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Abstraktion – die etwas andere Versuchung


Plädoyer für dialektische Kritik

Neuerdings, so scheint es, macht sich innerhalb der Leipziger Linken eine Tendenz breit, die alles andere als emanzipatorisch daherkommt. Gemeint ist jene Praxis, die die Lebenslüge von „Political Correctness“ mittels und einzig (!) durch abstrakte Verallgemeinerungen auszuschalten im Sinne hat. Dies zu hinterfragen, soll Anspruch des Artikels sein.
    „Wer denkt abstrakt? Der ungebildete Mensch, nicht der gebildete. Ich brauche für meinen Satz nur Beispiele anführen... Es wird also ein Mörder zur Richtstätte geführt. Dem gemeinen Volk ist er nichts als ein Mörder. Damen machen vielleicht die Bemerkung, daß er ein kräftiger, schöner, interessanter Mann ist. Jenes Volk findet die Bemerkung entsetzlich; was? ein Mörder schön? Ein Menschenkenner sucht den Gang auf, den die Bildung dieses Verbrechers genommen, findet in seiner Geschichte, in seiner Erziehung schlechte Familienverhältnisse des Vaters und der Mutter, bei einem leichteren Vergehen dieses Menschen irgendeine ungeheure Härte, die ihn gegen die bürgerliche Ordnung erbitterte, eine erste Rückwirkung dagegen, die ihn daraus vertrieb, und es ihm jetzt nur durch Verbrechen sich zu erhalten möglich machte. Dies heißt abstrakt gedacht, in dem Mörder nichts als dies Abstrakte, daß er ein Mörder ist, zu sehen und durch diese einfache Qualität alles menschliche Wesen in ihm zu vertilgen.“(1) (Ernst Bloch)
Zugang

Nun soll sich dies illustrierende Beispiel nicht darum drehen, ob benannter Mensch nun ein Mörder sei oder nicht. Vielmehr geht es darum, zu zeigen, wie nahe es oftmals liegt, konkrete Tatsachen unter geprägte Kategorien zu subsumieren, wodurch dann der eigentliche Sachverhalt in der Unzulänglichkeit des (Ober-) Begriffs verschwindet. Dies generell einzuklagen, käme etwa der Forderung gleich, dem Blinden mit der Taschenlampe den Weg auszuleuchten, aber es steckt doch vor allem für das populär unpopuläre Medium der Kritik ein wesentlicher Aspekt darin.
Das Blochsche Beispiel könnte sich ebenso um anderes konstituieren, etwa um „Soldaten“, „Huren“, „Politiker“, „Kritiker“ gar „Männer“ und „Frauen“, alles Kategorien mit denen sich nichts als abstrakte Vorstellungen assoziieren lassen und die über die jeweiligen Individuen überhaupt nichts sagen. Bliebe man wie einige Pseudokritiker auf der Ebene der Abstraktionen, so wäre die Wirklichkeit recht einfach zu erfassen. Nichts wäre über, was da nicht der Identitätslogik der abstrakten Begriffe anheim fallen würde. So landet man fast selbstverständlich beim Argument der totalen Vermitteltheit.
Abstraktion läßt zunächst die Unterschiede verschwinden – doch mit ihnen schwinden in erwähnter Weise auch jegliche Vorstellungen der konkreten Gegenstände. Was bleibt, ist ein scheinbar widerspruchsloses Resultat, eine „vernünftige Wirklichkeit“ (Hegel). Hegelsche Bauernschläue usurpiert den Platz Hegelscher Dialektik. Als bloßes Kratzen an der Oberfläche mutet es an, wenn im politischen Kreis, am Kneipentresen oder am WG-Küchentisch die Totalität des vermittelten Ganzen als Ausrede für konkrete Widersprüche verkauft wird und sich auf ein pathetisches „Es ist halt so!“ zurückgezogen wird. Der Verweis aufs Wertgesetz tut dem Unbehagen zwar keinen Abbruch, doch immerhin wähnt man sich sicher, schließlich könne man ja dessen Versatzstücke überall wahrnehmen. Um so leichter lässt sich’s zurückfallen in wohlige Streicheleinheiten der (Sub-) Kulturindustrie oder sonstiger Robinsonaden.(2) Dergleichen Bauernschläue schlägt um in Hegelsche Endlosschleifen...
Geriert wird Praxis, welche angeblich aus Theorie hervorgehen soll, aber nachdrücklich auf ihrer Immanenz beharrt und somit den Anspruch, umwälzend sein zu müssen, verliert. Der Marxsche Imperativ von der Umwerfung aller Verhältnisse, der das treffend formuliert, verkommt jedoch zur nihilistischen Parole. Das altbekannte „Sie wissen das nicht, aber sie tun es“(3) wird zum „Sie tun das, wissen das auch, aber tun es deshalb erst recht.“ Die fetischistischen Verhältnisse verdoppeln sich, schlagen um in Überaffirmation. Dies ist selbstredend keine ernstzunehmende Kritik mehr, sondern nur noch Pseudokritik, die sich selbst einen „drübersteherischen Touch“ verleiht und zu nichts anderem wird als einer weiteren Form der Zurichtung auf die realen Zwangsverhältnisse.

Zueignung

Wer also Theorie ausschließlich durch Abstraktion verkaufen will und aufs Konkrete verzichtet, dem ist ein Abgleiten ins Unkritische vorprogrammiert. Zum Apologeten der bürgerlichen Verhältnisse macht sich, wer nicht anders als das bürgerliche Gesetzbuch die warenproduzierende Totalität allein durch abstrakte Verallgemeinerungen zu fassen glaubt, er gleitet ab ins Phrasenhafte. Was also passiert den Pseudokritikern, die sich selbstschützend in sarkastische Gewänder hüllen und die Kunst der Verdrängung praktizieren? Sie verzichten auf dialektische Kritik, die zu denunzieren hätte, dass Totalität sich nur durch ihre Widersprüche hindurch vermittelt, den Dingen und vor allem den Menschen Gewalt antut, um als unbewusster Zusammenhang zu bestehen. Die falschen Verhältnisse erhalten in der Hegelschen Doktrin von der „Identität der Identität und Nichtidentität“ ihren wirklichen Ausdruck, den es zu demontieren gälte.
Begriff und zu Begreifendes sind nicht identisch; unversöhnt. „Die Trennung von Subjekt und Objekt ist real und Schein. Wahr, weil sie im Bereich der Erkenntnis der realen Trennung, der Gespaltenheit des menschlichen Zustands, einem zwangvoll Gewordenen Ausdruck verleiht; unwahr, weil die gewordene Trennung nicht hypostasiert, nicht zur Invarianten verzaubert werden darf.“(4) Wenn man Adorno hier beim Wort nimmt, dann insofern, als er einfordert, die scheinbare Identität von Begriff und Sache als „unwahr“, also zwanghaft zu begreifen. Konsequentes Denken heißt damit nicht, die starre Dialektik von Identität und Nichtidentität zur Hypostase (Vergegenständlichung eines nur denkbaren Sachverhalts) zu treiben, sondern bewusst Nichtidentität (das Unbegriffene im Begriff) zu denken, d.h. negative Dialektik zum Ausgangspunkt kritischen Denkens zu machen.
Zur Kategorie der Nichtidentität kann jedoch nichts rational Bestimmtes gesagt werden, weil sie ja gerade für das Unbestimmbare einsteht. Insofern ist sie blinder Fleck in der Vermittlung der Wirklichkeit und daher nicht exakt zu greifen. Die Sehnsucht nach Transzendenz (Freiheit jenseits der „Freiheit“ im Bestehenden) haftet dem an. Wer jetzt nicht weiß, wovon die Rede ist (nebenbei gesagt ist das der schwierigen Vermittelbarkeit der Thematik auf theoretischer Ebene anzulasten), der stelle sich doch bitte mal die individuell schönsten Momente seines bisherigen Lebens vor und frage sich, ob nicht manchmal Gefühle wahrscheinlich mehr ausdrücken als unendlich viele Worte. Ausgeblendet sei dabei, daß wohl Gedanken nicht anders zu denken sind als in Worten – oder? (Der Autor ist sich nicht ganz sicher.) Als Denkanstoß beigefügt seien hier mal Begriffe wie „Schönheit“ oder „Zufriedenheit“ denen man ihre Unzulänglichkeit förmlich anmerkt und die ohne höchst individuelle Note nicht denkbar wären.

Bruch

Dem Prinzip der „versteinerten Verhältnisse“ (Marx) wäre demnach das Prinzip bestimmter Negation entgegenzustellen, d.h. die Widersprüche in der begriffenen Form des Ganzen gegen ihre Vermittlung zu kehren. Selbstreflexion als mit diesem Prinzip einhergehend, hieße damit das konkret Erfahrbare in Kritik mit einzubeziehen. Nur so ist das Mittel der Abstraktion in ihren Ursprung (das konkrete Problem) zurückzuholen. Keine Erfahrung findet statt ohne Subjekt. Schleift diese sich ein, wird sie zur unbewussten Rolle, denn die Verinnerlichung der Rollen schließt deren Nichterkennung ein. Dialektische Kritik hätte das Verhältnis der Verdinglichung der Personen und der Personalisierung der dinglichen Verhältnisse zu durchbrechen. Abstraktion in diesem Sinne wäre die Konkretisierung des abstrakt Konkreten, die Materie durch ihre Form gespiegelt dargestellt.
Die Versagung des Konkreten hingegen ist der gleichzeitige Verlust von Qualität (davon wird abstrahiert) und das Abgleiten in hölzerne Denkmuster. Quantität, welche ja selbst nur eine Art von Qualität ist, wird leicht leitendes Moment. Wiederholung bestätigt die Regel, Statistik wird zum Steckenpferd, die Zahl zum Dogma. Der „Bodycount“ ist schnell herbeigezerrt, die bürgerliche Wissenschaft macht das ähnlich. Derartiges Herausreden ist falsche Abstraktion, ihre absolute Verselbständigung gegenüber dem, woraus sie hervorgeht. Aber nur Qualität lässt sich konkret erfahren und hat in Abstraktion sich zu bewahren. „Gerade in den Brüchen zwischen Erfahrung und Begriff muß Verständnis einhaken. Wo die Begriffe zur Apparatur sich verselbständigen... sind sie in die motivierende geistige Erfahrung zurückzuholen, so lebendig zu machen, wie sie es sein möchten und zwangsläufig nicht sein können. – Andererseits affiziert bei Hegel der Primat der geistigen Erfahrung auch die begriffliche Gestalt.“(5)
Es bleibt zu hoffen, daß die thematisierte Pseudokritik nicht zur populären Veranstaltung wird. Herausgehen aus falscher Praxis sollte gleichzeitig Warnung vor einem Rückfall implizieren und dennoch auf konkretes Handeln nicht verzichten. Von Geschichte ist nicht zu abstrahieren, Erfahrung nicht auszulöschen. Dialektische Kritik heißt Nachvollzug des werdenden Ganzen in seinem widersprüchlichen Prozess. Alles andere ist bestenfalls Pseudokritik oder bequemes Reisen per Zug mit zufälligem Aufwachen nur an einigen Bahnhöfen ohne Chance auf Ausstieg.
Roman

Fußnoten:
(1) Ernst Bloch, Subjekt-Objekt. Erläuterungen zu Hegel, Frankfurt a. M. 1962, S. 30.
(2) Einem gesunden Hedonismus soll hier nicht seine Berechtigung abgesprochen werden, schließlich ist die Gesamtveranstaltung Kapitalismus viel zu scheußlich, um sich bewußt einer Dauerbestrahlung auszusetzen.
(3) Karl Marx, Das Kapital. Band 1, Berlin 1974, S. 88.
(4) Theodor W. Adorno, Zu Subjekt und Objekt, in: Stichworte, Frankfurt a. M. 1969, S. 152.
(5) Theodor W. Adorno, Drei Studien zu Hegel, Frankfurt a. M. 1974, S. 126f.

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last modified: 28.3.2007