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Anti-Politik ist eine Möglichkeit


Nachtrag zu einer Debatte
von Martin D.


    „Von einer emanzipatorischen Praxis ist zu sprechen, wenn es gelingt, Menschen gegen ihre Charaktermasken zu mobilisieren, d.h. die innere Front der Staatsbürger, Arbeiter, Wähler, Unternehmer, Rechtspersonen, Käufer, Verkäufer, Konsumenten etc. aufzubrechen und den Panzer des falschen Ich zu sprengen (...) Transvolution beginnt, wo Subjekte gegen ihre Subjekthaftigkeit rebellieren (...) sich selber nicht mehr mit ihren objektiven Rollen identifizieren, sondern versuchen, sich von diesen ideell, aber auch reell abzusetzen. Sicher gibt es keinen Knopf, den Automaten einfach abzuschalten, aber schon der bewußte Widerstand gegen seinen Ablauf sollte Motivation sein.“
    Franz Schandl, Der postmoderne Kreuzzug
Die Debatte: Kritik oder Politik?

Vor einem reichlichen Jahr gab es unter den versprengten Leipziger Rest-Linken eine Diskussion unter dem Titel „Kritik oder Politik?“, der ich mich nachtragend noch mal zuwenden möchte. Da die Diskussion aus meiner Sicht mit der Zeit beträchtlich in die Schieflage geriet, möchte ich hier nochmals die fortbestehende dringende Notwendigkeit einer Kritik der Politik (im folgenden als Anti-Politik bezeichnet) darstellen. Dabei ist es wichtig, daß auch ich selbst meine Positionen seit der damaligen Debatte einer grundlegenden Revision unterzog und daher entscheidende Teile der damals vertretenen Überzeugungen heute für falsch erachte. Entscheidend dafür waren für mich die Auseinandersetzung mit feministischen Positionen einerseits und fortgesetztes Studium der Marxschen Ökonomiekritik im „Kapital“ andererseits. Völlig falsch erachte ich heute das damals referierte Abrechnen mit jeglicher Art von „Theorie“. Die objektiven Bewegungsgesetze der kapitalistischen Gesellschaft spielen in der heutigen Argumentation eine weitaus entscheidendere Rolle. Ebenso kam es zu einem weitergehenden Bruch mit grundlegenden Kategorien des aufklärerischen Denkens (Arbeit, Fortschritt, Subjekt, Geschlecht), der damals für mich erst begonnen hatte.
Die Oberflächlichkeit der damaligen Debatte, läßt sich daran erkennen, daß es auch in heutigen Diskussionen selbstverständlich ist, daß Leute davon reden sich „politisch zu betätigen“, „politisch zu sein“. Der Rote Stern Leipzig verkündet gar in einem Aufruf, daß es ein unpolitisches Leben gar nicht geben könnte (RSL-Fanclub Bonsai: Wir packen unsere Koffer). Stimmte das, so wäre Gesellschaftskritik schlichtweg tot, gäbe es für sie keine Möglichkeit mehr, wäre es mit allem linken und emanzipatorischen Handeln aus und vorbei. Denn: in gesellschaftskritischer Absicht ist der absolute Bruch mit der Politik nötig. Eine Kritik am Kapitalismus ist nicht möglich, ohne einen prinzipiellen Bruch mit der Form Politik. So lange Menschen noch „Politik machen“, „politisch sein“, „andere politisieren“ wollen, solange bleibt Gesellschaftskritik an der Oberfläche.
Besonders drastisch zeigt sich die oberflächliche Rezeption der Debatte am Papier des Bündnis gegen Rechts (BgR) zum 1. Mai 2002. Die Arbeitskritik der Gruppe KRISIS wird hier weitgehend übernommen, ohne über die grundlegenden gesellschaftstheoretischen Implikationen dieser Auffassungen auch nur ein Wort zu verlieren. Vielerorts erfolgte keine gründliche theoretische Aufarbeitung ehemaliger Positionen – man suchte sich einfach neue „Politikfelder“, da mit „Antifa“ nichts mehr zu holen war. Auch aus dem Umfeld der ehemaligen „Rote Antifaschistische Aktion Leipzig“ (RAAL), der das große Verdienst zukommt, in der Leipziger Linken erstmals nach einer inzwischen verflossenen PDS-Jugendgruppe namens „Offensive“ von einer kommunistischen Perspektive zumindest gesprochen zu haben, kam leider keine generelle Auseinandersetzung mit ehemaligen Positionen. Das läßt für die theoretische Qualität kommender Auseinandersetzungen um kritische Theorie und Praxis leider nichts gutes hoffen. Sehr bedenklich in diesem Kontext: der fliegende Wechsel hin zu anderen Positionen: die RAAL rief auf Demobeiträgen immerhin zur Solidarität mit dem kurdischen nationalen Befreiungskampf auf, während heuer ehemalige GenossInnen sich mit Israel solidarisieren (und damals wie heute wurde das mit der Forderung nach „Kommunismus“ verknüpft)(1) – das müsse alles durchdacht und diskutiert werden – wollte man sich wirklich einen kritischen Begriff vom Bestehen entwickeln.
Oberflächlich war die Debatte aber auch deshalb, weil gründlich mißverstanden wurde, was es mit der Kritik der Politik überhaupt auf sich hat. Auf einmal galt es als falsch gegen Nazis zu sein oder zumindest was gegen sie zu machen. Während einige der „Kritikfraktion“ diese Position ironisierend/kritisch nachfragend unterstellten (also das BgR), schrieben sich andere dieses Mißverständnis allzu eifrig auf die Fahnen und meinten, man dürfe jetzt wirklich nichts „praktisches“ mehr machen.

Was ist Anti-Politik?

Im folgenden eine thesenhafte fragmentarische Darstellung des „Konzepts Anti-Politik“, wie ich es dem „Politik-Machen“ entgegenstelle.
• Gegen die Politik ist nicht das „unpolitisch sein“ zu vertreten, sondern das gezielte theoretische und praktische Agieren gegen die Politik, also Anti-Politik: diese bleibt auf Politik bezogen, kann sich mit den Gegenständen der Politik beschäftigen, muß aber selbst was völlig anderes als Politik sein.
• Anti-Politik betrachtet sich als Teil des von ihr selbst kritisierten Gegenstandes. Sie vertritt also keine „Drübersteher-Position“. Sie ist sich darüber bewußt, daß sie sich sowohl theoretisch als auch praktisch mühselig aus den bestehenden Denk- und Verhaltensweisen herauswühlen muß.
• Gegen die Politik ist nicht die „reine Kritik“, nicht das sich-beschränken auf Bücher lesen, Texte schreiben und Referate halten zu richten. Das Gegenteil von Politik ist weder „Theorie“ noch geht es darum, keine Demos mehr durchzuführen. Statt dessen muß eine gesellschaftskritische Theorie und Praxis entstehen: diese kann Demonstrationen wie das Abfassen von Texten beinhalten. Ihren Charakter findet sie nicht ausschließlich in der Wahl ihrer Mittel, sondern in ihren Ansprüchen und Inhalten. Wobei freilich geänderte Inhalte andere Formen ihrer Äußerung bedingen.
• Anti-Politik ist kein Dogma im Sinne von „Du darfst“ oder eben nicht: selbst im Kontext einer Anti-Politik kann es bisweilen sinnvoll sein, Politik zu praktizieren. Kriterium für Anti-Politik ist nicht, daß man auf keinen Fall was Politisches durchführen darf. Sondern: es ist unkritisch, sich selbst als politisch zu verstehen und sein Handeln auf die Politik zu beschränken/zu konzentrieren oder alles was man macht „Politik“ zu nennen. Aber es ist nicht prinzipiell falsch, mal was Politisches zu beginnen.
• Anti-Politik ist kein einheitliches Gegenprinzip, sondern eine Hilfsvokabel. Klar ist nur ihr Ziel, daß sie doch nur negativ anzugeben weiß: eine befreite Gesellschaft, nämlich befreit von Markt und Staat. Klar ist der Anti-Politik aber auch, daß diese durchgesetzt werden muß. Die befreite Gesellschaft entsteht nicht durch Texte, Referate, Gebete oder Hoffnungen. Die Anti-Politik geht davon aus, daß sie selbst es ist, die diese befreite Gesellschaft Wirklichkeit werden läßt. Als von Anbeginn negative bzw. negatorische fühlt sich die Anti-Politik am wohlsten in der radikalen Kritik der bestehenden Ordnung.
• Anti-Politik ist prinzipiell pessimistisch. Sie wendet sich scharf gegen „Hoffnung“ („Es wird schon alles werden. Irgendwie“) und „Utopie“ („Eine andere Welt ist möglich.“). Dennoch erkennt sie, daß es leichter ist, ein brennendes Schiff zu verlassen, wenn man sich vorher ein neues seetüchtiges geschaffen hat(2). Die Anti-Politik wartet nicht auf die Krise, sondern betrachtet die Krise als Realität und nutzt sie als Chance. Daher ist sie keine Zukunftsmusik: Sie beginnt oder muß beginnen, so banal das klingt, hier und jetzt.
• Dreh- und Angelpunkt der Anti-Politik ist es, die Menschen gegen sich selbst zu mobilisieren. Oder besser: sie gegen ihre Form des bürgerlichen Subjekts aufzuwiegeln, in die sie historisch und individuell gepreßt wurden. Sie will Menschen dazu bringen, daß es sie ankotzt und anwidert Staatsbürger, Deutsche, Männer, Frauen, Homos oder Heteros, Käufer oder Verkäufer, Arbeitende oder Unternehmer zu sein.
• Mit ihrer Kritik an der bürgerlich-patriarchalen Sphärentrennung ist die Anti-Politik feministisch. Sie weiß darum, daß sich patriarchale Verhältnisse in der uns gängigen Vorstellung von „Geschlechtern“ ausdrücken: Anti-Politik ist daher so konsequent zu sagen, daß es mit den Geschlechtern ein Ende haben wird und haben muß, auch wenn sie sie nicht als diskursiv produziert und konstruiert betrachtet, sondern als historisch-materielle Wirklichkeit angreift. Damit wendet sich die Anti-Politik aber auch gegen jene Spielarten von Feminismus, die als Differenzfeminismus die „Besonderheit des Weiblichen“ einklagen oder als Gleichheitsfeminismus für die Gleichheit der Geschlechter auf nicht grundlegend in Frage gestelltem warenproduzierendem und patriarchalem Boden streiten.
• Anti-Politik braucht eine kritische Gesellschaftswissenschaft und marxistische Krisentheorie zum Leben wie der Fisch das Wasser. Gegen alle Überhöhungen von „Erkenntnis-“ und „Ideologiekritik“ geht sie davon aus, daß die kapitalistische Gesellschaft objektiv wirkenden Gesetzen unterliegt, die wissenschaftlich erkannt werden können. Damit wendet sie sich gegen jeden erkenntnisleugnenden Agnostizismus (das Bestreiten der Möglichkeit von Erkenntnis). Anti-Politik geht von einem prinzipiell offenen Geschichtsverlauf aus. Es gibt für sie keinen zwingenden historischem Grund, aus dem heraus sich der Kapitalismus durchsetzen mußte oder aus dem heraus es überhaupt zu Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnissen kommen mußte. Den Kapitalismus selbst betrachtet sie jedoch streng determiniert von ökonomischen Gesetzmäßigkeiten. Seine Tendenz zur finalen Krise ergibt sich aus der Bewegung hin zur Selbstabschaffung der Arbeit, die seine Substanz darstellt. Während sein Ende, wenngleich nicht zeitlich, so doch prinzipiell, ausgemachte Sache ist, so ist doch alles was danach kommt und kommen kann wiederum offen. Dies wird handelnden und denkenden Menschen aufgegeben sein.
• Anti-Politik wendet sich scharf gegen den akademischen Mainstream an den Universitäten und begreift kritische Theorie als notwendig autonome Initiative.
• Die Anti-Politik gehört nicht zu den Freundinnen des Abendlandes. Sie will den westlichen Werten und Glücksversprechen den Garaus machen. Sie hat nachgerade genug gehört von Leuten, die den Menschen als geregeltes Uhrwerk betrachten (LaMettrie: Der Mensch als Maschine) und damit seine wertförmige Zurichtung affirmieren. Sie geht davon aus, daß Menschen unter der Kantischen Pflichtethik, die von jeglichen Gefühlen absehen will und zur Selbstunterwerfung ohnegleichen aufruft (Kant: Metaphysik der Sitten) weit mehr als genug zugerichtet wurden. Sie hält auch nichts davon, „sich seines Verstandes ohne Anleitung eines anderes zu bedienen“ (S. 9), solange damit gemeint ist, „räsoniert soviel ihr wollt und worüber ihr wollt; aber gehorcht“ (Was ist Aufklärung 1974, S. 11). Anti-Politik steht negatorisch allen „Werten“, „Kulturen“, „Zivilisationen“, „Religionen“ und jeder „Vernunft“ entgegen, die die Menschen in der sozialen Unfreiheit, im Banne von Markt und Staat halten. Sie kritisiert alle Positionen und Haltungen rücksichtslos, die die Möglichkeit einer Gesellschaft ohne ausbeutende und unterdrückende Strukturen leugnen und steht ihnen konträr entgegen. Gerade die westliche Moderne brachte Menschen sukzessive in die Abhängigkeit von abstrakten irrationalen Zwängen (Arbeiten müssen, einem Staat untertan sein, eine Geschlechterrolle ausfüllen...). Anti-Politik ist daher anti-modern im besten, also im emanzipatorischen Sinne. Damit steht die Anti-Politik in scharfer Abgrenzung zu reaktionären KritikerInnen der Moderne. Diese betrachtet sie eher als mit der Moderne verwandt in den entscheidenden Punkten: beide leugnen die Möglichkeit einer emanzipierten Menschheit.
• Die Anti-Politik verachtet die Arbeit und liebt die Muse. Sie hält auch viel vom Nichts-Tun, obwohl sie darum weiß, daß Muse viel mehr als Nichts-Tun und Arbeit ist. Die Anti-Politik will nicht die bürgerliche Tauschgerechtigkeit verwirklichen. Sie will eine Nutzung der verfügbaren Ressourcen für alle Menschen zu ihren Bedürfnissen und in den Grenzen des Möglichen. Anti-Politik anerkennt, daß auf einer endlichen Erde kein grenzenloses Wachstum weder realisierbar noch wünschenswert ist. Dem ehrgeizig himmelstürmenden Patriarchat hält sie entgegen, daß „hemmungslose Leute keineswegs die angenehmsten und nicht einmal die freiesten“ sind, und daß die „wahre Gesellschaft der Entfaltung überdrüssig (...) aus Freiheit Möglichkeiten ungenützt“ läßt, „anstatt unter irrem Zwang auf fremde Sterne einzustürmen“ (Adorno, Minima Moralia, S. 296f).
• Anti-Politik wendet sich entschieden gegen jeden Leistungszwang und jedwede Konkurrenzmanier. Sie erblickt überall, wo Menschen mit der Wertlogik des Gewinnens bewußt brechen wollen (auch wenn sie dabei „inkonsequent“ bleiben), einen Ansatz der Emanzipation.
• Die Anti-Politik ist weder revolutionär noch reformerisch. Sie demaskiert „Reform“ und „Revolution“ als Spielarten der Politik. Sie tritt für ein schrittweises Ausbrechen aus Marktwirtschaft und Staatsgesellschaft ein. Sie vertritt das Konzept einer Transformation des warenproduzierenden Patriarchats. Damit knüpft sie kritisch an die Ideen der Ökologie- und Alternativbewegung der 70/80er Jahre an. Sie verteidigt sie, weil sie einen Ausbruch aus der Marktlogik versucht haben. Sie kritisiert sie, weil sie dabei dumpf, reaktionär und kleinkariert wurde oder als „Alternativökonomie“ in marktorientiertem quasi-selbstbestimmtem Klitschenwesen versackte. Anti-Politik wendet sich gegen Fortschrittsfeindlichkeit ebenso wie gegen technizistische Allmachts- und Wahnphantasien. Sie wendet sich entschieden dagegen, vor dem Hintergrund des „Veränderns des kleinen eigenen Lebens“ das „große Ganze“ zu vernachlässigen. Aber sie lehnt auch das Gegenteil davon ab: nur über die Gesellschaft und deren Zwänge zu reden ohne sich selbst ändern zu wollen. Theoretisierend-praktizierende der Anti-Politik wollen sich selbst verändern, um die Gesellschaft zu verändern und die Gesellschaft verändern, um sich selbst zu verändern. Das Ausspielen des „Großen Ganzen“ gegen die „Kleinen Schritte“ vice versa betrachtet die Anti-Politik als im Bestehenden abgrundtief verhaftet.
• Dabei wendet sich die Anti-Politik auch gegen den Gestaltungswahn der RevolutionärInnen und ReformerInnen. Diese müssen, um ihre Revolution oder Reform zu praktizieren, stets ein Konzept einer besseren Welt im Kopf haben, welches sie verwirklichen wollen. Anti-Politik verzichtet wohlweislich auf solche Konzepte. Sie will niemanden und keine unter irgend etwas ordnen. Sie will im Moment des Auflösens staatlicher und marktwirtschaftlicher Ordnung (was für sie bereits auf dem Boden des bestehenden Systems sich ereignet), dafür eintreten, daß eine auf Bedürfnisbefriedigung und Mitgefühl gegründete Gesellschaft entsteht.
• Die Anti-Politik erstrebt weder die Gleichheit noch die Unterschiedlichkeit/Verschiedenheit der Menschen. Sie singt also weder das Lied der Gleichheit noch das der Differenz. Sie ist explizit wertkritisch. Der Wert aber als gesellschaftlich vermittelndes Maß der Zeit verausgabter Quanta Arbeitskraft, die notwendig war, um ein bestimmtes Produkt zu erstellen (auch und gerade der Ware Arbeitskraft) ist somit selbst Ziel der anti-politischen Attacke. Damit aber verfällt jeder Maßstab nach dem Menschen als gleich oder verschieden beurteilt werden könnten der Kritik. Anti-Politik verhält sich also polemisierend und denunzierend gegenüber Positionen, die die Gleichheit oder Verschiedenheit aller Menschen postulieren.

Abgrenzung zwischen Politik und Anti-Politik

Politik geht vom Staat aus oder ist auf ihn bezogen. Also ist die Forderung nach Abschaltung von Überwachungskameras so politisch wie eine Kritik am Asylgesetz oder eine eingeforderte Solidarität mit Israel. Ebenso ist die Bildung einer Bürgerinitiative gegen ein Kernkraftwerk so politisch wie die Beteiligung an parlamentarischen Akten wie Wahlen, Parteien und Ausschüssen. Politik ist also gesellschaftliches Agieren, welches auf den Staat bezogen ist, an den Staat Forderungen stellt etc. So was zu tun kann sinnvoll sein, ist es auch in vielen Fällen. Das Problem besteht also nicht darin, daß man keine Politik machen darf, sondern daß es falsch ist, sie zum Ausgangspunkt, zum Dreh- und Angelpunkt des eigenen gesellschaftskritischen Agierens zu erheben. Problematisch ist, daß gerade Linke – und zwar leider oft zunehmend mit stärkerer Radikalität – am Vertrauen in die Politikform festkleben. Währenddessen bierseelige deutsche Stammtische schon längst wissen, daß „die da oben eh’ machen was sie wollen“ – ein ideologisch wie auch immer verzerrter und entstellter Widerschein realer Verhältnisse.
Anti-Politik trennt sich an dem Punkt von der Politik, wo sie erkennt, daß die Linken die Menschen, also sich selbst, immer in den Formen des Bestehenden emanzipieren wollten, in denen von Staat und Politik. Auch dann, wenn sie die herrschenden Staaten und die herrschende Politik ablehnten. Auch dann, wenn sie, wie die Anarchisten (zweifellos die sympathischsten unter den Altlinken) ganz über den Staat hinaus wollten. Sie blieben dann nämlich auf das Gegenteil, den Markt oder seine Systemgesetzlichkeit abonniert und entkamen somit nicht dem Dualismus von Markt und Staat(3). Die Anti-Politik erkennt, daß sich heute der Ausweg zeigt: das es möglich, gleichzeitig aber auch um den Preis des eigenen Überlebens notwendig wird, jenseits von Markt und Staat eine „Weltgesellschaft ohne Geld“ (Trenkle) zu etablieren.
Den GegnerInnen der Politik werden ähnliche Kritikpunkte entgegengehalten werden, wie den FeindInnen der Arbeit (zumindest von Linken): „eigentlich ist euer Konzept ja gar nicht so übel – aber daß was ihr wollt, ist doch auch eine Form von Politik. Wenn ihr euch »anti-politisch« nennt, so liegt das nur daran, daß ihr einen zu engen Begriff von Politik habt und wir haben halt einen weiter gefaßten etc pp.“. Dieses oft gutwillig vermittelnd und wohlwollend formulierte Argument stellt jedoch einen entschiedenen Angriff auf die Anti-Politik dar und verdient eine ganz klare und eindeutige Zurückweisung. Hinter ihm steht die Argumentation, daß es sich doch „bloß“ um einen Streit der Begriffe handelt. Das ist jedoch falsch. Ebensowenig wie die Arbeit ist auch die Politik eine rein logische Abstraktion. Wie bei der Arbeit handelt es sich um eine Realabstraktion. Real wirkungsmächtig und Menschen zurichtend setzte sich die Politik in der menschlichen Gesellschaft mit dem Einzug des Kapitalismus durch und ordnet Menschen ihren Maßstäben unter. Dieser Siegeszug der Politik ist nicht denkbar ohne die brachiale Durchfolterung der Arbeit, ohne die auf Scheiterhaufen durchgesetze bürgerlich-patriarchale Ordnung, ohne die brachiale Gewalt zweier Weltkriege, die die Menschen in den Schützengräben zu „freien“ und „gleichen“ Subjekten deformierte. Die Durchsetzung der Politik ist also ein vielhundertjähriger Prozeß oder vielmehr ein blutig-barbarischer Feldzug gegen die Menschen. Heute ist uns die Politik so in Fleisch und Blut übergegangen, daß es keine Anstrengung mehr kostet, Sätze zu sagen wie, „es gibt kein unpolitisches Leben“ ohne daß sich einer oder einem dabei spontan der Magen entleert(4). Gerade weil Menschen heute so derartig vernarrt und vernagelt in die Politik sind, können sie nicht mit der bürgerlichen Subjektform brechen(5), schreien selbst dann noch nach Politik, wo der Staat sich auflöst oder über ihnen zusammenpurzelt (Globalisierungskritik) bzw. nach Arbeit, wo deren Verkauf heute so erfolgreich ist, wie der von Postkutschen(6). Daher bedeutet befreite Gesellschaft prinzipiell eine Befreiung von Politik. Daher stellt Anti-Politik einen Gegenentwurf zum Politniktum dar.

Antifaschismus

Ausgangspunkt der Debatte um Kritik oder Politik war die Diskussion mit der Antifa – also mit AntifaschistInnen. Es handelte sich dabei um das BgR und die RAAL. Also Gruppen, die gemeinhin unter das Chiffre „autonome Antifa“ gebracht werden. Ihr Antifaschismus war – wie jedweder Antifaschismus – staatsbezogen von Anbeginn(7). »Antifaschismus« ist als Begriff an die Situation 1944/45 gebunden. Er steht als Konzept für eine Situation in der das kapitalistische System zwei Entwicklungswege offen hatte: den deutsch-völkisch-diktatorischen (dafür standen Deutschland, Italien, Japan und ihre Verbündeten) und den westlich-aufgeklärt-demokratischen (wofür entgegen der heutigen offiziellen Geschichtsschreibung besonders die USA, Großbritannien und Stalins Sowjetunion(8) standen). In dieser Situation war es richtig, die amerikanische, englische oder sowjetische Uniform anzuziehen und gegen Deutschland in den Krieg zu gehen(9). An diese Situation knüpfte der Antifaschismus an. Er verteidigte die westlichen Werte in Gestalt der USA oder des Marxismus-Leninismus(10) als radikalisiertes Aufklärertum der Sowjetunion/des Kommunismus/Bolschewismus. Antifaschismus war stets auf den Staat bezogen, wollte die Grundordnung gegen noch schlimmeres verteidigen. Das war in der Nachkriegszeit, als eine relevante faschistische Gefahr noch bestand, absolut sinnvoll. Das verliert aber heute seine Bedeutung, beziehungsweise wird zum sinnlosen Unterfangen, wo die skizzierte Situation nicht mehr besteht. Heute stehen dem kapitalistischen System nicht mehr jene beiden Wege offen. Was ansteht ist sein schrittweiser Untergang. Wofür wir uns zu entscheiden haben: entweder der Barbarisierung taten- und gedankenlos zuzuschauen oder sie durch falsches Handeln in den Formen der Politik zu verschärfen – oder aber diese Formen hinter uns zu bringen.
Die „alte Antifa“ ist dort zu verteidigen, wo sie „autonom“, dort anzugreifen, wo sie antifaschistisch sein wollte. Gegen Nazis agitieren und agieren, überzeugen und argumentieren, demonstrieren und Flugis schreiben, Menschen vor ihnen zu beschützen, bleibt dabei das Richtigste was sich tun läßt. Dabei ist nicht auf den Staat zu vertrauen. Der will nichts gegen Nazis und kann nichts gegen Nazis. Jedenfalls zunehmend immer weniger. Dort, wo er noch will und kann, ist er nicht abzuhalten. Aber Vertrauen verdient er dabei nicht. Nicht weil er so schlimm und böse ist, sondern weil er in seiner Krise einfach nicht mehr kann. Warum sollte uns ein Staat, der es nicht mehr auf die Reihe kriegt, für günstige Akkumulationsbedingungen des Kapitals zu sorgen (was seine Hauptaufgabe wäre), uns vor Nazis und anderen durchgeknallten Abdrehern schützen?(11) Das müssen wir dann wohl also selber machen.

Dringend zur Lektüre empfohlen:
- Robert Kurz: Anti-Ökonomie und Anti-Politik, in krisis 19.
- Gaston Valdivia: Zeit ist Geld und Geld ist Zeit, in krisis 19.
- Volker Hildebrand: Der dritte Sektor, in Krisis 19.
- Norbert Trenkle: Weltgesellschaft ohne Geld, in Krisis 18.
- Robert Kurz/Norbert Trenkle: Die Aufhebung der Arbeit, in Feierabend, elf Attacken.
- Stephan Meretz: Linux und CO.

Fußnoten:
(1) Leider kann ich hier nichts zitieren, weil es sich nur um Erinnerungen des Autors handelt.
(2) Vgl. Robert Kurz, Gibt es ein Leben nach der Marktwirtschaft?
(3) Bakunin spricht das aus, wenn er von einer geheimen Struktur spricht, die die befreite Gesellschaft lenken soll, ohne sie zu beherrschen und indem er in seinen Kommunen alle zum Arbeiten verdonnern will. Auch Kropotkin spricht es aus, auch und obwohl Arbeiten bei ihm freiwillig sein soll, wenn er meint, daß das anarchistische Prinzip (die gegenseitige Hilfe im Tier- und Menschenreich) schon in der menschlichen Natur angelegt sei. Man muß dann zwar nicht arbeiten, aber die meisten würden es schon wollen, weshalb es kein Problem sei, wenn einzelne wirklich nicht ihrer Natur entsprechen. Proudhon spricht seine enge Bindung an den Warentausch in seinem „mutualistischen“ (Tauschgerechtigkeit) Ideal immerhin offen aus. Wer sich aber nicht vom Markt und seiner unsichtbaren Hand lösen kann, der muß rein logisch auch dem Staat verhaftet bleiben und anders herum.
(4) Da lieber den ganzen Tag mollen, als ein Leben zu leben, daß nicht unpolitisch sein kann.
(5) Nicht zu toppender Höhepunkt einer derartigen Argumentation wurde uns am 18.6.2002 im Eiskeller auf der ANG-Veranstaltung „Antiamerikanismus und Barbarei“ vorgeführt. Gerade an das bürgerliche Ich sei die Möglichkeit von Befreiung gebunden, so ein Referent. Mit dem Zerbrechen dieses Ich werde Emanzipation unmöglich. Tatsächlich verhält es sich dergestalt, daß gerade mit dem Ende des bürgerlichen Ich-Panzers, dessen Schwinden die (Mehrheits-)ANG immerhin bemerkt, was ihr hoch anzurechnen ist, die Möglichkeit von Befreiung – aber im schlimmsten Fall auch ihr Gegenteil – aufleuchtet.
(6) Vgl. Krisis: Manifest gegen die Arbeit.
(7) Die Formulierung »revolutionärer Antifaschismus« tut dem keinen Abbruch: erstens ist der Begriff „revolutionär“ gerade nicht so subversiv, wie er oft gemeint und vorgetragen wird. Zweitens war er als Konzept auch nicht so emanzipatorisch, wie es von seinen Apologeten gewünscht war. So kann es streng genommen heute gar kein Bündnis zwischen „Antifaschismus“ und „Emanzipation“ geben – da Antifaschismus bedeutet, sich ans Bestehende zu binden und es gegen die Gegenaufklärung zu verteidigen. In diesem Sinne sind jene, die sich am deutlichsten von „Antifa“ entfernen wollen, nämlich ISF und BAHAMAS, ihr am stärksten verhaftet und zwar nicht weil sie auch mal Politik machen (Israel verteidigen), sondern weil sie klammernd wie eine Schar verängstigter Äffchen an Aufklärung, Subjekt und Ich festhalten.
(8) Es ist gewiß ungewohnt, von der Sowjetunion als einem westlichen, aufklärerischen und demokratischen Staat zu sprechen. Ich tue dies auch gar nicht in lobender Absicht, etwa wie mit Hintergedanken Stalins Innenpolitik zu rechtfertigen. Das entscheidend demokratische und aufklärerische an Stalins Sowjetunion war, daß er die Russen, Esten, Georgier, Kasachen, Ukrainer etc. in einem westlichen Nationalstaat vereinen wollte – keinen völkischen Gemeinschaftsstaat etablieren wollte und daß er in strenger Manier der bürgerlichen Natur- und Gesellschaftswissenschaft einen geplantes, wohlgeordnetes und kontrolliertes staatliches Aggregat schaffen wollte – bürgerlicher und aufklärerischer geht’s nimmer.
(9) Vgl. Robert Kurz: Die Mudschahedins des Werts.
(10) Der zu damaligen Zeiten für entscheidend erachtete angeblich grundlegende Unterschied zwischen „West“ und „Ost“ muß heute vor dem Hintergrund einer fundamentalen Wert-/Abspaltungskritik als nicht inhaltlicher, sondern lediglich strategisch-geopolitischer Kampf von Gleichen um Einflußsphären gedeutet werden.
(11) Kritisch zu beleuchten ist vor diesem Hintergrund die Artikelserie „Kritik der Antifa“ von Ralf, was in diesem Text jedoch nicht ausführlich geschehen kann. Dem krisenhaft kollabierenden Staat wird hier eine schier unglaubliche Wirkungskraft zugeschrieben. Der Staat sei immer schon dort, wo die Antifa hinwolle – letztendlich stünde nicht nur hinter dem Faschismus das Kapital/der Staat, sondern auch hinter dem Antifaschismus. Das möglicherweise beide weder hinter dem Faschismus noch hinter dem Antifaschismus stehen könnten, fällt dem Autor nicht auf. Statt dessen breitet er über Seiten seine negativ gewendeten Allmachtsphantasien in bezug auf die Wirkung des Staates aus. Dabei ist anzumerken, daß diese Artikelserie verheerende Auswirkungen auf gesellschaftskritische Praxis in Leipzig hatte. Mit Argumenten aus dieser Artikelserie auf den Lippen, begannen Menschen nichts mehr gegen Nazis unternehmen zu wollen. Sie verkannten, daß die Kritik dem Antifaschismus als Konzept, gar noch als revolutionäres, galt, nicht dem Auftreten gegen Nazis und andere Dumpfbacken. Heute sieht es so aus, als ob erst Mollies in linke Treffs einschlagen müßten und den Staat das einen einigermaßen feuchten Kehricht angehen müßte, bis Leute verstehen, daß das SO entweder nicht gemeint war oder wenn doch, es dann eben eine falsche Argumentation darstellt.


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last modified: 28.3.2007