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Das Wichtigste am Sieb
sind die Löcher


Big Fish, 25.8k
Big Fish, USA: 2003, Regisseur: Tim Burton

Big Fish und die Phantastereien des Tim Burton

2004 hat Tim Burton einen Film gemacht. Der Film lief in großen Kinos, wurde aufwendig beworben und als der Autor dieser Zeilen sich den Film zu Gemüte führte, war das Kino so gut wie leer. Mag die Nachmittagszeit dafür verantwortlich sein, über den Film ist jedoch noch nichts gesagt.
In den frühen 50ern wird Edward Bloom geboren. Er ist der Vater seines Sohnes, Mann einer Frau und am Tage seiner Geburt, da flutschte er mit Schmackes aus dem Mutterleib durch die Hände des Doktors über den Flur und in die touchdown-bereiten Arme der Hebamme. Mag seine unbändige Energie dafür verantwortlich sein, über sein Leben ist jedoch noch nichts gesagt.
Die einleitenden Sätze umreißen ziemlich genau den Gegenstand bzw. die Welt des Filmes von Tim Burton: Wie viel oder wie wenig gesagt wird, in dem, was einer über eine Sache oder über sein Leben erzählt, und wie die Menschen mit diesem „viel“ oder „wenig“ umgehen.
In einem kürzlich gegebenen Interview fragte man den Regisseur, warum seine Filme immer so „abgedreht“ wären und auch Schauspieler Danny de Vito bezeichnete das Projekt als, nun ja, „weird“. Gut, ihm sei’s verziehen. Nicht alle Tage muss man einen nachts zum Werwolf mutierenden Zirkusdirektor spielen. Und als ob das noch nicht genug wäre: solche Metamorphosen sind noch nicht mal Mittelpunkt des Films, sondern Nebenschauplätze einer größeren Erzählung: Sie sind Teil des Lebens, das Edward Bloom (Albert Finney bzw. in den Rückblenden Ewan McGregor) um seine Person herum dichtet. Um diese „große Erzählung“ geht es und um die Unfähigkeit seines Sohnes, sich damit abzufinden. Alle naselang fällt dem alten Kauz eine Geschichte ein und in Anbetracht der Unerträglichkeit des Seins finden natürlich alle Zuhörer, jung wie alt, die kleinen Tagträume klasse. Schließlich hält die Realität wenig von dem Zauber bereit, den Eds Stories zu bieten haben. Das finden zumindest alle außer seinem Sohn William, der die alten Kamellen leid ist und so langsam, na ja, die „Wahrheit dazwischen“ entdecken will und der sich darüber heillos mit seinem Vater zerstritten hat. Als dieser dann im Sterben liegt, bietet sich reichlich Platz für Missverständnisse, Streit, klärende Gespräche und logischerweise jede Menge Rückblenden. Nicht zu vergessen einem wundersamen Begräbnis.
Keine Minute ist mit der Lektüre dessen zu verschwenden, was das werte Feuilleton von diesem Ausflug Tim Burtons in das Reich der Phantasie, der Real-Time-Münchhausen und Storyteller hält. Ein „Loblied auf die Phantasie“ und ähnliches wurde Tim Burton untergeschoben (und es dabei belassen) und das Schlimmste, wenn auch nicht Überraschende, ist, dass sich ein „mehr“ in diesem Film vielleicht auch nicht finden lässt. Die Frage, was die Leute dazu treiben könnte, solche Geschichten zu erfinden bzw. Filme darüber zu machen, spielt in den Rezensionen ebenso wie im Film selbst, wenn überhaupt, eine untergeordnete Rolle. Den einen, die mit der „geschliffenen Axt der Vernunft“ (Benjamin), ist das alles irgendwie zu hippie, die anderen bestücken den Film mit Adjektiven wie „zauberhaft“, „farbenfroh“ oder ähnlichen bürgerlichen Neuroseadjektiven. Nichtsdestotrotz: Beiden entgehen essentielle Momente. Denn es lassen sich an das Werk Tim Burtons zumindest einige interessante Überlegungen anschließen. Zum Beispiel über Anziehungskraft eines solch bunten Strausses an Lügengeschichten. Über Art dieser Stories, die Ed Bloom anstelle der „langweiligen“ Realität von Kleinstadtalltag, white picked fences und einem verdreckten Pool in sein Leben einbaut. Oder über die Beschaffenheit dessen, was an die Stelle der nachprüfbaren Realität tritt, die man um ihr Ansehen bringen will und zu der auch Ed Blooms Sohn nur scheinbar und halbherzig zurück will. Denn schlussendlich, sei’s ob des Vaters Sterben oder ob der Einsicht in die, zumindest vorläufig, bessere Welt der Phantasie, schlussendlich spielt sein Sohn das Spiel mit und vollendet die Geschichte. Mit dem Sieg der Phantasie oder der Niederlage der Realität gewinnt oder eben verliert auch der Betrachter. Am Ende soll unklar bleiben, wie’s denn nun eigentlich war und damit drückt sich Tim Burton um den Kern der Sache herum. Denn aufzuspüren wäre, wie und wo sich die Phantasie und der Tagtraum entzünden, an diesen Momenten dessen, was man so Realität nennt. Wenn man versucht, in den Episoden des Filmes Allegorien mit kritischer Intention zu sehen, wird man, vermute ich, enttäuscht sein. Außer man denkt ein bisschen gegen den Film. Dort, wo die Aussichten mager, die sozialen Rituale kalt und die Städte eindimensional und langweilig sind, dort beginnen und enden die Tagträume Ed Blooms. Dann scheint für einen kurzen Moment Erlösung oder wenigstens Erfüllung auf, wie in dem Moment, als Ed Bloom die Liebe seines Lebens trifft und buchstäblich die Zeit stehen bleibt. Solche Momente drängen und fordern ihren symbolischen Ausdruck – dass die Zeit wirklich stehen bleibe und sich Ed vorbei an in der Luft stehendem Popcorn durch die Menschenmenge hindurch zu seiner Angebeteten bewegt. Etwas wird hinüber gerettet und erscheint als Kristall in den Phantastereien und Tagträumen, die Edward Bloom beständig seinen Kindern und sonstigen Zuhörern erzählen wird. Zu explizieren, was dieses „Etwas“ sei und warum gerade dieses „Etwas“, wäre ein anspruchsvolles Projekt.
Über die Anziehung, die so etwas auf den Kinobesucher ausübt, sind schon viele kluge Sätze geschrieben worden. Die Kulturindustrie, ihr wisst schon. Versprechungen, Andeutung und trotzdem bleibt die Erfüllung versagt. Und trotzdem scheint einem alles immer ein bisschen interessanter, als das eigene Leben. Die vage Fähigkeit Vorstellungskraft wird vollständig ins Medium des Films abgedrängt, der Spielraum für den Betrachter schwindet. Nun, soviel sei zugestanden, zumindest Fragezeichen lässt der Film zurück und somit wenigstens den Hauch von Freiräumen.
Viele kluge Sätze sind über Tagträume und Phantasie geschrieben worden. Seitenweise setzt bspw. Adorno sich mit Kierkegaards Gedanken zu Phantasie und Einbildungskraft, besonders in Bezug auf die Ästhetik auseinander. „In Phantasie übersteigt Natur sich selber“ (Adorno: GS 2, S. 196). Diesen Phantasiebegriff opponiert Adorno mit dem Kierkegaards und unterstreicht im Zuge dessen die zentrale Rolle, die Einbildungskraft oder Phantasie in seinem Denken einnimmt. Kierkegaard hingegen verwirft Phantasie im emphatischen Sinne. Sie sei unfähig, Verzweiflung wirklich darzustellen und zu übersetzen, was für Beide eine entscheidende Funktion der Vorstellungskraft wäre. Doch gerade das, so Adorno, zeugt von ihrer Stärke. Denn in ihr gibt es ein Moment von Versöhnung, das eben die Bürgschaft dafür ist, dass Hoffnung existiert. Sie ist eben nicht bloß anschauendes Organon des Denkens, sondern greift schöpferisch in das Geschehen ein. Im Stande der Unfreiheit jedoch, mit der Verkümmerung von Erfahrung, verkümmert auch die Fähigkeit zur Phantasie oder zum Träumen. „Antizipierendes Bewusstsein“ nannte Bloch das vorgreifende, aus dem unversöhnten Zustand fliehen wollende Bewusstsein. „Träumen nach vorwärts“ sei zu erhalten, wenn schon mit Konsequenz gegen Aberglaube und falsches Bewusstsein angeschritten werden muss. „Das objektive Mögliche, an das der Traum sich halten muss, wenn er etwas taugen soll, hält in verordneter Weise auch ihn.“ (Bloch: GS 5, S. 1616). So binden sich Beides, Traum und objektiv Mögliches, um das über einander hinausweisende Moment nicht einzutauschen gegen den Wahn. Bei Adorno wiederum findet sich auch die Reflexion auf die problematische Seite der Phantasie oder des Alles-Schön-Findens. Und wahrscheinlich liegt dies näher am Film, als alle hehren Gedanken zuvor. „Tugenden selbst wie die der Aufgeschlossenheit, das Vermögen, überall, noch im Alltäglichsten und Unscheinbarsten des Schönen sich zu versichern und sich daran zu freuen, beginnen, ein fragwürdiges Moment hervorzukehren.“ (Adorno: GS 4, S. 85). Dieses Moment tritt auf im Zustand, da „das Subjekt vor der entfremdeten Übermacht der Dinge abdankt“ (ebd.). Resignation, kritisches Vermögen und „interpretierenden Phantasie“ liegen nah beieinander und sind nicht zu trennen.
Womit wir wieder beim Film sind. Denn für all das eben gesagte gibt der Film vielleicht nicht soviel her. Aber was hat man auch für Ansprüche an Kulturartefakte, die produziert, konsumiert und rezipiert werden im „Stande der Unfreiheit“. Der Film bleibt, trotz allem Gegendenkens, ein Produkt, das hauptsächlich der Freude am Erzählen entsprungen ist und sich dieser auch glänzend verschreibt. Die Bilder, die sich am Ende als Hirngespinst oder eben als doch nicht so hirngespinstig herausstellen, sind märchenhaft und nur bedingt allegorisch. Eher unglaubwürdig soll alles auf den ersten Blick erscheinen. Der Riese, der am Anfang in die Handlung eingeführt wird, wirkt am Ende auch optisch nur noch wie ein etwas größerer Mann. Und die siamesischen Zwillinge waren vielleicht einfach nur Zwillinge. Doch darum geht’s nicht. Dem Feuilleton galt die Geschichte auch als wundersame Zusammenführung eines Sohnes mit seinem wunderlichen Vater. Es bleibt den in Psychoanalyse Belesenen unter euch vorbehalten, in der komplexen Beziehung der beiden Hinweise auf die herannahende vaterlose Gesellschaft zu suchen. Wenn sich nicht alle hier geäußerten Gedanken ins Filmgeschehen rückbeziehen lassen, so ist all dies noch kein Minus für Unterhaltsamkeit des Films. Als Sprungbrett in über den Film hinausweisende Sphären theoretischer Überlegungen tut der Film sein Übriges. Und das ist doch schon was.

Robert


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last modified: 28.3.2007