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Hoch-Kultur, 1.6k

Boris Lurie,
New York – Buchenwald


OdF, 28.0k Mit der Ausstellung optimistic-disease-facility. Boris Lurie, New York – Buchenwald, die derzeit in der Gedenkstätte Buchenwald zu sehen ist, eröffnet die Fotografin Naomi Tereza Salmon den Blick in Wohnung und Atelier des NO!art-Künstlers Boris Lurie.
„Naomi sammelte jahrelang Ueberbleibsel von persoenlichen Objekten der Gefangen im KaZet Buchenwald, um sie zu fotografieren, wie Essloeffel oder auch Zahnbuersten, die sich im Sand bisdann verborgen hielten. Jetzt wurden solch zu ›Kunst‹, und uns zur Erweckung der Vergangenheit. Die sprechen eine Sprache, die einfache Worte nicht zum Wiederleben bringen koennen. Ob meine jetzige Wohnung in New York auch in diese Kategorie einfaellt, weiss ich nicht, doch ist es schon moeglich ...“ (Boris Lurie: Einige schnelle Worte, 2003).
Als Boris Lurie 1945 nach New York kam, lagen hinter dem 21-jährigen vier Jahre in verschiedenen Arbeits- und Konzentrationslagern. Bei seiner Deportation aus Riga 1941 wurde er Zeuge der „großen Aktion“ in Riga-Rumbula, bei der seine Mutter, Großmutter, Schwester und seine Freundin ermordet wurden.
Nach dem Krieg zeigten auflagenstarke amerikanische Magazine wie Life oder News Week zwar die Dokumentarfotos, die nach der Befreiung der KZs entstanden sind; sie gingen aber zwischen anderen News, Reklame und ersten Pin-ups im Tagesgeschäft unter. Als Reaktion auf eine Gesellschaft, die sich im Wohlstand einrichtete und eine Kunstproduktion, die dazu die Hintergrundbilder lieferte, entwickelte Lurie seinen radikalen Stil: Er verarbeitet Massen von Pin-ups zu Collagen und überzieht sie teilweise mit Menstruationsblut und Exkrementen aus Wachs und Dreck. Er kontextualisiert immer wieder Pin-ups mit Bildern von KZ-Häftlingen und treibt damit das Spiel der Warenwelt zynisch und aggressiv auf die Spitze.
Salmons Blick in Luries Wohnung lässt erahnen, wie konsequent seine Kunst Ausdruck dessen ist, was er tagtäglich lebt: Zeitungsüberschriften, Pin-ups, NO!art-Schriftzüge, die Bilder seiner ermordeten Angehörigen, die er irgendwie über die KZs retten konnte, und Bilder von „Vater Stalin“ haben sich in einem jahrzehntelangen Prozess zu einer riesigen Wandcollage verdichtet. Salmons Fotos dokumentieren diesen Zustand, nicht ohne ihn zu ästhetisieren. Die Drastik, die Luries Wohnung durchwirkt, bleibt dabei auf der Strecke.
In der Ausstellung im 2. Obergeschoss des ehemaligen Kammergebäudes des Konzentrationslagers Buchenwald treten die Fotos von Luries New Yorker Wohnung mit dem Außenraum in Wechselbeziehung. Die Fenster, zwischen denen sie positioniert sind, geben den Blick auf das Krematorium und den Barackenbereich des ehemaligen KZs frei – heute ein weitläufiges graues Schotterfeld, auf dem sich die Grundrisse der ehemaligen Lagerbaracken dunkelgrau abheben. Buchenwald-New York-Buchenwald. Jeder Winkel von Luries Wohnung ist Ausdruck davon, dass er die Konzentrationslager überlebt hat.
Salmons Film, der das Kernstück der Ausstellung ist, lebt vor allem von Luries Erzählung und dem Sound von pingfm (Jan Brüggemeier, Weimar). Er gibt die Dringlichkeit und Unausweichlichkeit wieder, die Lurie umgibt, und überträgt sie auf den Rezipienten. Der Film schafft damit, was die Fotos sich nicht zutrauen.
An den Säulen des 750 qm großen, lang gestreckten Ausstellungsraumes hat Salmon Gedichte von Boris Lurie in Frakturschrift angebracht. Luries Sprache setzt sich aus dem Baltendeutsch seiner Kindheit und amerikanisch-englischen Wortfragmenten zusammen. Teils sind die Gedichte drastisch wie die Collagen, teils sind sie leiser und subtiler. Manche eignen sich für Künstlerpostkarten, die bereits gedruckt sind. Was Lurie wohl davon hält, dass sein Satz „Meine Sympathie ist mit der Maus, doch ich füttere die Katze“ fortan WG-Küchen schmückt?
Andernorts provoziert und polarisiert Luries Kunst noch heute. Im Katalog zu Mirroring Evil sorgt sein Saturation Paintings (Buchenwald) (1959–1964), wie die gesamte Ausstellung des Jewish Museum, New York (2002), für Empörung. Zbigniew Libera mit seinem LEGO Concentration Camp Set oder Alan Schechner mit It’s the real thing – selfportait at Buchenwald steigen ebenso zynisch, aber wesentlich „cooler“ in das Spiel ein. Lurie dagegen ist von dem Erlebten geprägt. Seine Kunst attackiert die Gesellschaft, die die sozialen und politischen Bedingungen, die Auschwitz ermöglichten, nicht beseitigt hat. Sie ist dabei weder sentimental noch vergangenheitsbewältigend. Luries Kunst bleibt unversöhnt.
Wenn schon Künstlerpostkarte, dann doch mit folgendem Satz, den Lurie 1995 in einem Interview äußerte: „Das wichtigste Symbol meiner Arbeit und das Leitmotiv, welches alles in einem Wort ausdrückt ohne ästhetisch oder politisch abzudriften, ist NO.“

Inga Schwede*

* Der Artikel Naomi Tereza Salmon meets Boris Lurie, der in der nächsten Ausgabe der Zeitschrift spector cut + paste erscheint, geht stärker auf die Künstlerin Naomi Tereza Salmon und die Choreografie der Ausstellung ein. Bei dem hier abgedruckten Artikel handelt es sich um einen Auszug.

Ausstellungshinweis:
optimistic-disease-facility. Boris Lurie, New York – Buchenwald. Eine Ausstellung von Naomi Tereza Salmon. 30. August bis 19. Oktober 2003 (verlängert bis 14. Dezember 2003). Gedenkstätte Buchenwald, Di-So 10:00-16:45 Uhr.

Literatur:
www.soir-critique.org
www.no-art.info
• Lurie, Boris; Krim, Seymour: NO!art. Pin-ups. Excrement. Protest, Jew-Art, Berlin/Köln, 1988.
• NGBK (Hg.): NO!art, Berlin 1995.
• Lurie, Boris: Geschriebigtes-Gedichtigtes/Boris Lurie, Knigge, Holzboog, Kirves (Hg.), Stuttgart-Bad-Cannstatt, 2002.

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last modified: 28.3.2007