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review corner Film, 1.4k

Ein Tag ohne Mexikaner


Filmplakat, 18.7k
Los gringos van a llorar – Un día sin mexicanos
Regie: Sergio Arau,
USA/MX/ESP, 2004(1)
Prolog

„Ein Tag ohne Mexikaner“ – In dieses Szenario versetzt der Regisseur Sergio Arau die Bewohner des Sunshine-States Kalifornien in seinem 2004 erschienen Film Un día sin mexicanos. Der Film stieß in Mexiko auf rege Begeisterung, vor allem aber nicht ausschließlich bei Linken. Wenn man dem Film als kulturelles Produkt, samt den Umständen der Entstehung und der Rezeption, gerecht werden will, geraten neben der „werkimmanenten“ Ebene automatisch zwei andere Aspekte in den Blickpunkt: zum einen die reelle Beziehung zwischen Mexikanern und US-Amerikanern, nördlich und südlich des Rio Grande und des aus alten Landungsplattformen des ersten Golf-Krieges gefertigten Grenzzauns. Zum anderen das Alltagsbewusstsein bzw. die ideologische Ebene, also das Verhältnis und die Besonderheiten von Rassismus auf der einen und Anti-Amerikanismus mexikanischer Provenienz auf der anderen Seite. Der vorliegende Text verlässt also an einigen Stellen die gängige Form der Rezension und nimmt den Film quasi als Sprungbrett zu einer Analyse mexikanischer und US-amerikanischer (speziell der Staaten entlang der mexikanischen Grenzen im Norden, also Kalifornien, New Mexico, Arizona und Texas)Verhältnisse.

How do you make the invisible visible? You take it away...

Auf den ersten Blick erscheint das Thema des Filmes simpel und entbehrt nicht einer gewissen Bauernschläue: Was wäre, wenn alle MexikanerInnen bzw. Latinos/as plötzlich aus Kalifornien verschwänden? Der Gringo und die Gringa (so die alltägliche Bezeichnung für alles, was auf den ersten Blick nicht mexikanisch aussieht) würden merken, was sie an ihren Nachbarn im Süden haben und alles wäre in Butter. Auf diese simple Formel lässt sich ein ganzer Teil des Filmes herunterbrechen. Nachdem in postmoderner Art und Weise videoclipartig eine halbe Stunde lang in die sozialen Verhältnisse im Sunshine-State eingeführt wird und alle handelnden Personen vorgestellt sind, verschwinden plötzlich alle Latinos/as (so die alltägliche Bezeichnung für alles, was irgendwie „lateinamerikanisch“ aussieht, unabhängig von der tatsächlichen Nationalität) spurlos aus ihrer gewohnten Umgebung. Senator Abercrombie (John Getz) fehlen das Hausmädchen und die illegalen Arbeiter, die ihm die Villa tapezieren sollen. Den Autowaschanlagen fehlen die Wäscher, der umfangreichen Agrarindustrie fehlen die PflückerInnen, der Müll bleibt auf der Straße. Einem Fernsehsender fehlt der Quoten-Latino und einer amerikanischen jungen Frau ihr Lebensgefährte und mit ihm seine Bandgenossen, die in der heimischen Garage den Mexican-Rock pflegen. Die Grenzpolizisten stehen plötzlich ohne Arbeit da und selbst der Obdachlose auf der Straße vermisst seine mexikanischen Leidensgenossen. Einzig und allein die Reporterin Lila Rodriguez (Yareli Arizmendi) bleibt zumindest vorerst, obwohl sie optisch und von ihrem sozialem Umfeld her Mexikanerin ist, und wird der medial inszenierte Schlüssel zum großen Rätsel. Ausgehend von diesem Rahmen entwickelt der Regisseur einige Nebenstränge der Handlung. So z.B. die intime, aber geheimgehaltene Beziehung zwischen einem mexikanischen Moderator und seiner US-amerikanischen Kollegin. Oder die eigentümliche Tatsache, dass die Tochter von Mary Jo Quintana (Maureen Flannigan) nicht verschwindet, obwohl sie von allen für die Tochter von Mary Jos mexikanischem Lebensgefährten Roberto Quintana (Eduardo Polomo) gehalten wird – die Auflösung wird ein verheimlichter One-Night-Stand sein geben. Ähnlich das Verschwinden des Vize-Senators, der doch eigentlich american by birth (so schreibt es die Verfassung vor) sein müsste – offensichtlich ein „mexican in the closet“.(2) Letztlich dreht sich der Film um diese verschiedenen Schauplätze, während die Frage: „Warum bleibt Lila?“ bis zum Ende im Mittelpunkt steht und einen wichtigen ideologischen Fixpunkt des Filmes darstellt.

Der Radfahrkünstler, 40.4k

Cinematographisch spielt Arau mit den Möglichkeiten des Films: ausgedehnte Aufnahmen der ausgestorbenen Stadt, unterlegt mit einzelnen hängenden Gitarrenakkorden (abgesehen von diesem Leitmotiv dominieren vor allem zweitklassige Pop- und Rocksongs), die zweite Hälfte der Handlung wird nur noch in Form von Fernsehberichterstattung dargestellt und auch sonst lässt der Regisseur kaum ein Mittel des postmodernen Kinos aus (Film im Film, mehrere Screens gleichzeitig, in flippiger Schrift eingeblendete Nebeninformationen etc.). Dem ganzen liegt eine frühere Mockumentary Sergio Araus und seiner Frau Yareli Arizmendi zugrunde. Mit Mockumentary – ein Wortspiel aus to mock (verspotten) und documentary – bezeichnet man eine spöttelnde-satirische Art des Independent-Doku-Kinos: quasi eine Dokumentation, die irgendwie nicht richtig ernst gemeint ist (Oder doch?). Einerseits präsentiert sich der Film durchaus phantastisch, indem er bspw. die Latinos/as wirklich spurlos verschwinden lässt und an die südliche Grenze zu Mexiko einen symbolischen Nebel stellt, anderseits beansprucht er doch so etwas wie politische credibility. Jede Nebenhandlung spricht einen politischen und sozialen Realprozess an, was teils sympathisch mehrdeutig, teils aufdringlich offensichtlich geschieht. Arau überspitzt die existenzielle Situation der US-Amerikaner, wenn er neben den Latinos/as auch Telefon- und Internetverbindungen verschwinden lässt und die US-Amerikaner in eine schier ausweglose Situation des sozialen und ökonomischen Amargeddons versetzt. Gewollt und ungewollt nimmt er alle Klischees auf, die man den US-Amerikanern zuschreiben kann und verlässt dabei manchmal allzu leicht die Ebene, auf der ein Klischee auch als solches verstanden und gezeigt wird, sondern begibt sich ins ressentimentbedienende Ideologische. Auch das Ende des Films, das im Laufe dieses Texte zum Leidwesen der zukünftigen Zuschauer verraten werden muss, lässt zu wünschen übrig. Der Höhepunkt ist so illusorisch, wie es sich auch für eine satirische Komödie (was der Film vermutlich keineswegs sein will) nicht gehört. Aber nicht nur dass sich Gringos/as und Latinos/as in der Erkenntnis ihrer beiderseitigen Abhängigkeit in die Arme fallen und endlich wissen, was sie aneinander haben (tolle Musik, Liebhaber, Kollegen, leckere Tacos, billige Arbeitskräfte, ein besseres Leben...), erweist sich als problematisch.
Der Film nimmt auch ein gutes Stück mexikanische Identitätspolitik im Kontext der Immigration in die USA auf, die sich besonders in der Rolle der Reporterin Lila kristallisiert. So erfährt man eben am Ende nicht nur, wie ein Tag ohne Mexikaner aussieht, sondern auch was es überhaupt bedeutet, in den USA MexikanerIn zu sein.

Mexikanische und us-amerikanische Realität

Wie vermitteln sich nun die realen Verhältnisse in Mexiko und den USA mit der im Film inszenierten und ästhetisierten Realitäts-Folie? Um am Schnittpunkt von beidem zu beginnen: Da ist zum einen die Grenze im Norden Mexikos zu den Vereinigten Staaten von Amerika. 3100 km lang zieht sie sich durch Gebirge, Wüstengebiete und entlang des Rio Bravo. Für viele Mexikaner ist es der „Eiserne Vorhang“ ihrer Zeit und die ultimative Trennlinie zwischen arm und reich, zwischen Moderne, american dream und dem, was Mexiko davon abbekommt. Man schaut mit Hass, Neid und Sehnsucht auf und über die Grenze, eine ähnliche Ambivalenz, wie wir sie im lateinamerikanischen Antiamerikanismus wiederfinden werden. Die mexikanischen Grenzstädte wie Tijuana oder Ciudad Juarez sind die dreckigen Kinder Mexikos, die man nur ungern erwähnt, wo sich Maquilas(3) befinden, Prostitution, Schmuggel und Drogenhandel blühen und man meint, alles Schlechte des Kapitalismus zu finden. Trotzdem oder gerade deswegen immigrierten bspw. im Jahr 2000 ca. 173.000 Menschen in die USA.(4) Wer es legal schafft, hat Glück und kann sich auf den steinigen Weg durch die sozialen Schichten machen, der meist ganz unten beginnt und oft dort endet. Illegale Einwanderer nennt man auf der US-amerikanischer Seite aliens, Fremde, quasi Außerirdische. In den neunziger Jahren militarisierte man unter George Bush Snr. die Grenze massiv, und der Rechtsraum für die Border-Patrol wurde unüberschaubar.(5) So konnte der Grenzpolizist Michael Elmer 1992 des Mordes an dem mexikanischen Arbeiter Miranda Valenuela freigesprochen werden, da er in Ausübung seiner Pflicht gehandelt hatte. Valenuela wurde von Elmer erst angeschossen und dann mit dem Gewehrkolben erschlagen. Ein Kollege des Grenzpolizisten erstattete die Anzeige. Die meisten Leute, die an der Grenze ums Leben kommen, erfrieren im Gebirge oder ertrinken im Rio Bravo. Falls das nicht passiert, bleibt immer noch die Möglichkeit, auf amerikanischer Seite einer privaten Bürgerwehr oder rassistisch-nationalistischen Hate-Groups in die Hände zu fallen. Im Film erscheint ein Farmer, dem nach dem Verschwinden fast alle Arbeiter fehlen. Sein Sohn ist Teil einer rechten Anti-Immigranten Gruppe und Sergio Arau entwickelt hier als Nebenhandlung ein Familien-Drama im Kleinen, das mit dem notwendigen Bruch und der Enterbung endet. Auch bei der Darstellung der Grenzpolizisten verfährt Arau ähnlich. Immer wieder kommen zwei, nicht gerade mit Intelligenz gesegnete, Border-Patrols zu Wort, die zwischen ihren rassistischen Ressentiments und der platten Erkenntnis, dass hier nicht nur ihre Jobs auf dem Spiel stehen, sondern dass eigenes Fehlverhalten vielleicht auch zu dem rätselhaften Zustand beigetragen haben könnte, mehr oder weniger komische Eiertänze aufführen. In ihrer Freizeit spielen sie ein Computerspiel, bei dem es darum geht, aliens wieder zurück über die Mauer zu schicken, und mit den Kindern spielen sie „Indianer jagen“. Am Ende geloben sie Besserung, und man hat schon vergessen, wie sie am Anfang des Filmes rassistische Parolen verzapfen.

Lachender Schimpanse, 17.8k

Die Vereinigten Staaten von Amerika sind und bleiben ein Einwanderungsland, dem sich prinzipiell jeder über Artikulation des politischen Willens statt über die Anpassung an Leitkultur anschließen kann. Die Grundlagen für die heute mit Abstrichen immer noch geltenden Einwanderungsregelungen liegen im „National Origins Act“ von 1924, dem „Nationality Act“ von 1952 und seinem zentralen Ammendent 1965. Letzteres schafft die Quotenregelung nach Nationalität ab und ersetzte sie durch ein 7-Stufen System bei der Vergabe von Einwanderungsvisa. Verbleibende Quoten wurden erhöht und formen die amerikanische Gesellschaft noch heute. Mit den 90ern begann die Politik der „offene Vorder- und der geschlossenen Hintertür“, also legale Immigration weiter fördern, aber gegen die illegale Immigration härter vorgehen. Zu weiteren Veränderungen im Einwanderungsrecht hat der Beschluss der NAFTA (North American Free Trade Association) geführt, ein Freihandelsverbund, der 1994 mit den USA, Kanada und Mexiko als Initiatoren in Kraft trat. Die Anschläge des 11.Septembers, sowie der darauf folgende War on Terror haben vieles davon durcheinander gewirbelt. Seit dem sind die Einreisebeschränkungen und die Kontrollen härter und der Patriot Act brachte die Auswirkungen auf die bürgerlichen Freiheiten endgültig in die öffentliche Diskussion. Dabei changiert man zwischen Sicherheitsbedenken und der inzwischen Konsens gewordenen Einsicht in die ökonomische Abhängigkeit von migrantischen Arbeitskräften. Im Jahr 2000 lag die Zahl an legalen Immigranten bei 849.807, wobei der größte Teil aus Mexiko gefolgt von China kam. Die Zahl der sich illegal in den USA aufhaltenden Immigranten wurde 2001 zwischen 8 und 9 Millionen geschätzt, mit einem jährlichen Anstieg von 500.000 Menschen. Auch hier ist Mexiko an vorderster Stelle. Im Jahr 2000 bestand die amerikanische Bevölkerung aus rund 28,4 Millionen nicht in den USA geborenen Menschen. Gut die Hälfte sind in Lateinamerika geboren, womit sie als ethnische Gruppe ein nicht unwichtiges Element im demokratischen Prozess spielen, wenn man davon ausgeht, dass migrantische Schichten immer noch bspw. ein bestimmtes Wählermuster darstellen. Dass dem nicht so ist, musste man in der letzten Präsidentschaftswahl feststellen. Während man in Mexiko auf die Chicanos/as als Zünglein an der Waage zum Sturz Georg W. Bushs hoffte,(6) bestand der Wahlkampf des amtierenden Präsidenten unter anderem in der (erfolgreichen) Integration von Minderheitengruppen.(7) Von den Latinos/as wählten überwältigende 42% Georg W. Bush und auch andere Minderheitengruppen wählten differenzierter, als man sich das im demokratischen Lager gedacht hatte. Ironie der Geschichte, so stellt Michael Werz fest, die einzigen Minderheitengruppen, die geschlossen mehrheitlich gegen Bush wählten: Juden und Araber.(8)
Was treibt die Mexikaner nun zu Tausenden in die USA? Das nachrevolutionäre Mexiko konnte sich als Land der nachholenden Modernisierung mit verstaatlichter Ölförderung(9) bis in die 80er Jahre eines relativen wirtschaftlichen Aufschwungs erfreuen. Mit der großen Wirtschaftskrise 1982 entfernte man sich von dem Modell eines kooperativistischen Staates und öffnete sich für ausländische Investitionen und Freihandel und suchte gleichzeitig den Anschluss an die USA. In dieser Zeit begann die Zerstörung des Agrarsektors, die Industrie in den Maquilas boomte, und große Teile der Bevölkerung wurden zunehmend aus dem Reproduktionsprozess verdrängt. Die einst im Norden konzentrierten Maquilas, die hauptsächlich von ausländischen Unternehmen unterhalten werden, gibt es heute im ganzen Land. Im Vergleich zum Rest Lateinamerikas ist die Konzentration an Maquilas in Mexiko am größten. 70% der Arbeiter sind Frauen, es herrscht ein ständiges Rotationssystem, und auf Arbeitskämpfe wird mit Schließung und Verlagerung an einen anderen Ort reagiert. Im Zuge der NAFTA verstärkte sich die Ausrichtung der Wirtschaft auf die USA, was auch die Maquilas förderte. 1992 kamen die Importe zu 62% aus den USA und 68,8% der Exporte gingen dorthin.(10) Trotzdem steigt seit der NAFTA die soziale Ungleichheit in Mexiko. Förderung des Sicherheitsapparates,(11) der Polizei und Armee wurden mit Kürzungen im Sozialsystem bezahlt. Schon in der letzten Legislaturperiode der damaligen Regierungspartei PRI wurde das Sozialsystem zugunsten eines öffentlich-privaten Modells reformiert, was dessen Effektivität nicht steigerte. Der amtierende Präsident Vicente Fox baute das IMSS (Mexikanisches Institut für Soziale Sicherheit) hinsichtlich einer hochspezialisierten- und differenzierten Unterstützung aus (wobei der Fokus auf Heilung statt auf Prävention liegt), die großen Bevölkerungsschichten entweder nicht zugänglich ist oder sie schlichtweg nicht betrifft.(12) Lediglich eine Minderheit der Lohnarbeiter bekommt eine Rente (17,7%), weil sich die Mehrheit (63,3%) der arbeitenden Bevölkerung ohne Zugang zu Sozialleistungen im informellen Sektor verdingt, der nach Jahren sinkender Löhne und steigender Arbeitslosigkeit ins Unüberschaubare gewachsen ist.(13) Das Sozialsystem deckt damit immer weniger Menschen ab und überlässt gezwungenermaßen einen Großteil der Bevölkerung sich selbst. Auch in Mexiko werden die Reformen mit demographischem Wandel und dem Anschluss an die Erste Welt gerechtfertigt, der Auslieferung der Arbeitskraftbehälter in die kalten Hände des Marktes bedeutet. Doch selbst der Zugang zu einem Arbeitsplatz muss noch nichts von den wenigen Ressourcen garantieren. 2002 erhielten 9,4% der Arbeitnehmer überhaupt keinen Lohn, 16,2% weniger als den Mindestlohn und davon hängt letztlich der Zugang zu Rente, Krankenversicherung etc. ab. Auch in der mexikanischen Variante der Krisenverwaltung am Schnittpunkt zwischen Zentrum und Peripherie zählt man auf den (vermutlich ausbleibenden) wirtschaftlichen Aufschwung und propagiert weiterhin, dass es zukünftig auf Eigenverantwortlichkeit und „Selbst-Kapitalisierung“ ankommt.(14) Vor diesen Tatsachen, die strukturell und in ihren Auswirkungen denen in westlichen Gesellschaften ähneln, kapituliert der „tercer-mundismo“, das übersteigerte Bewusstsein der Dritten Welt, das sich, weil verortet in der Peripherie, in einer bevorteilten Position beim Erkennen der Widersprüche glaubt. Man ist schon weiter drin in der Moderne, als man wahrhaben will. Die Menschen, die im Herbst letzten Jahres für eine Reform des Sozialsystems und im Namen des immer mehr marginalisierten IMSS auf die Straße gingen, taten dies eben unter den genannten Gesichtspunkten: Angst, dass auch der knappe Lohn noch ausbleibt und die nächste Lungenentzündung das Ende bedeutet, weil man an der Kasse des Krankenhauses die erforderliche Zahlung im Voraus nicht erbringen kann.

What’s left of identity?

Sergio Arau kann und will nicht all diese Gedanken in seinen Film einbringen. Sein Film zielt in erster Linie darauf ab, in satirischer Art und Weise die wirtschaftliche und soziale Abhängigkeit von US-Staaten wie Kalifornien von ihren lateinamerikanischen Bewohnern zu demonstrieren. Chicano/as besetzen die Billigjobs, und noch immer ist es eine kleine Minderheit, die tatsächlich den Sprung in die Mittelklasse oder weiter schafft. Für viele legale und illegale MigrantInnen bedeutet der Gang über die Grenze meist der Weg vom Regen in die Traufe. Dass die Mehrheit trotzdem die Traufe vorzieht, verweist auf die Anziehungskraft, die das amerikanische Gesellschaftsmodell trotz seiner offensichtlichen Imperfektion immer noch darstellt. Arau unterschlägt aber, dass die Integration der Minderheiten in die USA eben doch funktioniert und aus Einwanderern nach und nach US-Bürger macht, ohne dass diese ihre kulturelle Identität aufgeben müssen. Arau bemüht sich darum, alle Gesellschaftsbereiche abzudecken, in denen Latino/as irgendwie vertreten sind, denn so ganz geht die Rechnung, dass für die Chicano/as lediglich die unteren Schichten bleiben, eben doch nicht auf. 20% aller Lehrer in Kalifornien sind lateinamerikanischer Abstammung, und auch die im Film genannten Beispiele von Latino/as in der Fernseh- und Filmindustrie, der Politik etc. sind nicht aus der Luft gegriffen. Was dem Film aber letztlich eine besondere Note gibt, ist die Verflechtung von mexikanischer Identitätspolitik mit lateinamerikanischem Antiamerikanismus, dessen Denkweise Arau nicht entkommt und es vielleicht auch nicht will. In diesem Zusammenhang gewinnt das Finale des Filmes auch erst seine Bedeutung. Zur Erinnerung: Die Reporterin Lila Rodriguez bleibt als einzige Latina vom großen Verschwinden verschont. Nach einem Autounfall landet sie im Krankenhaus, wo sie medial überwacht als der große Schlüssel zum Rätsel inszeniert wird. Während der ganzen Zeit ist ihre Tante Gigi bei ihr, die ursprünglich aus Armenien stammt. Tante Gigi kennt das dunkle Geheimnis, das zumindest vorerst des Rätsels Lösung darstellt. Lila Rodriguez ist ebenfalls ursprünglich Armenierin, allerdings wurde ihr das verheimlicht. Mit Gigi immigrierte Lila in die USA, wo sie von einer befreundeten mexikanischen Familie adoptiert wurde und fortan in einem mexikanischen Traditionszusammenhang in einem Latino-Viertel in Los Angeles aufwuchs. Letztlich kommt das Geheimnis ans Licht und stürzt Lila in eine tiefe Identitätskrise, die vor laufenden Kameras ausgetragen wird. Ist das Verschwinden also genetisch bedingt? Sind alle „biologischen“ Latinos plötzlich von der Bildfläche verschwunden? Diesen Ausweg lehnt Arau ab und gibt der Geschichte eine entscheidende Wendung. In einem langen Monolog legt Lila dar, dass ihre biologische Abstammung keine Rolle für ihre Identität als Latina spielt. Was sie gelebt hat, spielte sich innerhalb mexikanischer Traditionen am Rande L.A.‘s ab, unter Mexikanern und Mexikanerinnen, kurz: in einem mexikanischen Traditionszusammenhang. So kann sie unter Tränen sagen: „My heart is mexican.“ Und was passiert? Sie verschwindet. Am Ende fehlen alle, die sich als Latinos/as fühlen. Nicht die Geburtsurkunde zählt, so legt Arau nahe, sondern die Kultur, auch wenn er natürlich unterschlagen muss, ob sich kulturelle Identität herrschaftlich durchsetzt oder einigermaßen autonom. Kulturalismus? Vielleicht. Im Zusammenhang des Filmes zielt dieser Punkt aber in eine andere Richtung – dass es in der amerikanischen Gesellschaft möglich ist, AmerikanerIn zu sein, ohne seine kulturelle Identität prinzipiell aufgeben zu müssen. In Kalifornien ist dies praktizierte Realität, und die lateinamerikanische Bevölkerung ist aus dem täglichen Leben nicht wegzudenken, ob sich dies bei der verbreiteten und beliebten lateinamerikanische Küche ausdrückt oder in der Karriere von Benicio de Toro. Warum verschwindet dann aber die Tochter von Mary Jo nicht (man erinnere sich: Vorstadtsiedlung, die Lehrerin Mary Jo ist mit einem Mexikaner verheiratet, der in einer Mexican-Rock-Band spielt und hat zwei Kinder, davon eine Tochter angeblich von ihrem Latino-Gatten)? Im Film wird das Rätsel so aufgelöst, dass die Tochter eben eigentlich nicht von Roberto Quintana ist, sondern vom weißen Nachbarn, mit dem Mary Jo ein One-Night-Stand verbindet. Wird hier hinterrücks doch wieder der Unterschied zwischen „richtig mexikanisch“ und „nur halb mexikanisch“ eingeführt? Reicht das Aufwachsen in einer zweisprachigen Familie mit vielen Latino/a Freunden und der zusätzlichen Verbindung über die Musik nicht aus oder ist man schon zu angepasst und zu assimiliert ins „Unmexikanische“? Offensichtlich ist das so, und es stellt eine gar nicht so unverständliche Inkonsequenz in Araus dar, wenn man den Film im Hinblick auf den lateinamerikanischen Antiamerikanismus betrachtet.

Lateinamerikanischer Antiamerikanismus

Die These dieses Beitrages war unter anderem, dass sich im Film gewollt und ungewollt Fragmente der Ideologie des Antiamerikanismus lateinamerikanischer Provinienz durchsetzen. Im ersten Schritt ist lateinamerikanischer Antiamerikanismus von dem westlicher Herkunft strikt zu unterscheiden. Für die Mehrheit der LateinamerikanerInnen steht am Anfang ein konkret erfahrenes Herrschaftsverhältnis. Allein dieser Fakt bildet auf einer basalen Ebene einen Unterschied ums Ganze, da kaum ein Europäer, der sich heute in antiamerikanischen Ressentiments ergießt, jemals in eine handgreifliche Beziehung zu seinem Nachteil mit den US-Amerikanern oder ihrer Politik geraten ist. Für Lateinamerika und Mexiko sieht das anders aus. Schließungen von Betrieben, Rauswurf aus Arbeitsverhältnissen und das Außerkraftsetzten des mexikanischen Arbeitsrechtes in von US-amerikanischen Konzernen geführten Maquilas spielen sich vor den Augen der Menschen und zu ihrem konkreten Schaden ab. Eine angemessene Kritik kann und muss an diesen Punkten ansetzen, und die immer noch geltende Rede von „Lateinamerika als Hinterhof der USA“ entsprechend angreifen. Es ist allerdings auch hier zu sehen, wie sich diese Argumentation verselbständigt und eben zur verdinglichten Ideologie wird. Hier erfolgt der unbewusste Schulterschluss mit der Linken westlicher Provenienz und ihren Aufrechtstehender Schimpanse, 30.7k inzwischen zur Genüge dargestellten Untiefen. Ebenfalls auffällig ist, dass auch in Mexiko und anderen Teilen Lateinamerikas diese Verbindung mit entschieden mehr Verve von Linken vollzogen wird. Treibende Kraft sind weniger die Bauern auf dem Lande, die mit Stöcken und Steinen ihre Dörfer verteidigen, sondern der Radikalismus der diffus strukturierten Linken vor allem in der Hauptstadt, der den Übergang von Kritik zur Ideologie vollendet, auch wenn angemerkt werden muss, dass bestimmte Elemente des Antiamerikanismus in allen Teilen der Bevölkerung tief verankert sind. Im Alltag der Hauptstadt Mexico D.F. ist dies allgegenwärtig. Wer nicht mexikanisch aussieht, fällt sofort unter den Verdacht, Gringo oder Gringa zu sein. Anders als in den westlichen Gesellschaften geht das antiamerikanische Ressentiment hier direkt ans Subjekt, ohne das sonst verbreitete Lippenbekenntnis, man habe ja nichts gegen die Amerikaner an sich, aber ihre Politik... An der Wand des noch aus dem Studenten-Streik besetzten Hörsaals „Auditorio Che-Guevara“ prangt in großen Lettern „Yanqui go home!“ und „Solidaridad con el pueblo iraqui!“ – Solidarität mit dem irakischen Volk. Bei Demonstrationen verbrennt man US-amerikanische Flaggen und den Präsident Vicente Fox lehnt man nicht etwa wegen seiner Politik ab, sondern aufgrund seines früheren Vorsitzes bei der Coca-Cola-Company. Immer wieder taucht die Rede von den „verrückten“, „geld-geilen“ und „kulturlosen“ Amerikanern auf, aber auch hier funktioniert die Ideologie nicht ohne die Ambivalenz von Abscheu und Faszination. Zwar dominiert spanisch-sprachige Musik in Radio und Fernsehen, aber keine Künstler ziehen mehr Leute als „un-mexikanische“ Acts wie Sean Paul, The Cure oder Britney Spears. Besonders Jugendliche führen ein schon fast schizophrenes Doppelleben zwischen einerseits Faszination für die amerikanische Kultur und anderseits antiamerikanischem Ressentiment und dem Hochhalten des „besonders Mexikanischen“. Auch in Lateinamerika findet der Antiamerikanismus ein wichtiges Schlüsselelement im „kleinen Satan“ Israel.(15) Bei jeder Gelegenheit werden der Aufstand der Zapatisten in Chiapas, der Widerstand des irakischen Volkes und die Unterdrückung der Palästinenser durch Israel in einem Atemzug genannt. Ein solcher Vergleich über den Schlüssel des Antiamerikanismus ist nicht nur hirnrissig, sondern entbehrt auch jeder faktischen Grundlage. Nicht nur, dass unter völlig verschiedenen Bedingungen für verschiedene Ziele gekämpft wird, auch lässt sich gerade bei diesem Beispiel die Rolle der USA kaum vergleichen. Wolf Dieter Vogel und Mary Kreutzer zitieren die Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchú, die bei einer Demonstration in der Hauptstadt verlauten ließ, dass nach dem Irak Chiapas wegen seiner Ölvorräte bombardiert werden könne. Auch wenn der Aufstand der Zapatisten ausländischen Investoren keinesfalls genehm ist, warum die USA ausgerechnet die Region bombardieren sollen, über deren Förderung sie seit Jahren im „Plan Puebla Panama“ und dem „Biokorridor Mesoamerika“ beraten, bleibt rätselhaft. Ein ähnliches Beispiel findet sich in der Tageszeitung El sol de Medio Día, wo José Carlos Robles am 16.4.2003 verzapfen konnte: „George Bush, der Schlächter, hat die Drecksarbeit gemacht, die ihm Ariel Sharon, der Jude, aufgetragen hat.“ Vergleiche mit dem Holocaust im Bezug auf amerikanische oder israelische Politik sind ebenfalls keine Seltenheit,(16) aber es überrascht auch keineswegs, dass das folgende Zitat zum Nahostkonflikt von dem deutschen Journalisten und Co-Autoren eines Buches mit dem Lieblingslinken Noam Chomsky Heinz Dieterich Steffan kommt. Am 4.10.2003 schrieb jener in El Universal: „Die israelische Regierung unter Sharon verwandelt Palästina in ein neues Konzentrationslager.“(17)

Bildungsfernsehen für wen?

Nicht alle Elemente des Antiamerikanismus gehen zu gleichen Teilen oder überhaupt in den Film ein. Nichtsdestotrotz ist der Film entlang von Klischees strukturiert, die teilweise als solche dargestellt werden oder aber eher unbewusst den Weg ins Skript gefunden haben. Da haben wir die Amerikaner, die aus allem ein Geschäft machen (im Film werden T-Shirts vom „Disappearance-Day“ verkauft) oder die Medien, die skrupellos aus allem eine Story machen (dieser Eindruck entsteht darüber, dass der ganze zweite Teil des Filmes über die Fernsehberichterstattung dargestellt wird und über die eher unsympathische Figur des Programmdirektors). Überhaupt tendiert der Film dazu, die US-Amerikaner lächerlich zu machen, was beim heimischen Publikum natürlich auf rege Begeisterung stößt. Senator Abercrombie versucht krampfhaft, ein paar Brocken Spanisch zu lernen, um die hispanoamerikanische Bevölkerung zur Rückkehr zu bewegen und lässt dabei kein Fettnäpfchen aus. Ein wirrer Verschwörungstheoretiker sieht in der Form eines Sombreros ein UFO und ein verrückter Wissenschaftler vertritt die These, beim Verschwinden der Latinos/as sei eine amerikanische Wunderwaffe zum Einsatz gekommen, die quasi nach den Genen aussortieren kann. Anstatt so etwas aber wenigstens als Witz stehen zu lassen, lässt sich Arau dazu hinreißen, einen Militär eben diese These zu bestätigen („Der Mann hat für uns gearbeitet.“), und so erscheint die amerikanische Politik ein weiteres Mal als riesige Verschwörung. Daraus resultiert auch das Vorhaben der Regierung, Lila nach den Genexperimenten, die man mit ihr durchführt, umbringen zu lassen, was dem Film eine kleine dramatische Note gibt. Aus der amerikanischen Gesellschaft kommt kaum ein schlaues Wort, wenn man einmal vom Chef einer Farm absieht, der eine tiefe Freundschaft zu seinem mexikanischen Vorarbeiter pflegt und auch ansonsten der einzige ist, der um die gegenseitige ökonomische und kulturelle Abhängigkeit weiß. Während sich die Mexikaner diesem Mann vielleicht noch über das Handwerk verbunden fühlen können, legt Arau die einzigen schlauen Worte, die das Verhältnis zwischen den Kulturen, sowie den Rassismus thematisieren, entweder einem arabischen Professor, der in der Berichterstattung zu Wort kommt, oder der Reporterin Lila in den Mund. Das an sich ist weder problematisch noch sonst etwas, es erweckt über den Kontrast der einfältigen Amis lediglich den Eindruck, dass wahre Aussagen eben nicht von den Amerikanern selbst, nicht aus der Mitte der Gesellschaft kommen können.
Letzten Endes ist der Film Bildungsfernsehen für Mexiko und die USA und spricht genau die Punkte an, von denen man sich beim heimischen Publikum Rückhalt und beim US-amerikanischen Publikum Besserung erhofft. Den US-Amerikanern will man zeigen, dass an Mexican-Rock, an Burritos und Echilladas auch Menschen dranhängen, von denen sie auf die eine oder andere Weise abhängig sind. Den Mexikanern bestätigt man nachträglich ihre Ressentiments und fügt eine paternalistische Note hinzu. Wenn die Bewohner von Kalifornien am Ende des Films endlich wissen, was sie an ihren Latino/as haben und sich alle in die Arme fallen, soll man denken: „Vielleicht können sie ja, wenn sie wollen...“
Weil aber kaum ein Zuschauer dieses Ende für bare Münze nimmt, ist der Film eben doch hauptsächlich Identitätspolitik. Die während des Filmes eingeblendeten Fakten über die Demographie Kaliforniens etc. sind vermutlich dem Großteil beider Zielgruppen neu, allerdings soll das eben zu völlig unterschiedlichen Resultaten auf beiden Seiten führen: Besserung auf der einen, mexican pride auf der anderen Seite. Die Reaktion auf den Film, sollte er in die deutschen Kinos kommen, ist abzusehen. Unterhaltsam ist der Film allemal und sei dem kritischen Beobachter bei einem Taco oder wahlweise Burrito hiermit empfohlen.

Robert Z. aka Robercio-Rodriguez de la Mancha

Fußnoten

(1) „Die Gringos werden heulen!“ – Übers.RZ.
(2) Umgangssprachliche Bezeichnung für Mexikaner, der seine Herkunft verheimlicht oder verheimlichen muss.
(3) Maquilas sind sog. freie Produktionszonen, in denen das mexikanische Arbeitsrecht außer Kraft gesetzt und die ArbeiterInnen (mehrheitlich Frauen) demzufolge unter schlechten Arbeitsbedingungen zu einem Hungerlohn ihr prekäres Dasein fristen müssen.
(4) Alle Angaben US Census Bureau 2001.
(5) Einen Überblick über Vorkommnisse innerhalb und außerhalb des Rechtsrahmens findet sich in einer Solidaritätserklärung auf folgender Website: http://www.derechoshumanosaz.net/solidarity_english.htm
(6) Bárcenas C./Orozco G.: Hispanics before the 2004 Elections. In: Voices of Mexico
68/September 2004.
(7) Werz, M.: Wie die Latinos Bush gerettet haben. In: Spiegel Online 5.11.2004.
(8) Ebd.
(9) Die Ölindustrie um die Organisation PEMEX wurde 1934 verstaatlich. Das Datum der Verstaatlichung, der 18.März, ist seit dem offizieller Feiertag.
(10) Alle folgenden Angaben aus dem Buch: Gruppe Demontage: Postfordistische Guerilla – Vom Mythos nationaler Befreiuung. Münster 1999. S.83.
(11) Die momentane Regierungspartei PAN (Partido de la Acción Nacional) schaltet regelmäßig Werbespots, in denen mit 500 neuen Polizeiwagen, neuen Spezialeinheiten oder dem Kampf gegen die organisierte Kriminalität geworben wird.
(12) Fernández,, G.L.: Five Notes about Health Care in Mexico. In: Voices of Mexico 68/September 2004.
(13) Ramírez López, B.P.: The Impact of Mexico’s Social Security Crisis. In: Voices of Mexico 68/September 2004.
(14) Ebd.
(15) Ein informativer Text zum lateinamerikanischen Antiamerikanismus von Wolf Dieter Vogel und Mary Kreutzer findet sich unter: http://www.contextxxi.at/html/lesen/archiv/cxxi0323_2.html
(16) Exemplarisch dafür der Artikel von Samir Amin: La ideología estadounidense. In: Memoria 173/Juli 2003.
(17) Beide Zitate sind der Website des Stephen Roth Instituts in Tel Aviv entnommem: http://www.tau.ac.il/Anti-Semitism/asw2003-4/mexico.htm [Übers. R.Z.]

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last modified: 28.3.2007