht das deutsche Herkunftsprinzip. Es kann also nicht einfach nur von in Frankreich ansässigen Marokkanern und arabischen Jugendlichen geredet werden, sondern man sollte auch mal häufiger das Wort „Franzosen“ probieren.
Auch Sprache, ein Erkennungszeichen par Exzellence der Fremdheit im deutschen Diskurs, funktioniert in Frankreich nicht. Die Behauptung, dass die meisten Jugendlichen in den Banlieues schlechtes Französisch sprächen, wirkt merkwürdig, wenn man sich vergegenwärtigt, dass auch in den Maghreb-Staaten Französisch gesprochen und gelehrt wird.
Last but not least, die Zusammensetzung der Bevölkerung der Banlieues sieht etwas anders aus, als von LVZ, Spiegel und nunmehr auch CEE IEH transportiert. Der migrantische Anteil der BeohnerInnen liegt selten über 50% und die arabischen MigrantInnen sind nicht homogen islamischen Glaubens. Neben Muslimen leben z.B. auch viele Juden und Jüdinnen aus dem Maghreb in den Banlieues.

Das Zusammenspiel der zwei genannten Elemente des Rassismus – rassistische Gruppenkonstruktion und Ausschlusspraxis – bringt eine soziale Wirklichkeit hervor. Ein anschauliches Beispiel der Wirkung auf Betroffene sei für Frankreich einem O-Ton der gescholtenen Indymedia-Seiten entnommen:

„Die Frage des Islams wird in den öffentlichen Diskursen immer wichtiger und mittlerweile ist es eine Angewohnheit, die Figur des Jugendlichen der Banlieues systematisch mit dem Islamischen, aber auch mit dem Terroristen gleichzusetzen. Und das was daraufhin passiert, ist sehr interessant: in den Stadtteilen beziehen mittlerweile alle den Diskurs des Angriffs auf den Islam auf sich selbst, auch die Jugendlichen, die keine Moslems sind, weil sie nicht gläubig sind oder sogar aus christlichen Familien stammen. Das ist ein Diskurs, der weit über die Religion hinausgeht. Der Islam ist zu einem Klassenelement geworden. Die Integration hat in Frankreich umgekehrt stattgefunden.“ (Omeyya Seddik, Bewegung der Immigration und der Banlieues (MIB): www.de.indymedia.org//2005/11/132145.shtml

Die Kritik islamistischer, antimoderner, sexistischer und antisemitischer Einflüsse in MigrantInnencommunities (und da nehmen wir die eben zitierte MIB nicht aus) ist richtig und notwendig. Und sie wird seit einiger Zeit auch erhoben. Erinnert sei, wieder auf Frankreich bezogen, an die Diskussionen, die mit der Konjunktur antisemitischer Ideologeme und Gewalttaten in den Jahren 2000 und 2002 einhergingen. Diese Auseinandersetzung ist immer auch eine Gradwanderung, die mißlingt, wenn sie auf der Grundlage rassistischer Wahrnehmungs- und Deutungsmuster stattfindet.
Deshalb, neben einigen richtigen Einzelfakten und einer berechtigten Kritik an einer unkritischen Unterstützung der Riots (die vor allem den sicher zahlreichen Leipziger SympathisantInnen der Moskauer Avantgarde der roten Jugend ins Stammbuch geschrieben sei) mangelt es dem Artikel zurückhaltend formuliert an Analysekraft. ...oder an der letzten Konsequenz.

Not amused / pas amusées,
Daniel & Doris (Ex-Antira Leipzig)

Anmerkungen

(1) Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit den Unruhen in Frankreich und der Diskussion darüber haben wir für die nächste Ausgabe des Incipito geplant.
(2) Kursiv gedruckte Formulierungen wurden dem Artikel entnommen.

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last modified: 28.3.2007