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Quo vadis, Demokratie?


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Herbert Marcuse: Nachgelassene Schriften I. Das Schicksal der bürgerlichen Demokratie. Hrsg. von Peter-Erwin Jansen. Zu Klampen, Lüneburg 1999. 176 Seiten
Vor 5 Jahren, als sich 1999 der Todestag des Sozialphilosophen Herbert Marcuse zum 20. Mal jährte, machte man sich das Verlagshaus zu Klampen daran, ausgewählte Schriften aus dem Nachlass des Sozialphilosophen zu veröffentlichen. Bis heute sind vier der sechs Bände erschienen: Das Schicksal der bürgerlichen Demokratie, Philosophie und Psychoanalyse, Kunst und Befreiung und Die Studentenbewegung und ihre Folgen. Die ersten beiden Titel fanden den Weg in die für den Studienaufenthalt in Mexikos Hauptstadt vorgesehene Reisetasche. Demokratie, Demokratisierung und die Verteidigung bürgerlicher Freiheit schwirrten als Schlagworte noch aus der linken Diskussion in Deutschland in meinem Kopf herum, und vielleicht bot es sich deswegen an, sich als erstes und gesondert mit eben dem ersten Band Das Schicksal der bürgerlichen Demokratie zu befassen.
Am 29. Juli 2004, dem 25. Todestag von Herbert Marcuse, erschien in der linken mexikanischen Tageszeitung La Jornada ein ganzseitiges Photo desselben und im Supplement ein halb so großer Artikel. Das Verhältnis zwischen Bild und Text korrespondiert mit folgender Äußerung des DPA-Artikels: „Das Beste an Herbert Marcuse war, dass ihn die Studenten verstanden, ohne seine Bücher gelesen zu haben.“(1) Einige Schlagworte – „repressive Toleranz“ oder „die große Weigerung“ – genügten, so die Meldung, und schon war man im Klub der „kritischen Masse“. Auch für die mexikanische Studentenbewegung wird Marcuse als große „Ikone“ angeführt. In der monumentalen Bibliothek der geschichtsträchtigen UNAM (Universidad Autonoma de Mexico) finden sich fast alle Hauptwerke. Und vielleicht kommen in naher Zukunft auch die Nachgelassenen Schriften dazu, denn in den spanischen Übersetzungen rangiert Marcuse weit oben.
Was hätte man dann beim ersten Band Das Schicksal der bürgerlichen Demokratie zu übersetzen? Im Ganzen wurden in dem schmalen Bändchen sechs Beiträge zusammengefasst: Manuskripte, Aufsätze und Vorträge. Vorangestellt ist ein Vorwort des Herausgebers Peter-Erwin Jansen und eine Einleitung von Oskar Negt über „Marcuses dialektisches Verständnis von Demokratie“. So mancher Rezensent der bürgerlichen Presse hatte sich darauf gefreut, endlich den „Demokratietheoretiker“ Marcuse entdecken zu können, aber die Texte machen dem einen Strich durch die Rechnung. Das weiß eigentlich auch Oskar Negt, und trotzdem geht ihm dieses Label ein paar Mal über die Lippen. Negt verweist auch auf ein anderes Buch, dass dieses Thema ins Gedächtnis ruft: Transformation der Demokratie von Johannes Agnoli und Peter Brückner. Entgegen seines eigenen früheren Engagements (Negt war Teil eines Beraterstabs für Bundeskanzler Gerhard Schröder) bescheinigt er der Linie, die von Marcuse zu Agnoli führt, historische Voraussicht. Denn fortlaufende Entwicklungen haben immer wieder bestätigt, „dass es angesichts der bestehenden Machtverhältnisse sinnlos ist, sich in den bestehenden Institutionen einzusetzen.“ (15)(2) Als Kern der „Demokratie-Theorie“ von Marcuse macht Negt dann aber die Binsenweisheit aus, eine Demokratie stelle sich eben nicht von selbst her und brauche an erster Stelle – Demokraten. „Es ist ein Erfahrungsbestand, der sich zur bestimmenden Verhaltensnorm, ja zum kategorischen Imperativ verfestigt, daß es eine Demokratie ohne Demokraten nicht geben könne.“ (18) Ein anderes Beispiel, wie man mit Marcuse umgehen kann, demonstrierte Helmut Dubiel in dem 1992 vom Frankfurter Institut für Sozialforschung herausgegebenen Band Kritik und Utopie im Werk Herbert Marcuses. In dem ansonsten recht instruktiven Band bezog sich Dubiel in seinem Beitrag auf den zentralen Text Marcuses, der in den Nachgelassenen Schriften erstmals in deutscher Übersetzung von Michael Haupt erschien: „Das historische Schicksal der bürgerlichen Demokratie“. Dubiel warf Marcuse vor, sich nicht die Frage zu stellen, „ob eine Linke ‚demokratisch‘ genannt werden kann, die ein demokratisches System nicht um seiner selbst willen verteidigt, sondern es nur unter taktischem Vorbehalt akzeptiert – nämlich als Bollwerk gegen rechtsradikale Tendenzen und als Übergangshilfe in einen nachkapitalistischen Zustand.“(3) Weil für Dubiel die kritische Theorie überholt, der Kapitalismus desorganisiert und die Perspektive eines „nachkapitalistischen Zustandes“ unzeitgemäß ist, bleibt ihm im Fahrwasser einer „erneuterten Kritischen Theorie“ (d.h. für Dubiel: genuin unmarxistisch) nur der Bezug auf die erweiterte Demokratietheorie Axel Honneths.(4) Damit tut man dem Sozialphilosophen und dem zugrundeliegenden Text unrecht, auch wenn sich gewisse „Untiefen“ oder „Inkonsequenzen“ im Werk von Herbert Marcuse nicht abstreiten lassen.(5) Sie in einem Generalurteil über die Kritische Theorie (Dubiel kommt im seinem Beitrag nicht ohne einen Seitenhieb auf Horkheimer und Adornos Dialektik der Aufklärung und die „ältere Kritische Theorie“ aus) einseitig aufzulösen, verfehlt jedoch den Gegenstand.
Marcuse hat (zum Glück) keine Demokratietheorie geschrieben. Deswegen rücken in dem Band auch automatisch (fast) alle anderen Topoi ins Blickfeld, die Marcuses Werk sonst charakterisieren. Demokratie ist dabei nicht immer zentraler Gegenstand seiner Überlegungen, vielmehr kommt er durch die Fragestellungen einfach nicht an einer Analyse der Verfasstheit der Demokratie vorbei und bindet diese in seine Theorie des Sozialcharakters, anthropologische Ansätze oder die geschichtsphilosophische Interpretation der Freudschen Psychoanalyse ein.

Deutschland: Artifizielle Demokratie

Bis auf den ersten Text des Bandes „Antidemokratische Volksbewegungen“ sind fast alle Überlegungen vor dem Hintergrund der US-amerikanischen Innen- und Außenpolitik zu verstehen. Wie Adorno, Horkheimer und andere fand Marcuse während des Zweiten Weltkrieges in den Vereinigten Staaten von Amerika Zuflucht und Sicherheit. Im Gegensatz zu jenen aber, kehrte der Sozialphilosoph nicht nach Deutschland zurück. Bevor er Lehraufträge an der Brandeis University und später der San Diego State University erhielt, arbeitete Marcuse für das State Departement, das US-amerikanische Außenministerium. In diesem Zusammenhang verfasste er die Feindanalysen sowie den im vorliegenden Buch erschienen Text: „Antidemokratische Volksbewegungen“. Aufgrund seiner direkten Konzentration auf das post-nationalsozialistische Deutschland nimmt dieser Beitrag eine Sonderstellung ein. Das Urteil fällt drastisch aber wenig überraschend aus: Zwar vermute man die eigentlichen Feinde ganz weit rechts und ganz weit links, jedoch ist eine „starke anti-demokratische Gesinnung (...) unter allen sozialen und politischen Gruppen verbreitet. Genährt wird sie aber von sehr unterschiedlichen Motiven und Bestrebungen.“ (29) Marcuse war sich sehr wohl bewusst, dass der Nährboden für ein demokratisches Bewusstsein im Deutschland jener Zeit denkbar schlecht war. Nicht nur, dass viele politische Ämter von Nazischergen besetzt waren, auch das Weiterleben des nationalsozialistischen Sozialcharakters war für Marcuse ausschlaggebend. Die Demokratie wurde von den Besatzungsmächten installiert und mehr oder minder zähneknirschend ertragen, schließlich wollte man ja wieder wer sein. Insofern würden auch die „antidemokratischen Volksbewegungen“ kaum an Gewicht gewinnen, meint Marcuse, da sie der Mehrzahl der dominierenden Interessen entgegenlaufen würden. In diesem Text fallen noch zwei andere Stellen auf. Einerseits ein Verweis auf die Möglichkeit einer Wiedervereinigung Deutschlands, die sich Marcuse damals nur als großes Bündnis zwischen Links und Rechts bzw. als „Wiederbelebung des Nationalbolschewismus“ vorstellen konnte. (34) Damit bestand für Marcuse schon damals die Gefahr, dass Deutschland wieder zu einer „mitteleuropäischen oder sogar kontinental-westeuropäischen Hegemonialmacht aufsteigen“ könnte. (ebd.) Eine solche Wiedervereinigung würde aber, die Geschichte hat ihm recht gegeben, „insgesamt von einer Vereinbarung zwischen West und Ost, von einer Vereinbarung im internationalen Maßstab“ abhängen. (ebd.) An einer anderen Stelle macht Marcuse neben den extremen Gruppierungen am Rand noch eine andere Gefahr aus. Unter bestimmten Bedingungen könnten die Menschen „aus dem großen Heer von Vertriebenen, Flüchtlingen, Arbeitslosen und verarmten Angehörigen der Mittelklasse in Westdeutschland“ der Demokratie gefährlich werden. (32) Auf der einen Seite scheint hier die Erfahrung Pate zu stehen, wie sich schon einmal aus der Mitte der Gesellschaft heraus eine Demokratie selbst abschaffte. Ein paar Zeilen später weist Marcuse allerdings darauf hin, dass diese Gruppierung sich nicht aus sich heraus organisieren kann und so eine direkte oder indirekte Unterstützung erfahren müsste. Da die aussichtsreichste Unterstützung für Marcuse ein bestimmter Teil der Großindustrie war und diese auf keinen Fall einen Bruch mit der Demokratie riskieren will, sieht Marcuse dennoch keine Gefahr für Deutschlands Demokratie. Diese Analyse der deutschen Zustände kurz nach dem Krieg lässt sich nicht so einfach auf heute übertragen, wie man das vielleicht gern hätte. Jedoch kratzt er am Image der frisch aus dem Nationalsozialismus auferstanden deutschen Demokratie, die scheinbar geläutert den Marsch in den Westen antritt, wie es heute gern vertreten wird. Die Demokratie sei in Westdeutschland, so Marcuse, „ein höchst artifizielles Produkt, das den tatsächlichen sozialen und politischen Kräften in keiner Weise entspricht. (...) Würde man die westdeutsche Gesellschaft sich selbst überlassen, wären die Parteien der Mittelschichten allein nicht stark genug, um der wachsenden Radikalität zu widerstehen. Aus denselben Gründen würden die Sozialdemokraten einen Großteil ihrer Anhängerschaft aus der Arbeiterklasse verlieren.“ Bei diesem Satz ist es allerdings fast unmöglich, nicht daran zu denken, wie schnell vor kurzem in Sachen aus Wählern bürgerlicher Parteien Stimmengeber für die NPD wurden.

Quo vadis Demokratie?

Für die verbleibenden Texte ist der Zugang ein anderer. In den USA für verschiedene Anlässe geschrieben, haben sie einen größeren Radius innerhalb Marcuses Werk. Als zentral kann dabei der Aufsatz „Das historische Schicksal der Demokratie“ angesehen werden. Da man in den Bänden der Nachgelassenen Schriften eine chronologische Ordnung der Texte beibehält, steht dieser 1973/74 verfasste Aufsatz am Ende. Die vorherigen Texte führen aber nicht nur zeitlich, sondern auch inhaltlich auf den Schlussaufsatz hin. Rückwirkend lassen sich die Überlegungen Marcuses mit folgender Feststellung aus dem Text „Das historische Schicksal der bürgerlichen Demokratie“ erschließen: „Die Wahlen von 1972 haben erneut, und deutlicher als zuvor, das historische Schicksal der bürgerlichen Demokratie offengelegt: ihre Transformation von einer dynamischen in eine statische, von einer liberal-progressiven in eine reaktionär-konservative Gesellschaft. Diese Demokratie ist das stärkste Hindernis für jede Veränderung geworden – mit Ausnahme der Veränderung zum Schlimmeren.“ (146) Seine Fragen kreisen also einerseits darum, wie die Veränderung zum Besseren, wie es Marcuse bescheiden nennt, verhindert wird und wie und warum anderseits, die „Transformation der Demokratie“ (Agnoli) vor sich geht. Das harte Urteil über die liberale Demokratie in den USA fällt vor dem Hintergrund der Wiederwahl Richard Nixons zum Präsidenten. In dieser Präsidentschaftswahl zieht sich für Marcuse eine historische Schlüsselsituation zusammen: „Auf dem Weg vom Laissez-faire- zum Monopol- und Staatskapitalismus ist die bürgerliche Demokratie in ein Stadium eingetreten, das nur noch zwei Alternativen übrigzulassen scheint: Neofaschismus im globalen Maßstab oder Übergang zum Sozialismus.“ (146) Es ist bezeichnend, dass, im Gegensatz zu früheren Schriften, über die Möglichkeiten eines Übergangs zum Sozialismus in diesem Aufsatz relativ wenig gesagt wird. Viel ausführlicher behandelt Marcuse dafür die Möglichkeit des Übergangs zum Neofaschismus und die Gründe desselben. Dabei wird klar, dass Marcuse die Situation als Krise begreift und eine faschistische Transformation, in Analogie zum deutschen Faschismus, als eine nicht unwirksame Krisenreaktion. Marcuse versucht „die jetzige Krise des Kapitalismus als strukturelle Desintegration bei gleichzeitigem Funktionieren der wirtschaftlichen Strukturen zu verstehen.“ In seiner Analyse des Spätkapitalismus geht er dabei, wie Moishe Postone dies für Autoren wie Adorno, Horkheimer oder Pollock konstatiert und kritisiert hat,(6) von einem Primat der Politik aus. Die inneren Widersprüche der kapitalistischen Entwicklung „manifestieren sich in erster Linie in zunehmenden ökonomischen Schwierigkeiten, werden jedoch nicht zum Zusammenbruch des Systems führen. (...) Im staatsmonopolistischen Stadium des Kapitalismus erhält die Politik Vorrang vor der Ökonomie (...).“ (172) Dass in einem kapitalistischen System plötzlich politische Zusammenhänge die ökonomischen Bedürfnisse überlagern, war für Marcuse keineswegs selbstverständlich. Dem Antikommunismus, einem Anwachsen der nationalen Befreiungsbewegungen und dem Glauben an die Dominotheorie maß Marcuse dabei eine solche Wichtigkeit zu, dass er sie als fundamentalen Angriff auf das kapitalistische System verstand. Die Transformation der Demokratie war die Reaktion auf eben diese Situation. Paradoxerweise tritt hier die bürgerliche Demokratie als quasi handelndes Subjekt auf, denn von ihr gehen, laut Marcuse, die einschneidenden Veränderung aus. Durch die Demokratie selbst, also auf demokratischem Wege, nimmt die Selbstabschaffung ihren Lauf – Marcuse nannte dies „den demokratischen Verfall der Freiheit.“ (38) In verschärfter Form kehrt hier der Gedanke von der gewaltvollen Einheit der Gegensätze wieder, der bereits den Eindimensionalen Menschen bestimmte. Es ist ein neuartiges „Zusammenspiel zwischen Produktion und Destruktion, Freiheit und Unterdrückung, Macht und Unterwerfung (...)“ (153) Dies beinhaltet den Abbau von Errungenschaften der liberalen Demokratie, die Betonung der Exekutiven gegenüber den anderen Gewalten, Einschränkung der oppositionellen Möglichkeiten etc. Aber auch ein anderer Aspekt kommt zum Vorschein, der sich in folgender Frage verdichtet: „Das Volk war (ungezwungenermaßen) willens, Inflation und Arbeitslosigkeit, Kriegsverbrechen und Korruption, ein völlig unzureichendes Gesundheitswesen, die Fortsetzung des erbarmungslosen Existenzkampfes zu akzeptieren – warum?“ (151) Weil Marcuse, ohne es vielleicht zu wissen, eine Ahnung von abstrakter, apersonaler Herrschaft hat, kann er diesen Prozess nicht ohne eine Verschiebung auf die Ebene der Triebstruktur oder, weiter gefasst, der Denkformen erörtern. Denn der Fakt, dass eine Transformation von innen heraus unter tätiger Mithilfe der Subjekte vor sich geht, verweist auf die Herausbildung einer neuen Grundlage in den sozialen Charakteren. Somit schlussfolgert er: „Die bürgerliche Demokratie hat eine angemessene Instinktgrundlage für ihre regressive und destruktive Entwicklung gefunden.“ (149) Zur Beschreibung dieser Instinktgrundlage greift Marcuse auf Erich Fromms „sadomasochistischen Charakter“ und Sigmund Freuds Theorie des „Todestriebs“ zurück. Die Theorie eines sadomasochistischen Charakters spielte auf dieselben Phänomene an wie Adornos Entwurf des „autoritären Charakters“, allerdings unter einer veränderten Blickrichtung.(7) Marcuse begibt sich also auf jene Ebene, in der sich das Gesellschaftliche in den Individuen reproduziert. Dort sah er die Entstehung einer Aggressivität am Werk, die nicht nur nach außen, sondern auch nach innen wirkt. Mit der Zugrunderichtung der Individuen selbst geht eine fortschreitende Identifizierung mit der Politik einher, während diese gleichzeitig beginnt, die politische Dimension entscheidend zu inszenieren und zu ästhetisieren. Das Zusammentreffen von rationaler Organisation und eben jener Grundlage in der Triebstruktur liefert die Gesellschaft dem „Todestrieb“ aus. Damit ist zum einen die Transformation der Beziehung zum Tod an-sich gemeint. Die Folter-Debatte in Deutschland oder das unbefangene Reden über den Tod als „politische Option“ stehen in einer Linie mit dem von Marcuse besprochenen „Einverständnis mit dem Tode“. Zum anderen meint es die Selbstzerstörung im Subjekt und auf gesellschaftlicher Ebene. Dieser Prozess geht lange Umwege und ist neben seiner psychoanalytischen Bedeutung im strengsten Sinne wörtlich zu nehmen. Es geht sowohl um den Anstieg einer „ursprünglich-triebhaften Aggressivität“, als auch um die ganz materielle Zerstörung von Menschen im Arbeitsprozess und der Natur.

Einlassung: Marcuses Arbeitskritik

Im Werk Marcuses findet sich an verhältnismäßig vielen Stellen eine vehemente Arbeitskritik. Auch im vorliegenden Band gibt es eine Reihe Bemerkungen, die Marcuses Verständnis von Arbeit illustrieren. Dabei verbinden sich diese Überlegungen oft mit Marcuses Begriff der Technologie. Im Aufsatz „Zum Problem des Wandels in der technologischen Gesellschaft“ findet sich folgendes Zitat: „Die Unterordnung des Lustprinzips unter das Realitätsprinzip wird erst in dem Zivilisationsstadium universell wirksam, in dem die Arbeit universell, full-time und quantifizierbarer gesellschaftlicher Wertmaßstab geworden ist. Das Projekt einer technologischen Objektwelt erfordert als sein Pendant das technologische Subjekt: den Menschen als universelles Instrument (als Besitzer von Arbeitskraft).“ (50) Die Dimensionen von Marcuses Begriff der Technologie können an dieser Stelle nicht erläutert werden. Was abgesehen davon aber klar wird, ist, dass Marcuse sehr wohl ein Verständnis für die Stellung der Kategorie Arbeit im kapitalistischen Reproduktionsprozess hat. Denn, so Marcuse weiter, auf der Notwendigkeit, dass die große Mehrheit der Bevölkerung lebenslang seine Arbeitskraft verausgaben muss, „beruht nicht nur die materielle Reproduktion der Gesellschaft, sondern auch ihre moralische und politische Struktur: die Institutionen der Herrschaft und deren intellektuelles Pendant, die repressive Arbeitsethik der Knappheit und des Zwangs zum Lebensunterhalt.“ (51) Ist die Sphärentrennung von Arbeit und Freizeit einmal durchgesetzt, spalten sich Realitäts- und Lustprinzip auf diese beiden Bereiche (und andere) auf. Der „erotisch-ästhetische“ Trieb beugt sich dann der „sekundären Sublimierung in Arbeit und Freizeit.“ (96)
Marcuses Verständnis des Spätkapitalismus beinhaltet auch, dass er in der technologischen Entwicklung die Tendenz erkennt, menschliche Arbeit überflüssig zu machen und die Möglichkeiten bereitzustellen, die gesellschaftlich notwendige Arbeit auf ein Mindestmaß zu reduzieren. Würde dies geschehen, wäre es die „annähernde Abschaffung von Büro- und Industriearbeit sowie die Befriedung der Existenz.“ (ebd.) Die Verdrängung menschlicher Arbeitskraft aus der Reproduktionsprozess aber nimmt dem Kapitalismus langsam aber sicher die Grundlage. Die Diskussionen um den Begriff einmal beiseite gelassen, verweist Marcuse hier auf das, was man (nicht nur) unter Wertkritikern „Krise“ nennt. Diese Tendenz ist jedoch kein Automatismus der Befreiung, sondern kann ebenso verhindert und manipuliert werden, freilich durch Repression und unter brutalem Zynismus. Diese Bestimmungen zur Arbeit fließen auch Marcuses Gedanken zu einem post-kapitalistischen Zustand ein: „Die wahrhafte Alternative ‘jenseits des Wohlfahrtsstaats’ liegt im genauen Gegenteil: Die reife technologische Gesellschaft muß die Automatisierung der materiellen Produktion bis zu dem Punkt vorantreiben, an dem das traditionelle Verhältnis von (notwendiger) Arbeitszeit und Freizeit sich ins Gegenteil verkehrt und Freizeit zur ‘Vollbeschäftigung’ wird, über die das Individuum verfügt.“ (46) [Hervorhebung im Original] Marcuse scheint aber dieser Zustand nicht ohne eine Zusatzbestimmung möglich zu sein, denn damit Arbeit und Freizeit wirklich eine neue Qualität erhalten, bedarf es eine „qualitativ andere menschliche Grundlage – den Ausdruck eines neuen menschlichen Potentials“. (169)

Last Exit Kommunismus?

Je später die Texte erschienen, umso dunkler fiel das Bild aus, dass Marcuse zeichnete. In den Aufsätzen, die vor 1974 geschrieben wurden, zeichnet sich die Veränderung der bürgerlichen Demokratie zwar schon ab, aber Marcuse weist noch viel stärker auf das emanzipatorische Potential in den bestehenden Verhältnissen hin. Anders ließe sich, laut Marcuse, sowieso nicht über Veränderung reden, wenn es nicht „nachweisbare Tendenzen und Fähigkeiten der etablierten Gesellschaft“ gäbe, „die das Entstehen rationalerer gesellschaftlicher und individueller Existenzweisen ermöglichen könnten.“ (39) Aber schon damals meinte Marcuse, dass traditionelle Mittel des Widerstands nicht mehr genügen. Zwar hält er zum Teil an diesen Methoden fest, aber die wichtigste Quelle der Veränderung verortet er woanders. „Subjektivität, die der bürgerlichen Kultur zugeschriebenen Errungenschaft, ist tatsächlich immer noch die individuelle Wurzel der Freiheit: ein Selbst zu sein, über den Bereich der Selbstverwirklichung zu verfügen, der Autonomie in den bestehenden objektiven sozialen und natürlichen Bedingungen gestattet.“ (126) Auf der einen Seite stehen also relativ traditionelle Anweisungen an die Praxis – Bildungsarbeit, intellektueller Avantgardismus, Boykottmaßnahmen, Streik und Demonstrationen. Auf der anderen Seite aber sind jene Veränderungen, die sich in den „Ambivalenzzonen des Subjekts“ abspielen – neue Sinnlichkeit, eine „Revolution der Werte“ oder ganz basal „ein Sieg über die Furcht“. (157) Diese Verlagerung in die Psyche hatte ihm in der Vergangenheit bspw. die Faszination für die Hippie-Bewegung eingebracht. 1970 in „Kulturrevolution“ sah das schon anders aus. Zu sehr wirkte die Einsicht in die Widersprüchlichkeit der sozialen Bewegungen, die „Interaktion radikaler und ‘konservativer’ Kräfte“. (132) Aber nicht nur die Tatsache, dass die Kraft der Revolte nach ihrem Höhepunkt in den späten 70ern nachließ, sondern auch die besprochene Krisensituation lässt von dieser Romantik nicht mehr viel übrig. „Wenn man Liebe und Gewaltlosigkeit predigt, spielt man denen, die Haß und Gewalt praktizieren, in die Hände.“ (156) Stattdessen will Marcuse die Aggressivität umkehren, ihre Stoßrichtung ändern, d.h. die Liebe in Hass verwandeln. „Der Haß auf das Böse, auf Unterdrückung und Zerstörung, stärkt den Lebenstrieb und schwächt den Todestrieb, die sadomasochistische Struktur.“ (ebd.) Problematisch wird diese Umkehrung, wenn man sie mit dem vorherigen Gedanken zur Identifizierung bzw. Personalisierung zusammendenkt, denn dann ist nicht auszuschließen, dass sich der Hass nach historischen Richtlinien auf ein konkretes personales Objekt richtet, für das es nicht viele Alternativen gibt. Marcuse scheint sich dessen bewusst, denn er stellt dem befreienden Hass das „befreite Bewußtsein“, d.h. die Einbeziehung der Vernunft in die Triebstruktur, voran. Die Einsicht in die Tatsachen und zu wissen, wie sie zu jenen geworden sind, ist allerdings eine relativ hoch gesteckte Voraussetzung für jene Umkehrung der Aggressivität. Noch 1970 schrieb Marcuse: „Aber noch sind wir in der Phase, in der der Haß sich an der falschen Stelle entlädt.“ (127) War man 1974 schon weiter? Vermutlich nicht, und das wusste auch Marcuse.
1974 konnte sich Marcuses Perspektive nur noch auf die Alternative „Sozialismus oder Barbarei“ (Rosa Luxemburg) zusammenziehen. Zu wahrscheinlich schien ihm die Möglichkeit eines neuen Faschismus, für den er, sollte er eintreten, auch nicht die Möglichkeit sah, dass er von außen abgeschafft würde. Es bliebe nur die Selbstzerstörung. Für Marcuse steht deswegen am Ende einerseits die Notwendigkeit einer „qualitativ anderen menschlichen Grundlage“ und anderseits die Anweisung an die Linke, Protestbriefe zu schreiben, Nachbarschaftshilfe und Erziehungsarbeit zu leisten und „von vorne anzufangen“. (175) Entweder ein neuer Mensch muss her, oder es bleibt nur Schadensbegrenzung und Reformismus. Verwehrt man sich allerdings Letzterem, sind laut Marcuse auch die Möglichkeiten für Ersteres dahin. Dieser Spagat entsteht, weil er weiss, dass Demokratie kein Allheilmittel ist, sondern lediglich die Emanzipationssbedingungen zu verbessern hat. Sie ist nicht einmal ein Garant dafür, dass es keine Transformation zum Neofaschismus gibt. Sie kann das stärkste Hindernis einer Veränderung zum Besseren sein – abgesehen von einer Veränderung zum Schlimmeren.

Robert Z.

Fußnoten

(1) La Jornada August [Übersetzung R.Z.]
(2) Jansen, P.-E., Zit. nach: Marcuse, Herbert: Nachgelassene Schriften. Band 1. Das Schicksal der bürgerlichen Demokratie. Frankfurt am Main 1999. [Seitenangaben zukünftig im Text]
(3) Institut für Sozialforschung (Hrsg.): Kritik und Utopie im Werk von Herbert Marcuse. Frankfurt am Main, 1992. S.68.
(4) Vgl. Ebd., S.69.
(5) Auch im CEE IEH wurde mit Herbert Marcuse nicht zimperlich umgesprungen. Vgl.: CEE IEH #93: Das Elend des Theoretikers
(6) Vgl. Postone, Moishe: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Freiburg 2003. S.141 ff.
(7) Vgl. Institut für Sozialforschung (Hrsg.): Kritik und Utopie im Werk von Herbert Marcuse. Frankfurt am Main, 1992. S.217 ff.


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last modified: 28.3.2007