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Genese und Aktualität des Patriarchats


Schaufensterpuppe, 21.1k


Dass die linke Subkulturszene eine ist, in der die Männerdominanz im Gegensatz zu vielen anderen Zusammenhängen, wie beispielsweise der quotierten CDU, leider ziemlich intakt ist, veranlasst Frauen in dieser Subkulturszene zurecht zu Veranstaltungen wie dem „Ladyfest“. Bei jenem, formuliert die Vorbereitungsgruppe, „geben (Frauen) ihre passive Rolle auf und greifen selbst zum Instrument, schreiben Gedichte oder Texte, stellen sich hinters Mischpult, regen Entscheidungen an und tragen sie mit ... Beim Ladyfest geht es um Partizipation ...“(1).
Diese Willensbekundung ist angenehm direkt, wird fortfolgend aber durch eine intellektuelle Redlichkeit gerechtfertigt, die weder zur geplanten Veranstaltung noch zur Kritik des Patriarchats beiträgt.
Ein bisschen Roswitha Scholz hier paraphrasiert und ein wenig Gerda Lerner da. So steht dann schwarz auf weiß, mit Verweis auf Roswitha Scholz, dass „Zuschreibungen ... eine Aufteilung des Gesellschaftlichen Lebens in die Bereiche Produktion ... und Reproduktion“ erzeugen. Hier wird mit Scholz gegen Scholz argumentiert und an anderer Stelle tautologisch: Während „all unsere Maßstäbe,Wertungen und Definitionen auf dem Prinzip der Zweigeschlechtlichkeit basieren“, basiert das Prinzip der Zweigeschlechtlichkeit... worauf? – auf Zuschreibungen: „...dem ... Geschlechtsverhältnis liegen klare Zuschreibungen zugrunde.“ A wird durch B begründet und B durch A.
Wo der Text nicht mit plötzlich einfallenden Abstraktionen á la „gesellschaftliche Struktur“, „Identitätsbildung“, „Mechanismen“ und „Zuschreibung“ dem Patriarchat beizukommen versucht, führt er die Entstehung des Patriarchats auf patriarchales Verhalten zurück und setzt das ach so „sozial konstruierte“ Geschlecht, Mann und Frau, schon voraus: „Im Prozess der Entstehung und Entwicklung patriarchaler Verhältnisse der abendländischen Kultur wurde durch tatsächliche Unterdrückung und Gewaltausübung von Männern an Frauen das Geschlechtsverhältnis etabliert und mit ihm Herrschaft manifestiert.“ Angesichts dieser Aussagen ist es nochmals zu bedauern, dass die Vorbereitungsgruppe ihren Event, auf dem Frauen Musik machen und „partizipieren“ wollen, mit unnötigem Begriffs-Zirkus ankündigt, statt es bei der völlig nachvollziehbaren Willensbekundung zu belassen, die eingangs zitiert wurde.
Die Frage, wie das Patriarchat zu überwinden ist, drängt sich auf. Und mit ihr die Frage nach der Genese des Patriarchats.

Natur und Geist

Das mittlerweile 13 Jahre alte Buch von Christoph Türcke, Sexus und Geist, endet mit einer Aussage, in der sowohl der Argumentationsgang des Buches als auch dessen Ergebnisse ganz knapp zusammengefasst sind: „Man muss sich klar machen, inwiefern das Patriarchat unbewältigtes Matriarchat ist, inwiefern der Kapitalismus aus dem Patriarchat hinausgewachsen ist, sowohl die Indifferenz, als auch die Quintessenz von Patriarchat und Matriarchat darstellt, sowohl subjektlos als auch Subjekt ist, kein Bewusstsein hat und dennoch die Figur der Reflexion beschreibt, sowohl mit Sexualität als auch mit Theologie vollgesogen ist und beide zu ökonomischen Sachzwängen neutralisiert hat – wenn man die Geschlechterkonstellation von heute ins rechte Licht rücken will.“ (248(2))
Um Matriarchat und Patriarchat zu begreifen, beleuchtet Türcke in der Geschichte der Menschheit das Verhältnis von Geist und Natur. Der Mensch ist mit seinem geistigen Vermögen dem Naturzusammenhang entsprungen. Wie dieser Geist entstanden ist, vermeidet Türcke absichtlich zu erklären. Mit Geist versehen sind nun aber Lebewesen in der Welt, die sich dieser gegenüber aktiv als Subjekte verhalten können und sie sowohl geistig als auch praktisch zu ihrem Inhalt machen. Das heißt, dass die Menschen sich sowohl zu der sie umgebenden Natur, zu anderen Menschen als auch zu sich selbst als Natur- und geistige Wesen verhalten. Doch bis der Geist sich selbst reflektiert hat, sind mehrere Millionen Jahre vergangen. Eine Zeit, in der sich die Menschen aktiv verhalten haben, ohne das dieser Aktivität vorausgesetzte Vermögen zu reflektieren.

Das Matriarchat

Aus dieser Zeit sind wenig Quellen erhalten, so dass Türcke wenige Indizien für die Entstehung des Matriarchats heranziehen kann. Dass es das Matriarchat gegeben hat, beweisen die vielerorts gefundenen Venusstatuetten. Diese und von griechischen Dichtern überlieferte Mythen lassen darauf schließen, dass in der Frau Heiliges verehrt wurde. Insbesondere die weiblichen Geschlechtsmerkmale sind in den Statuetten äußerst voluminös dargestellt – das soziale ist vermittels des biologischen Geschlechts modelliert, ist jenem entrückt aber doch verbunden. So war die Frau als Gebärende des menschlichen Lebens der Inbegriff des Lebens und der Mittelpunkt des Kults. Schon aus dieser Zeit stammt auch die Vorstellung einer „Mutter Erde“, aus der das Leben hervorgeht und in die es wieder zurückkehrt. Diese Vorstellung entliest Türcke der griechischen Mythologie. So ist beispielsweise der Name der Göttin Hera vermutlich eine Form von He Era, die Erde.
Die Annahme eines Grunds des Lebens, der in Erde und Frau vorgestellt wurde, ist äußerst folgenreich. Schon im Matriarchat bereitet sich jene Reflexionsstruktur vor, die im Patriarchat und besonders in dessen innigsten Ausprägungen, dem Christentum und dem Idealismus, in aller Schärfe entfaltet wird und sich laut Türcke im Kapitalverhältnis versachlicht und entgeistigt. Der Grund des Lebens, wie ihn das Matriarchat in Mutter Erde beziehungsweise der Großen Mutter und deren allseits präsenten Repräsentantinnen vorstellt, synthetisiert die Vielfalt im Bewusstsein zu einer Einheit, diktiert als vorgestelltes Allgemeines das Besondere und stiftet immer und überall Kausalität. Diese Reflexionsstruktur und mit ihr die Totalität ist aber noch nicht durchgebildet und noch von der Vorstellung von Gespenstern und Dämonen zersetzt.
Es war laut Türcke eine folgenreiche Entdeckung, dass die Frau nicht ohne männliche Befruchtung gebärt und die Mutter Erde nicht ohne Naturkräfte die Lebensgrundlagen der Menschen hervorbringt. In der griechischen Mythologie werden später übrigens diejenigen Naturkräfte durch männliche Götter repräsentiert, die nicht so handfeste Naturdinge wie die Erde zu sein scheinen, aber trotzdem wahrgenommen werden können: Wasser, Licht, Luft. Doch zurück zum Matriarchat. Der Mann wird im Kult als Akzident der weiblichen Lebenskraft zunehmend gewürdigt, d.h. beispielsweise: auch er wird geopfert, nicht mehr nur Frauen. An der Sublimierung des Opfers belegt Türcke das langsame Entwachsen des Patriarchats aus dem Matriarchat. Doch warum haben Menschen geopfert? Opfer schlechthin sind, wie Türcke meint, eine Art Äquivalententausch und Überlistung gleichzeitig. Die Menschen versuchen den Schrecken abzuwenden, indem sie ihn zum einen in der Opferzeremonie durchspielen (verarbeiten) und zum anderen gleichzeitig der verheiligten Allgemeinheit ein Substitut für jenes große Opfer darbieten, das diese zu fordern imstande ist. Die große Mutter, der das Opfer im Matriarchat gebracht wird, soll besänftigt werden. Das Opfer darf natürlich nicht so gewählt sein, dass die Große Mutter sich geprellt vorkommt. Männer taugten also so lange nicht zum Opfer, wie ihnen keine unmittelbar lebensstiftende Rolle zugesprochen wurde. Als aber ihre akzidentelle Rolle erkannt war, wurden sie geopfert. Auf diese Sublimierung des Opfers folgten weitere: Die Männer wurden bald zur Wintersonnenwende geopfert, just dann, wenn die Große Mutter vom Welken ins Sprießen zurückkehrt. Und irgendwann wurde nur ein Mann zum passenden Zeitpunkt geopfert, und der war behutsam ausgewählt.
In der Aufwertung des Mannes hat sich das Matriarchat das patriarchale Aufbegehren herangezogen. Dieses bebildert Türcke zuerst einmal anhand der mythologischen Überlieferung. Die griechischen Heroen waren deswegen so stark, weil sie den Modus zur Wahl dessen durchlaufen hatten, der zur Opferung prädestiniert ist. Andererseits fechten sie, wie etwa Herakles (wörtlich: „der durch Hera berühmte“), Theseus und Bellerophon, ihre Kämpfe schon gegen die Amazonen aus. Aus potenziellen Opfern werden Rebellen. Der Übergang zum Patriarchat war aber in erster Linie keine körperliche, sondern eine geistige Leistung.

Das Patriarchat

Es dämmerte den Menschen nach jahrhunderterlanger Naturbearbeitung und deren fortwährendem Fortschritt langsam, dass sie es sind, die der Erde größere Leistungen entlocken. Und da die Frauen die menschlichen Repräsentantinnen der Mutter Erde sind und die Männer jene waren, die nicht die Sippe betreuten, sondern der Mutter Erde Leistungen durch ackerbauliche Aktivitäten entlockten, kippte in einem langwierigen gewaltsamen Prozess das Matriarchat. Im sich entwickelnden Patriarchat entdeckten die Menschen dasjenige Vermögen, was die Männer dazu befähigte, die Erde zu kultivieren: den Geist. Das unterschied sie von den Tieren und auch den Frauen. An sich ist der Geist zwar keineswegs geschlechtsspezifisch, wurde unter den Bedingungen des Matriarchats aber als ein Männliches erfahren. Begrifflich entdeckt sich der Geist nur langsam. Im antiken Griechenland wie auch in Ägypten und Babylonien schwangen sich männliche Götter zu den Chefgöttern auf und standen für Elemente, die weniger stofflicher Natur waren. Die Frauen werden in der Götterwelt zum Abglanz der Götter degradiert.
Neulich wurde dies bei der Eröffnungszeremonie der diesjährigen Olympischen Spiele illustriert. Ein großes Schauspiel, das laut Medien-Angaben 3,9 Milliarden Menschen an den Bildschirmen verfolgten (Nebenbei gefragt: Haben 3,9 Milliarden Menschen Zugang zu Strom und Fernsehen?). Eine ergreifende Szene der Zeremonie bestand darin, dass eine Frau mit leuchtend-schwangerem Bauch zaghaft die dunkle, von zig Tausenden Zuschauern umsäumte Leere des Stadiongrundes bis zum Mittelpunkt durchschritt und durch ihr Gebähren eine fulminante Lichtshow in die Welt, hier das Athener Olympiastadion, setzte. Die leuchtend-schwangere Frau stellte die Erdgöttin Gaia dar, die Lichtshow den Kosmosgott Uranos.
Gaia ist der Anfang der gesamten klassischen Götterabfolge. Ihren Sohn Uranos nahm sie zum Gemahl. Eines der männlichen Kinder, Kronos, rebellierte mit Hilfe der Mutter gegen den Vater. Von nun an hatten die Männer das Sagen, insbesondere Zeus, das Enkelkind der Gaia, dessen zahlreiche Liebesgeschichten zum größten Teil euphemistisch in Szene gesetzte Vergewaltigungen sind, aus denen viele Kinder hervorgingen. Gaia stand ihrem Enkelkind, wo immer sie konnte – großmütterlich hilfsbereit zur Seite. Das Weibliche war aber auch repräsentiert in schönen, sinnliche Gestalten, in gefährlich-verführerischen Sirenen und heimtückisch kämpfenden Ungeheuern.
Die Emanzipation der Männer von den Frauen im Beginn des Patriarchats ist wesentlich eine des Geistes von der- in die Frauen projizierten - Natur. Die Geschichte des Patriarchats ist demnach wesentlich die fortgesetzte Geschichte der Losmachung des Geistes von der Natur. Diese Geschichte inhäriert einerseits die Emanzipation des Menschen vom Naturzusammenhang und andererseits Herrschaft über Natur, die sich nicht nur in der Unterdrückung der Frauen, sondern auch in einer Herrschaft des Subjekts über sich selbst ausdrückt: „Selbsterhaltung“: „Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war...“(3) „Der Mann muß hinaus ins feindliche Leben, muß wirken und streben. Die Frau ist nicht Subjekt. Sie produziert nicht, sondern pflegt die Produzierenden... Sie wurde zur Verkörperung der biologischen Funktion, zum Bild der Natur, in deren Unterdrückung der Ruhmestitel dieser Zivilisation bestand. Grenzenlos Natur zu beherrschen, den Kosmos in ein unendliches Jagdgebiet zu verwandeln, war der Wunschtraum der Jahrtausende. Darauf war die Idee des Menschen in der Männergesellschaft abgestimmt. Das war der Sinn der Vernunft, mit der er sich brüstete.“(4) Türcke expliziert diese fragmentarischen Anspielungen Adornos und Horkheimers auf das Patriarchat zu einer Geschichte des Patriarchats und zeigt damit, dass die Selbstentdeckung des Geistes – vom Mythos zum Logos – zugleich eine unheilvolle Verabsolutierung des Geistes war. Ausgehend von der antiken Philosophie und der Entstehung des Judentums, der ersten monotheistischen Religion, verfolgt er die Geistesgeschichte bis in die frühe Neuzeit. Im „Sein“ wird sich das Allgemeine, Grundlegende von dem griechischen Philosophen Parmenides erstmals völlig entsinnlicht vorgestellt. Das „Sein“ ist laut Türcke konsequent zu Ende gedachte Große Mutter. Im „Sein“ jedoch ist alles sinnlich Wahrnehmbare ausgeschlossen. Worauf verweist dieser Begriff, wenn er nichts Sinnliches bezeichnet? Türcke begibt sich in der Analyse dieses qualitativ neuen Begriffs nicht auf die Pfade Alfred Sohn-Rethels, der die Entstehung des Begriffes „Sein“ auf die Entstehung des Geldes, d.h. eine wirklich von aller Stofflichkeit abstrahierende gesellschaftliche Objektivität zurückführt. Türcke geht vielmehr von dem menschlichen Geist als etwas aus, das wirklich von der Dingwelt und den Sinneserfahrungen unterschieden ist. Bloß dass dieser Geist ohne den durch die Sinne vermittelten Bezug auf und die Auseinandersetzung mit der Dingwelt so leer und damit so verloren ist wie der Begriff „Sein“. Das „Sein“ bezeichnet demnach durchaus etwas Gegebenes: die rein geistige Seite des Verhältnisses von Natur und Geist. Der Geist ist zwar aus der Natur „entstanden“, ihr aber auch „entwischt“ (10) „... Parmenides geht der Geist in seiner eigenen Gestalt auf: der unanschaulich-begrifflichen. ... ein unstoffliches Sein, das sich wiederum nur durch unstoffliche, von jeder Sinneswahrnehmung unterschiedene Begriffe erfassen lässt – dies gehört zu den unhintergehbaren Einsichten des Idealismus...“ (57f. u. 59) Das Problem ist demnach nicht, dass dieses „Sein“ begrifflich entdeckt wurde, sondern dass es von Parmenides mit großer Dignität versehen wurde. Denn „Sein“ als reiner Begriff ist genau so armselig wie entsinnlichter Geist. „Er bedarf dessen, was anders ist als er selbst... „ Der Idealismus hingegen würdigt ein „in sich selbst gegründetes, sich selbst genügendes Reich ideellen Seins“ und landet in der Wahnvorstellung, „das von Stoff und Wahrnehmung Unterschiedene sei gänzlich unabhängig von Stoff und Wahrnehmung...“ (59) Dieser Wahn führt den Idealismus direkt in die Affirmation des Todes – Sokrates nimmt den Schierlingsbecher gerne zu sich: „... wenn wir je etwas rein erkennen wollen, (müssen) wir uns von ihm (dem Leib) losmachen... Und offenbar dann erst werden wir haben, was wir begehren..., die Weisheit, wenn wir tot sein werden.“(5) Reines „Sein“, reiner „Geist“, all die idealistischen Begriffe, die eine reine Identität vorstellen, erfüllen sich im Tod, den sie antizipieren.
Der antike Reinheits- und Autarkiewahn des Geistes wird sich im Mittelalter zu einem Hexenwahn transponieren. Zuvor jedoch fahndet Türcke in den patriarchalen antiken Philosophien nach der verdrängten Natur und findet sie zum einen in erotischen Erörterungen der Philosophen und zum zweiten in den Frauen- und Männerbildern der Philosophen. Bei Aristoteles braucht Türcke nicht mehr zwischen den Zeilen zu lesen, jener formuliert affirmativ, ausdrücklich und unverblümt die Quintessenz patriarchalen Denkens: „Denn besser und göttlicher ist das Prinzip der Bewegung, welches das Männliche in den Geschöpfen ist; der Stoff aber ist das Weibliche.“ „Der Köper ... kommt vom Weiblichen; die Seele dagegen vom Männlichen; denn die Seele ist das Wesen eines Körpers.“(6) Das „Prinzip der Bewegung“ ist Aristoteles’ fortentwickelter Ausdruck für das „Sein“.
Das Christentum, welches die abendländische Gesellschaft im Mittelalter laut Türcke zutiefst prägte(7), ist extremes Patriarchat. Gott als Zeugender. Maria als jungfräulicher und fürsorglicher Aufbewahrungsbehälter für Gottes Samen. Diese patriarchale Konzeption ist dem Christentum nicht angepappt, sondern wohnt ihm wesentlich inne. Türcke weist bestechend nach, dass die Trinität Gott, Gottes Sohn, Heiliger Geist die ewige Abkehr vom weiblichen Geschlecht ist – die ewig in sich kreisende und sich selbst befriedigende männliche, entsinnlichte Bewegung des Geistes. Diese vollkommene Form, die Hegel mal als Bedingung der Möglichkeit seiner Philosophie und als „spekulativen Karfreitag“ bezeichnete, ist und bleibt letztlich aber leere Reflexion.
Ein anderes dem Christentum innewohnendes patriarchales Moment ist die Versöhnung mit der unversöhnten Welt. Die dominierende und kirchlich einzig relevante Interpretation der Kreuzigung Jesus’ als Sühneopfer für alle Menschen ist, verglichen mit der messianischen Vorstellung des Judentums, regressiv, obwohl Jesus als leibhaftige historische Person eine progressive Rolle gegen das Judentum eingenommen hat. Wollte sich Jesus wirklich opfern, wollte er sterben? Nein. Er wollte die Versöhnung ohne Opfer – im Einklang mit dem Judentum und im Gegensatz zum späteren Christentum – und ohne Rache – im Gegensatz zur jüdischen Vorstellung, der Messias brächte das Gericht über die Menschen. Diese Versöhnungsauffassung Jesus’ entlockt Türcke der Bibel genau so wie die Verfälschung jener zu einer Opferbereitschaft durch die christlichen Jünger. Diese Verfälschung ist der Anfang der Geschichte des christlichen Abendlandes – eine Geschichte von Gewalt und Herrschaft gegen die Individuen. Diese befriedigt derweil die Vorstellung, dass die Versöhnung durch Jesus’ Sühneopfer schon geschehen sei. Die Versöhnung in den Individuen findet solcherart rein geistig statt – auf Kosten der Versöhnung ihrer leibhaftigen, sinnlichen Daseinsweise. Das Unrecht, das das Christentum Jesus im Nachhinein angetan hat: sein unerträgliches Leiden in Erlösung umzulügen, verüben alle Christen nochmals an sich selbst. Wider diesen Stachel löckt der Glaube an die Auferstehung des Fleisches, der dem Christentum unveräußerlich ist, wie auch die nicht aufzuhebende Vorstellung von Versöhnung, die im Christentum so pervertiert wie enthalten ist: daraus nährt sich permanent das schlechte Gewissen der im Namen des Christentums verübten Herrschaft gegenüber anderen und sich selbst. Doch dieses schlechte Gewissen ist nicht nur Wiege der Humanität, sondern auch Ausgangspunkt des christlichen Wahnsinns. Das schlechte Gewissen wird verdrängt, indem alles, was es weckt, gnadenlos bekämpft wird. So wie die Welt mittels göttlicher Vernunft zusammengefasst und als versöhnt vorgestellt wird, muss alles, was an wirkliche Versöhnung und sinnliche Begierde mahnt, bekämpft werden. Der reine heilige Geist kommt nicht von der Natur los. Der sich reinigende Geist hinterlässt permanent sein Gegenteil in Form bedrohlich-fremder Natur. Dieses ihm feindliche Fremde, das seine innere Wunde und sein blinder Fleck ist, bekämpft er durch die Inquisition. Die christliche Inquisition bekämpfte zum einen hauptsächlich Frauen als Hexen und verführerische Teufelswesen, zum zweiten setzte sie ein System der Überwachung und Disziplinierung der Menschen ins Werk, wie es das lateinische Wort „inquisito“ schon verrät. Der vergebliche Versuch mittels Inquisition einen Feind zu besiegen, der zum einen kein Feind ist und zweitens den Inquisitoren selbst innewohnt, führt ungewollt in ein neues Zeitalter. Die Inquisition ist die Keimzelle einer neuen Wissenschaftsauffassung, die Francis Bacon dereinst philosophisch auf den Begriff bringen sollte. Schon die Inquisition ist Induktion. Diese dient der Erforschung und Kontrolle der Natur, jene der Herrschaft über die Menschen durch deren Erforschung und Überwachung. Alles soll der Vernunft gehorchen. Die Vernunft wandelt sich unterdessen vom Zweck zum Mittel. Das ist die hässliche Leistung der Reformation. Luther rettet die Vernunft als Mittel zur Regulation der Lebensprozesse – mit Hexen „soll man keine Barmherzigkeit haben“(8) –, trennte den Glauben von der Vernunft und stellte diese in den Dienst von jenem. Als Unterschiedenes von Gott ist Vernunft aber gleichzeitig auch Bedrohung und kann in Unheil ausarten. Für Luther sind demgemäß die Sophisten der Inbegriff des katholischen Irrweges. Im Protestantismus wird die Vernunft zu einem Instrument der Willkür; zum Instrument eines Glaubens, der sich selbst nicht mehr vernünftig begründen muss, sich selbstredend als oberste Instanz setzt.

Patriarchat und kapitalistische Produktionsverhältnisse

Aus dem Zusammenspiel von Inquisition, Naturwissenschaft, Protestantismus und einer neuen Qualität kirchlichen Wirtschaftens erklärt Türcke die Entstehung des kapitalistischen Produktionsverhältnisses und damit die „Selbstentmachtung des Patriarchats“ (S. 164). Die neue kirchliche Qualität des Wirtschaftens besteht darin, beginnend im 13. Jahrhundert, den schon bestehenden Handel aus diversen Gründen, die Türcke schildert, auf den eigenen Grundbesitz übergreifen zu lassen. Grund und Boden werden in den Tauschprozess hineingezogen – „die ökonomische Geburt der Neuzeit“ (168). Dadurch ist es nur noch „eine Frage der Zeit, daß auch das zu seiner Bearbeitung Notwendige, menschliche Arbeitskraft und Werkzeug, Warenform annimmt und Kapital [sic] nicht länger bloß das Medium darstellt, das den Austausch von Gebrauchsgütern regelt, sondern schon deren Herstellungsprozeß in Regie nimmt, sich seine eigenen materiellen Vorraussetzungen unterwirft und zu einer Macht wird, die den ganzen Gesellschaftsprozeß durchdringt.“ (ebd.) Damit einher geht die „Entzauberung der Welt“, denn was sich in Quanta umrechnen lässt, verliert jegliche überirdische Aura. Die „Entzauberung der Welt“ geht parallel im naturwissenschaftlichen Treiben vor sich. Türcke exemplifiziert diese Entzauberung anhand der Wissenschaftsauffassung Francis Bacons und zeigt gleichzeitig, wie diese Wissenschaftlichkeit aus dem Hexenwahn hervorgeht. Bacon will den Geist von allem Spuk und damit ausdrücklich die Welt von aller Hexerei „reinigen und frei machen“(9), indem er dem Geist die Methode zur Erkundung der Welt beibringt. Diese Methode nennt Bacon Induktion und sie besteht zuerst im Registrieren aller Phänomene, deren Messen und Quantifizieren. Und schließlich „folgt dann die Induktion selbst“ – das Auffinden der „Wesenheit in den Dingen“(10).
Zurück zur Zeremonie im Athener Olympiastadion. Nachdem Gaia den Kosmosgott Uranos als fulminante Lichtshow, die den Kosmos darstellen sollte, in die Welt gesetzt hatte, transformierte sich innerhalb der Lichtshow der Kosmos zu einer riesigen DNA, die phallusartig aus dem Stadion heraus in den Himmel über Athen ragte. Die Zeremonie in Athen hat in kurzer und unreflektierter Form das zum Ausdruck gebracht, was Türcke ausführlich und kritisch darstellt. Die Losmachung des Geistes von der Natur beginnt im Mythos und spinnt sich fort bis in die Naturwissenschaft, die laut Bacon „dem menschlichen Geiste einen reinen Abdruck des Lebens ... geben“(11) soll. „Ziel“ ist die „Bereicherung des menschlichen Geschlechts mit neuen Kräften und Erfindungen“(12) Die Natur soll dem Menschen Untertan werden. Bacon begründet das mit christlichem Gewissen und setzt die Inquisition in neuer Gestalt und in vorerst humanerem Antlitz fort. Induktion ist jedoch nicht nur Methode zur Beherrschung der Natur, gleichzeitig soll durch sie hindurch der Geist an die Kette genommen werden. Das Tun der Vernunft soll nicht mehr „weibisch“(13) sein. Es soll Früchte tragen als „Beweis des Geistes und seiner Kraft“(14) Der Autarkiewahn des Geistes transformiert sich in den Wahn der permanenten Selbstbestätigung, die der Geist immer wieder in den Ergebnissen seiner Arbeit erhält. Er muss „unablässig mehr aus sich machen“ (187).
„Nur wer aus dem, was er geistig und materiell hat, mehr macht, versichert sich seiner selbst, rechtfertigt sein Dasein.“ (190) Im Protestantismus findet die Einstellung, alles zu quantifizieren – sei es Grund und Boden durch die Kirche, sei es Natur und Gesellschaft durch die Wissenschaft – und in Form von Reichtum oder Erkenntnis zu akkumulieren, ihre Religion. Dieser „seelenökonomische“ Wahn „übersetzt“ und „versachlicht“ sich laut Türcke in gesellschaftliche Objektivität, d.i. das kapitalistische Produktionsverhältnis. Aus der sogenannten „ursprünglichen Akkumulation“ (Marx) gehe so das Kapitalverhältnis hervor.
Wie Marx versucht Türcke eine historische Konstellation zu schildern, aus der das Kapitalverhältnis entstehen konnte. Türcke greift dabei auf Marx und Max Weber zurück, insbesondere aber auf das bisher von ihm Dargelegte. Nun ist Marx aber vorsichtiger als Türcke. Marx versammelt zwar diverse historische Momente, ohne aus deren Konstellation jedoch stringent das Kapitalverhältnis abzuleiten. Indem er von einer „sogenannten ursprünglichen Akkumulation“ spricht, diese für alle offensichtlich „unterstellt“(15) oder von ihr behauptet, dass sie als ursprünglich „erscheint“(16), macht er deutlich, dass es sich bei dem von ihm dargestellten historischen Ereignissen nicht um hinreichende Entstehungsbedingungen für das kapitalistische Produktionsverhältnis handelt. Die Marxsche Darstellung der „ursprünglichen Akkumulation“ ist eine sich vortastende Annäherung an einen rätselhaften Prozess: Wie entstand aus der „Waren- und Geldzirkulation“, die „auf sehr verschiedenen Stufen des gesellschaftlichen Produktionsprozesses“ vorhanden ist, das Kapital, das dadurch „charakterisiert“ ist, dass auch „die Arbeitskraft ... selbst die Form einer ... Ware“ angenommen hat?(17) Denn: „Seine historischen Existenzbedingungen sind durchaus nicht da mit der Waren- und Geldzirkulation.“(18) Während Marx aber von einer „Verwandlung“ von „Geld und Ware ... in Kapital“ spricht, die „unter bestimmten Umständen“ vor sich geht,(19) scheinen bei Türcke Geld und Ware zu den Umständen zu zählen. In Kapital verwandelt sich an Stelle von Geld und Ware etwas anderes: „Die Entstehung des Kapitalismus ist alles andere als ein geradliniger Prozeß – und doch ist das, was auf verschiedenen Wegen und Umwegen schließlich herauskommt, eine gesellschaftliche Struktur, in der der Glaube an die rettende Kraft der Quantität sich versachlicht, ein innerer Zwang sich entäußert, eine seelenökonomische Maßnahme sich in physisch-ökonomische Notwendigkeit übersetzt hat.“ (193) „Kapital ist ... dieser ganze, von selbst nicht aufhören könnende Prozeß der Rückwendung in sich selbst zur Steigerung seiner selbst. Er ... agiert dabei als eine zum Bewegungsgesetz objektivierte Sucht, ... in der gleichwohl ein Seelenzwang, die sich verzweifelt bekämpfende Verzweiflung an der Autarkie, ... zum Sachzwang geworden ist. Insofern ist das Kapital mehr noch ‚automatisches Subjekt’(20), als Marx meinte: ... nicht nur eigensinnig wirkend, ohne einen eigenen Sinn zu haben, sondern es ist wirkliche, gegen ihre eigene Zerrüttung ankämpfende Subjektivität – derart in Gesellschaft übersetzt, ... daß ihr eigenes objektives Subjektsein kaum mehr kenntlich ist.“ (195) Subjektivität verwandelt sich in Objektivität. Ein so interessanter wie waghalsiger Sprung, den Türcke vollzieht. Waghalsig ist der Sprung, weil zwischen Absprung und Landung keine Bewegung nachgezeichnet wird. Zwischen Absprung und Landung vermittelt ein aufmerksam machend sicher vorgetragener Analogieschluss: „Es leidet keinen Zweifel: Die doppelt rationalisierte Sucht, die da die Seelen bewegt und eine neue Art der Subjektivität zu prägen beginnt, hat genau die Struktur, die, in gesellschaftliche Objektivität übersetzt – das moderne Bewegungsgesetz des Kapitals ergibt.“ (192)
Türcke versucht eine Frage zu beantworten, die sich unvermeidlich aus der „Kritik der politischen Ökonomie“ ergibt und nur von denen übergangen werden kann, die dummdreist und gegen Marx glauben, Ausbeutung und Leiden sei das Ergebnis eines unmoralischen Handelns einer bösen herrschenden Klasse: Wie lässt sich das Kapitalverhältnis, welches schließlich eine gesellschaftliche Objektivität ist, die den Menschen als Subjekt gegenüber tritt, historisch aus geschichtlichen Handlungen der Menschen herleiten? Türckes Antwort ist vielleicht schon deswegen falsch, weil er die Antwort – zumindest in Sexus und Geist – zu stark im Übergang vom Feudalismus zu den kapitalistischen Produktionsverhältnissen sucht. Ist der entscheidende Übergang nicht schon vorher geschehen? – Ist die Entstehung des Geldes nicht entscheidender, um das Rätsel, wie sich das subjektive Handeln der Menschen in gesellschaftliche Objektivität übersetzt, zu beantworten? – Ist die Entstehung des Geldes oder gar des diesem vorangegangenen Tausches vielleicht die Urszene in der Herausbildung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, während die ursprüngliche Akkumulation eine Konstellation jener historisch zufällig hinzugetretenen Akte bezeichnet, die die in der Urszene enthaltene Tragödie zur Entfaltung brachte?
Diese Fragen beantwortet Helmut Reichelt in einem großartigen aber sehr dicht gefassten Text(21), der wie ein Entwurf für eine größere Fassung anmutet, mit Ja. Sich auf Marx und Adorno stützend, versucht er darzustellen, dass im ersten Tausch das Geld und im Geld „das Kapital schon latent enthalten“(22) (Marx) ist. Was Adorno programmatisch formulierte, versucht Reichelt einzulösen: eine „systematische enzyklopädische Analyse der Tauschabstraktion (ist) notwendig“.(23) Wie Reichelt die „immanente Dynamik“ des „Tauschprinzips“ darstellt, kann hier nicht erörtert werden. Reichelt versucht zu belegen, dass es dieser „immanenten Dynamik“ zuzurechnen ist, dass sich das „Tauschprinzip ... auf die lebendige Arbeit von Menschen ... ausdehnt“(24) (Adorno), d.h. „die Arbeitskraft ... die Form einer ... Ware ... erhält“ (Marx; s.o.).
Türcke geht nicht darauf ein, dass es objektive Gesellschaft in Form des Geldes schon vor dem Kapitalverhältnis gegeben hat. Wo es aber objektive Gesellschaft gibt, gibt es auch dieser entsprechende Denkformen. Was Türcke als „Entzauberung der Welt“ darstellt und auf die Quantifizierung der Natur durch die Naturwissenschaften und auf die fortschreitende Quantifizierung des Grund und Bodens durch die kirchliche Wirtschaftspolitik zurückführt, hat das Geld schon immer perfekt geleistet. Geld ist entsinnlichter Reichtum, allgemeiner Reichtum, der schon immer die entsinnlichte quantitative Seite derjenigen Gebrauchsgüter widergespiegelt hat, die ihm unterkamen. Zwar hat Geld vor dem Kapitalverhältnis immer nur eine partikulare Rolle gespielt, die aber richtig. Wo es gewaltet hat, wurden Gebrauchsgüter quantifiziert. Insofern wäre Sohn-Rethels Rückführung des parmenidischen Begriffs „Sein“ auf die Entstehung des Geldes zu überprüfen. Türcke behauptet, dass in diesem Begriff sich das Denken als von Natur Unterschiedenes ertastet. Aber warum sollte es sich immerfort in der Philosophiegeschichte als außer den Menschen existierendes Objektives und Allgemeines ertasten, welches nicht in den Menschen, sondern diesen wie auch der Dingwelt zugrunde liegt, und allem vorsteht? Mit anderen Worten: Warum erkennt sich der Geist nicht als menschliches Vermögen, statt dessen aber als „Sein“, „Energeia“ (Aristoteles) und so weiter? Erkennt er nicht vielmehr ein wirklich außer den Menschen liegendes abstraktes Prinzip – das Tauschprinzip, das alles durch absolut entsinnlichende Abstraktion aufeinander bezieht?
Gäbe es diese Linie vom Gelde zum Kapital und eine dementsprechende Entwicklung der Denkform, die in idealistischen Begriffen nicht den Geist, sondern das im Geld pointierte gesellschaftliche Verhältnis ertastet, so müsste der aktuellen Entwicklung des Patriarchats anders zu Leibe gerückt werden, als es Türcke versucht. Dort wo Türcke eine Umwandlung attestiert – Matriarchat hebt sich im Patriarchat auf –, müsste der Einfluss einer völlig neuen Qualität, d.h. der Tauschabstraktion untersucht werden, und dort, wo Türcke die Entgeistigung des patriarchalen Geists konstatiert – das Patriarchat hebt sich in der kapitalistischen Akkumulation auf –, müsste eventuell die Verabsolutierung samt qualitativen Umschlag des Patriarchats konstatiert werden.

Objektivierter patriarchaler Geist

Wo Türcke eine Übersetzung des patriarchalen Wahns ins Kapitalverhältnis vermutet, dort behauptet er gleichsam die „Entmannung“ des Patriarchats. Der objektive Zusammenhang, der von nun an in der Welt ist, würde gegenüber den Geschlechtern gleichgültig sein. Und das stimmt: Im Kapitalverhältnis ist das jeweilige Geschlecht der Arbeitskräfte ziemlich egal. Die „vergleichgültigende Macht der Quantität“ dringt in alle Poren des Lebens; personifiziert sich beispielsweise zynisch „im modernen Single mit häufig wechselndem Geschlechtsverkehr“ (209). Die Frauenbewegung kommt genau zu dem historischen Zeitpunkt, meint Türcke, wo die gesellschaftliche Entwicklung über das Patriarchat hinaus ist.
Türcke ist entgegenzuhalten: Wäre allein die vergleichgültigende Macht, die im Kapital wirkt, ausschlaggebend, so hätte auch die Emanzipation der Juden in den bürgerlichen Staaten gelingen müssen. Wie sieht es aber mit den Ideologien der Menschen aus – gerade in gesellschaftlichen Krisen? Wenn das Kapitalverhältnis gleich dem wahnhaften patriarchalen Geist Herrschaft über innere und äußere Natur inhäriert, wohin treibt es die Sinnlichkeit, worin kehrt sie als verdrängte und verteufelte wieder? Zuvor hatte Türcke dem Idealismus und Christentum beharrlich nachgewiesen, dass die durch den Geist verdrängte Sinnlichkeit sich im Hass gegen die Hexen und in der Liebe zur fürsorglichen Maria patriarchal äußert. Und nun? Im Kapitalverhältnis? Plötzlich versteift sich Türcke zu der These, das Patriarchat sei mit dem Einzug der kapitalistischen Produktionsverhältnisse auf dem Rückmarsch. Die Gegenbeispiele bringt er selbst. Anhand von Karl Kraus und einigen exponierten Feministinnen, die die Sinnlichkeit der Frau betonen, schildert Türcke den Fortgang des Patriarchats, bezeichnet diesen aber als anachronistischen, um schließlich doch noch dessen Wahrheit auszusprechen – Wasser auf die Mühlen von Roswitha Scholz: „Die Menschenrechte sollen den Frauen zu sich selbst verhelfen – dazu, sich selbst an die Kandare zu nehmen, sich selbst auf geschlechtsspezifische, unverwechselbare Weise, pflegend, führsorgend, einfühlend für ein gesellschaftliches Ganzes aufzuopfern, das all diese Wärme und Hingabe begierig in sich aufsaugt, um gestärkt durch sie um so kälter und gleichgültiger seine abstrakten Zwänge über die Individuen beiderlei Geschlechts ergehen zu lassen.“ (220)
Hat nicht der Mutterkult im Nationalsozialismus gezeigt, dass das Patriarchat schnell hervorbrechen kann, und zeigt sich das Patriarchat heutzutage nicht auf barbarischste Weise in – den kapitalistischen Produktionsverhältnissen keineswegs außen vor bleibenden – islamistischen Kollektiven, in denen die geliebten Frauen eine Ganzkörperverhüllung tragen, vom öffentlichem Leben ausgeschlossen sind und den Mädchen jegliche Schulbildung verwehrt wird?

Sex, Gender und Versöhnung

Wie die Vorbereitungsgruppe des Ladyfestes betonen viele feministische Personen, Gruppen und Bewegungen immer wieder, dass Geschlecht ein Konstrukt sei. Das stimmt nur zu einem guten Teil. Die Geschichte der Menschen ist eine Geschichte der Auseinandersetzung zwischen Mensch und Natur. Die Menschen zeichnet aus, den Naturzusammenhang, aus dem sie kommen, zu übersteigen, ohne ihn gänzlich von sich abschneiden zu können. Der Begriff „Konstrukt“ bezeichnet nichts anderes als den Bereich des menschlichen Lebens, den die Menschen in ihrer Geschichte hervorgebracht haben. Alle menschliche Kultur ist, wenn man so will: Konstrukt. Er steht für das originär menschliche Zusammenleben und damit für die Möglichkeit einer emanzipierten Menschheit. Nur ist das menschliche Zusammenleben nicht von dem Zusammenleben mit der Natur zu trennen. „Die Menschen haben eine Doppelstellung ... Als Sinneswesen gehören sie dem ... Naturzusammenhang an; als vernunftbegabte strukturieren sie ihrerseits die Natur: theoretisch, indem sie die Natur begrifflich erfassen, und praktisch, indem sie eigene, von der Natur nicht schon vorgegebene Zwecke setzen und durch materielle Tätigkeit verwirklichen.“(25) Sowohl die äußere als auch die innere Natur hat bei all unseren Lebensäußerungen mitzureden, sosehr sie vom Menschen auch geformt wird. Wird ihr der Mund verboten, indem ihre aktive Anteilnahme am Leben der Menschen geleugnet wird, wird entsprechend der patriarchalen Allmachtsphantasien des autarken Geistes verfahren.(26) Sich von der Natur zu emanzipieren gelingt nur in der Reflexion auf sie; in der Auseinandersetzung mit ihr. Dort wo sie geleugnet wird, wird sie ihren Einfluss hinterrücks geltend machen.
Der Begriff Konstrukt hat seine Schwächen eindeutig dort, wo er die Reflexion auf Natur abschneidet. Türcke empört sich nicht einfach über das Patriarchat, indem er es als Konstrukt abtut, sondern begreift seine Genese als eine, die in die Menschheitsgeschichte eingesenkt ist und Voraussetzungen in der Natur hat, so sehr sich diese Voraussetzungen selbst erst aufgrund der Geschichte der Menschen hervortun. Am konkreten Beispiel: Dass gerade die weibliche Geschlechtlichkeit im Matriarchat angehimmelt wird, ist keine Naturnotwendigkeit, sondern geschichtlich erzeugt. Trotzdem macht die matriarchale Kultur einen Unterschied geltend, der potenziell in der Natur vorhanden ist. Die Venusstatuetten verdeutlichen das bildlich. Sie stellen die äußeren weiblichen Geschlechtsmerkmale, die von Natur aus mitgegeben sind, übergroß dar und betonen sie und damit den Unterschied von Mann und Frau. Wäre die Geschichte anders verlaufen – was sie nicht ist –, wären vielleicht andere Merkmale betont und die Unterscheidung von Frau und Mann gar nicht erfasst worden. Da die Geschichte nun aber das Patriarchat hervorgebracht hat, kann dieses nur überwunden werden, wenn dessen geschichtliche und gegenwärtige Voraussetzungen überwunden werden. Das Patriarchat ist kein Hirngespinst, dem individuell entkommen werden kann, sondern wohnt samt seinen Voraussetzungen dem geschichtlich gewordenen gesellschaftlichen Sein und damit auch dem gleichsam gewordenen Verhältnis von Mensch und Natur inne.
Die Schwäche, die der Begriff „Konstrukt“ provoziert, besteht nicht nur in der Nichtreflexion auf das Verhältnis von Mensch und Natur, sondern setzt sich in der Nichtreflexion auf das fort, was Marx „zweite Natur“ genannt hat: die kapitalistischen Produktionsverhältnisse. Deren Fesseln sind durch einzelne Menschen nicht individuell und voluntaristisch zu sprengen. Menschen, die dies versuchen, setzen sich neben der Gewalt, die ihnen durch die Verhältnisse angetan wird, der zusätzlichen Gewalt aus, sich als gesellschaftliches Wesen von der Gesellschaft überhaupt zu lösen. Das ist so unmöglich wie schmerzlich: „Die Abschaffung des Leidens ... steht nicht bei dem Einzelnen, der das Leid empfindet, sondern allein bei der Gattung, der er dort noch zugehört, wo er subjektiv von ihr sich lossagt und objektiv in die absolute Einsamkeit des hilflosen Objekts gedrängt wird.“(27) Die Überwindung des Patriarchats in seiner heutigen Form und die damit verbundene Abschaffung von Leiden kann vollends nur durch die Gattung in der Überwindung des „abstrakten Prinzips moderner Herrschaft“ (248) gelingen. „Wo ihr nicht einmal geistig auf den Grund und auf den Nerv gegangen wird, triumphiert sie ungebrochen.“ (249) Das Vermögen zu reflektieren bezeichnet Türcke als das „Unterpfand aller menschlichen Freiheit“ (107). Die Reflexion auf die Verhältnisse ist die Voraussetzung zu deren Änderung. Sich hinters Mischpult zu stellen, wie es die Vorbereitungsgruppe des Ladyfestes den Frauen ermöglichen will, kann Spaß machen, verhilft zur Abschaffung des Patriarchats aber so viel wie Angelika Merkel hinterm Rednerpult; so gesehen ziemlich viel – gemessen an einer männerdominierten linksalternativen Subkulturszene.

Hannes

Fußnoten

(1) Vorbereitungsgruppe Ladyfest Leipzig; again and again and again – once more; in: Incipito, Nr. 131/2
(2) Sämtlich Seitengaben in Klammern im Text beziehen sich auf das Buch von: Christoph Türcke; Sexus und Geist. Philosophie im Geschlechterkampf; zu Klampen; Neuaufl. Lüneburg 2001
(3) Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.; Dialektik der Aufklärung; in: Adorno; GS Bd. 3, Suhrkamp, Ffm. 1997; hier S. 50
(4) ebd. S. 286
(5) Platon; Phaidon; 65 b ff.; zit. n.: Türcke; Sexus und Geist; S. 69
(6) Aristoteles; Über die Entstehung der Lebewesen; 732a u. 738b; zit. n.: Türcke; Sexus und Geist; S. 73
(7) Hierbei könnte es sich um eine folgenreiche Fehleinschätzung handeln. Würde das Christentum das abendländische Mittelalter nicht so entscheidend prägen, dann wäre das christliche Patriarchat weniger entscheidend, wie es Türcke für seine weiteren Ausführungen voraussetzt. Roswitha Scholz behauptet, dass das Patriarchat in der Kirche überwinterte, diese die Gesellschaft aber nur oberflächlich prägte. Dass das Mittelalter als zutiefst christlich erscheint, sei Resultat der geschichtswissenschaftlichen Verallgemeinerung von Herrschergeschichte. Für Scholz’ wie für Türckes These lassen sich Fakten anführen. Einerseits hatten die weltlichen und christlichen Oberen im 17. und 18. Jahrhundert immer noch zu tun, in ländlichen Gebieten unchristliche Sitten und Bräuche auszutreiben und ihre Vorstellung von Recht und Ordnung durchzusetzen, andererseits haben sich schon im ausgehenden 11. Jahrhundert Hunderttausende armer Menschen zusammengerottet, um sich ungerufen dem Kreuzzug anzuschließen, zu dem der Papst die Ritter aufgefordert hatte. Im Namen Christis und in der Erwartung des jüngsten Gerichts sind die sogenannten „Haufen“ zwar nicht weit gekommen, haben auf ihrem Weg aber Juden niedergemetzelt.
(8) Luther, Martin; Tischreden; Nr. 6975; zit. n.: Türcke; Sexus und Geist; S. 154
(9) F. Bacon; Novum Organon, I, 68; zit. n.: Türcke, Sexus und Geist; S. 174
(10) Bacon; a.a.O.; II, 15; zit. n.: Türcke; a.a.O.; S. 175
(11) Bacon; a.a.O.; I, 124; zit. n. Türcke; a.a.O.; S. 176
(12) Bacon; a.a.O.; I, 81; zit. n.: Türcke; a.a.O.; S. 178
(13) Bacon; a.a.O.; I, 120; zit. n.: Türcke; a.a.O.; S. 185
(14) Bacon; a.a.O.; I, 121; zit. n.: Türcke; a.a.O.; S. 187
(15) Marx, Karl; MEW Bd. 23; Dietz; Berlin (Ost) 1975 S. 741
(16) Marx; a.a.O.; S. 742
(17) Marx; a.a.O.; S. 184
(18) ebd.
(19) Marx; a.a.O.; S. 742
(20) Marx; a.a.O.; S. 161
(21) Die Marxsche Kritik ökonomischer Kategorien; in: Fetscher, Iring / Schmidt, Alfred (Hrsg.); Emanzipation als Versöhnung; Verlag Neue Kritik; 2002
(22) MEW, Bd. 42; S. 145
(23) Adorno, Theodor W.; Notizen von einem Gespräch zwischen A. Sohn-Rethel und Th. W. Adorno am 16.4.1965; in: Sohn-Rethel, Alfred; Geistige und Körperliche Arbeit; revidierte und ergänzte Neuauflage; Weinheim 1989; S. 221ff.
(24) ders.; GS, Bd. 8; Suhrkamp, Ffm. 1970; S. 307
(25) Türcke, Christoph; Vermittlung als Gott; zu Klampen; Lüneburg 1994; S. 11
(26) vgl.: Geiger, Lutz; Natur als Grenzbegriff der Erfahrung; in: Phase Zwei Nr. 4
(27) Adorno, Theodor W.; GS Bd. 6; S. 203

  • Review Corner: Türck'sches Allerlei (Türcke: Fundamentalismus – maskierter Nihilismus) aus CEE IEH #102

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last modified: 28.3.2007