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An dieser Stelle dokumentieren wir stark gekürzt einen Text von Dieter Bott. Dieser Text wurde erstmalig 1969 in einer Broschüre (Anti-Sport-Papers) veröffentlicht und ist neuerdings in dem Buch Ball & Birne – Zur Kritik der herrschenden Fußballkultur (Dieter Bott, Marvin Chlada, Gerd Dembowski, VSA-Verlag, 1998) zu finden. In ideologiekritischer Absicht geht es in diesem Text nicht vorzugsweise gegen Olympia oder Leistungssport, sondern gegen Sport, insbesondere gegen dessen Kultivierung in linken und proletarischen Kreisen. Eine Kampagne Zur Umwandlung der Dölitzer Sportstätten in Liegewiesen befindet sich gut informierten Kreisen zufolge derweil in Gründung.
sports, 1.2k

Sport und Sexualität


Sport und Sexualität, Sport und Klassenkampf, Sport und Ideologie

Liegewiese, 25.7k [...] Das neue proletarische Selbstverständnis rationalisiert seinen Reformismus, wenn es sich überhaupt aufs Thema einlässt, mit einer ungetrübten Idealisierung der Arbeitersportbewegung und einer klotzigen Körperlichkeit, zu der die Ästheten der Frankfurter Schule allerdings kein gleichartig naives Verhältnis entwickelt haben. [...] Am Sport lässt sich beispielhaft die systemkonforme Befriedigung von emotionalen und motorischen Bedürfnissen ablesen, d.h. ihre auf Integration ausgerichtete Deformation. Sport macht Spaß, und Spaß ist genau das, um was es nicht geht. [...] Sowohl im Leistungssport als bei sportlichen Jedermannsübungen erfährt der Körper eine Interpretation, die auf Zurückweisung unerwünschter Triebregungen abzielt. Unerwünscht sind Triebregungen, die sich nicht umstandslos den Ansprüchen nach Disziplin und Leistung einfügen lassen. Die sportlichen Bewegungsabläufe sind gesellschaftsfähig auch dort, wo sie nicht direkt Fitness im Interesse der Arbeitsfähigkeit oder ihrer Regeneration konstituieren. Auch die entdisziplinierte Freude am zweckfreien Spiel, wie sie die moderne Sportpädagogik anstrebt, respektiert die Grenze zu dem, was sich nicht gehört.
Der von Disziplin und Leistung begrenzte Horizont der akzeptierten Werte hat sein Fundament in Sitte und Anstand. Der geforderte Verzicht ist einer auf sexuelle Lust, und die verpönten Regungen sind zuallererst sexuelle Wünsche. An ihrer Unterdrückung sind alle denkbaren sportlichen Bewegungsabläufe beteiligt. Sport funktioniert im Interesse der Herrschaftssicherung. [...]
Der erste Arbeiterturnverein, der schon nach wenigen Wochen 1850 wieder verboten wurde, enthielt in seinem Emblem die Parole: Alles durch die Arbeit, alles für die Arbeit.
In der Marxschen Lehre ist von der Beseitigung der Arbeit die Rede, von ihrer Abschaffung, aber auch von ihrer Aufhebung, was im Hegelschen Sinn eine neue Qualität bedeutet, nachdem die Arbeit von der durch das Kapital vermittelten Entfremdung befreit ist. Marx beschreibt ihren Zustand unter dem Kapitalismus in Begriffen, die keinen Raum lassen für ihre Verherrlichung [...].
Die Verklärung der Arbeit in der sozialistischen Bewegung lässt sich mit Hilfe der Theorie analysieren, ebenso der Umstand, dass die Theorie nichts dagegen vermochte. Die bewusste Erinnerung an die Schmach der Arbeit kann nicht einer sein ganzes Leben lang mit sich herumtragen, der keine andere Möglichkeit hat, sein Dasein zu fristen als durch den Verkauf seiner Arbeitskraft.
Paul Lafargue, der Schwiegersohn von Marx, hat mit seiner Polemik gegen die Lust an der Arbeit nichts daran ändern können, dass der Arbeiter sich mit ihr identifiziert. Dass allein der Prolet den gesellschaftlichen Reichtum produziert, auch wenn er nicht über ihn verfügt, auf was sonst kann er stolz sein? Wenn unser starker Arm es will, dann stehen alle Räder still.
Der Hass auf die müßige Klasse, die sich aufgrund ihrer Herrschaft von der Arbeit freisetzt, verwandelt sich in Hass auf die Muße, und zwar mit gewisser Zwangsläufigkeit, gegenüber der sich das Recht auf Faulheit blamiert, zumal es von den kurzfristigen Interessen verschieden ist. »Die Bibel sagt ganz richtig, dass die Arbeit eine Strafe für den Menschen ist: Adam und seine Nachkommen sind dazu verurteilt, beim Schweiße ihres Angesichts ihr Brot zu verdienen... Aber diese undankbare Arbeit, von der unser Leben abhängt, oft finden wir sie nicht einmal.« (Charles Fourier)
Befreit von der Arbeit war der Prolet nur als Arbeitsloser, ein Zustand, der die Arbeit noch im rosigen Licht erscheinen lässt und das Recht auf Arbeit zur Tagesforderung machte. Die bürgerliche puritanische Arbeitsmoral, die das kapitalistische Zeitalter bei den Massen durchsetzt, wird verinnerlicht, der Not gehorchend, die mit der Arbeitslosigkeit verbunden war. Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen; bei verstaatlichten Produktionsmitteln und unentwickelten industriellen Voraussetzungen wiederholt sich das Elend der primären Akkumulation auch in der Sowjetunion.
Die Diskussion über die Arbeit [...] unter dem Gesichtspunkt von Entfremdet und Nichtentfremdet wieder aufzunehmen, fällt hinter die technischen Möglichkeiten zurück, die auf ihre endgültige Abschaffung weisen. Die Abschaffung der Arbeit ist konkrete Utopie, weil sie endlich Erleichterung und Aufatmen bringt, konkret, weil die materiellen Voraussetzungen existieren.
Je wahrscheinlicher die Befriedung des Daseins geworden ist, um so unwahrscheinlicher ihre Verwirklichung. Die Klasse, die Anlass hätte, einen menschenwürdigen Zustand einzurichten, bescheidet sich mit den Gratifikationen, die ihr zugeteilt werden; die Theorie, die darüber aufklärt, wird von ihr gehasst, und die Aktionen, die das Bewusstsein über die Möglichkeit der Abschaffung von Elend und Herrschaft verallgemeinern wollen, ziehen den Zorn derjenigen auf sich, deren objektivem Interesse sie folgen.
Die bürgerliche Gesellschaft nennt diejenigen Materialisten, die dem Materialismus der bürgerlichen Gesellschaft auf die Spur kommen. Als Menschenverächter erscheinen ihr diejenigen, die den menschenmissachtenden Zynismus ihrer Bewegungsgesetze offen und ohne Verbrämung darstellen. [...]
Der Boxsport verkörpert in nuce die bürgerlichen Prinzipien: Mann gegen Mann, bis zum Bankrott. Brechts Vorliebe für die raue Gangart sympathisiert mit ihrer mangelhaft entwickelten Ideologiefreudigkeit. Seine Vorliebe wurde von der Arbeitersportbewegung nicht geteilt. Energisch und erfolglos bekämpft sie die Auswüchse des kapitalistischen Zuschauersports. Dem passiven Voyeurismus wird die Aktivierung der Massen entgegengesetzt, ein Programm, das, ohne seine Klassenkampfparolen, vom Sportbetrieb der Faschisten eingelöst wird.
Die Klasse, die nichts zu verlieren hatte als ihre Ketten, wollte an den Errungenschaften der bürgerlichen Kultur partizipieren. [...] Freilich sollte die bürgerliche Kultur nicht insgesamt demokratisiert werden. Das lasterhafte Leben und die Ausschweifungen der dekadenten herrschenden Klasse waren den Sozialdemokraten zuwider. Dagegen wird das gesunde Volksempfinden und die starke Natürlichkeit der unteren Schichten mobilisiert. Mit Ausnahme der Sittenlosigkeit sollte die bürgerliche Kultur auch für den kleinen Mann erkämpft werden. [...] Helmut Wagner, ein Theoretiker der Arbeitersportbewegung der zwanziger Jahre, begreift die sportliche Aktivität als ein mäßigendes Korrektiv gegenüber »einer künstlichen Übersteigerung des Sexualverlangens«. [...] Als Erziehungsinstanz hat der Sportverein seine guten Dienste am jungen Menschen unter Beweis gestellt. Auch Unorganisierten liefern die Sportskanonen Vorbilder, über die sie in den Horizont von Disziplin und Leistung integriert werden. Das vorbildliche Team liefert ein Muster erfolgreicher Einordnung und Anpassung, in dem für den Eigenbrötler kein Platz ist. Die von den gesellschaftlichen Zuständen hervorgelockten Aggressionen werden [...] abgelenkt auf den Gegner und den eigenen Leib, der sich der Gesundheit zuliebe in Schuss halten soll. [...]
Sport ist politisch dadurch, dass er den Körper in ein leistungsfähiges Muskelsystem verwandelt. Die Instrumentalisierung des Körpers für sportliche Zwecke steht in keinem Widerspruch zu den Erfordernissen der Arbeit. Dass der Körper ertüchtigt werde und gesund bleibe, deckt sich mit den Bedürfnissen der Gesellschaft nach seiner Verwertung im Arbeitsprozess und mit den Anforderungen, die an einen tüchtigen Konsumenten gestellt werden. Der Leistungsgedanke, der im Sport seinen Ausdruck findet, ist identisch mit dem Prinzip der Arbeit. Die Anstrengungen, die der Sport meint, erfährt der Körper als Unterdrückung, auch wenn er sich angewöhnen musste, damit seine masochistische Befriedigung zu verbinden. Was am Körper nach unerwünschter Lustbarkeit verlangt, wird niedergekämpft und als Triumph über die lahmen Glieder genossen. Der von der Berufsarbeit nicht erfasste Körper wird mit einbezogen in ein sportliches Ausgleichsprogramm, das nach einem Wort von Freud den Sexualgenuss durch Bewegungslust ersetzt.
»Dem Körper wird ein Teil der Funktion zurückgegeben, welche ihm die Maschine entzogen hat. Das Modell, an dem sich der Sport dabei orientiert, ist jedoch kein anderes als das einer leistungsfähigen Maschine.« (Adorno) [...] Die technische Perfektion wird bewundert. Der Gegner kommt unter die Räder. Die Angriffsmaschine rollt. Der Sturmtank. Und so weiter. Emil Zatopek ging als tschechische Lokomotive in die Geschichte ein. [...]
Das allseitig entwickelte Individuum, dessen vom entfremdeten Produktionsprozess unterdrückten menschlichen Möglichkeiten die Marx’sche Theorie zur Entfaltung verhelfen wollte, dient in den sozialistischen Ländern zur Rechtfertigung einer Körperkultur, die das Individuum in die beglückende Gemeinschaft kollektiver Formationen einreiht. Der Gedanke an Jedermannsturnen und Breitensport, der selten noch vom Spitzen- oder Hochleistungsbetrieb abgehoben, sondern als dessen Voraussetzung begriffen wird, möchte auf alle ausdehnen, was bisher nur wenigen Auserwählten vorbehalten blieb. [...]
Sport ist ein hervorragendes Medium der Integration in den bestehenden gesellschaftlichen Rahmen. Seine Legitimation ist auf diesen bezogen, von ihm entlehnt und nur durch ihn hindurch zu kritisieren. Nicht der Sport ist zu verwerfen, sondern die Gesellschaft, in der er sich konstituiert. Wird der Sport anspruchsvoll und legitimiert sich als Schule der Ritterlichkeit, Fairness und Gerechtigkeit, dann ist zunächst einmal festzuhalten, wie prächtig diese Tugenden als Regulatoren innerhalb der bestehenden Gewalt- und Ohnmachtsverhältnisse funktionieren, ohne dass sie dem Gesamtzusammenhang noch gefährlich werden. Unabhängig davon geht es nicht darum, mit einem humanisierenden Korsett von Reglementierungen den aggressiven Ausbrüchen Schranken zu setzen. Diese wären gegen die Gesellschaft zu richten, der sie ihre Existenz verdanken, um ihnen den Nährboden zu entziehen. [...]
Unterstreicht der Sport seine sittliche Wirkung und begreift sich als Schule für den Lebenskampf, wo der Einzelne sich beizeiten einfügen und abhärten lernt, so ist ihm zugute zu halten, dass er seine integrative Funktion offen ausspricht. Bezogen auf die Erfordernisse der demokratischen Grundordnung darf der Sport für sich reklamieren, dass er sozialaktive Persönlichkeiten hervorbringt, die bereit sind, mit Hand anzulegen und Verantwortung zu tragen, wo andere entweder abseits stehen oder alles zerstören wollen. [...]

Dieter Bott

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last modified: 28.3.2007