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Verblödung als Neigungsradikalität
& Mitmachen als Widerstand

Zum „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“, den Verfasser Gilles Deleuze und die postrukturalistischen Neigungen der Linken

„Manchmal wirft man uns vor, komplizierte Wörter zu verwenden, um auf 'schick' zu machen. Das ist nicht nur boshaft, sondern auch dumm.“
(Gilles Deleuze, Gespräch über Tausend Plateaus)
Der auf den nachfolgenden Seiten zu lesende Text des französischen Philosophen Gilles Deleuze stellt einen der Schlüsseltexe für die im Vorjahr stattgefundene Kampagne gegen die sogenannte Überwachungsgesellschaft dar. In ihm finden sich mehr oder weniger alle Thesen gebündelt wieder, die auf anderen verschlungenen Pfaden der Kampagne inhaltlich zu Grunde lagen. Das Cee Ieh möchte nun mit einiger Verspätung den Text breiter zugänglich machen.
Verblüffen muß, daß dieser Text explizit wider besseren Wissens von den Kampagneros gegen „Überwachungsgesellschaft und Sicherheitswahn“ nicht offiziell als Bezugsgröße diente – auch wenn er sich manchmal fast wortgetreu wie der Aufruf zur Großdemonstration für den 14. Oktober 2000 liest.
Stattdessen steht ernstlich zu vermuten, daß man bewußt und unbewußt auf der Subebene einer philosophischen Strömung verharrte, die sich in Frankreich als poststrukturalistische einbürgerte oder in den USA in Anlehnung als dekonstruktivistische.
In der Tradition von Nietzsches „Wille zur Macht“, den Heidegger gar noch zur „’Essenz’ alles Wirklichen“ erklärte, bekam die philosophische Strömung der Strukturalisten methodische Konturen. Dieser Strömung um den eigentlichen Begründer Roland Barthes und der später zentralen Figuren Claude Levi-Strauss und Jaques Lacan ging es um die Ergründung der Ordnung von Objekten, deren Erscheinungsweise und Aufbau. Dieser strukturalistischen wissenschaftsunkritischen Methode entsprang die Absage an jegliche Dialektik um der Beschreibung willen, der Beschreibung von gesellschaftlichen Differenzen. Das Denken von Subjekt und Objekt, von abstrakt und konkret, von Wesen und Erscheinung wurde endgültig hinfällig, weil die gesellschaftliche Totalität diese Erkenntnisfähigkeit im Denken der Strukturalisten nicht zuließe: so entwickelte sich folgerichtig der Poststrukturalismus, der ohne die große Erzählung über das Objekt auszukommen gedenkt. (Im übrigen durchaus synonym mit dem 1979 – also später – von Lyotard entwickelten Begriff der Postmoderne zu verstehen, der diesen aber bereits während der 80er Jahre durch einsetzende gesellschaftliche Begriffs-Vulgarisierung, einer Popularisierung, gezwungenermaßen korrigieren mußte, weil er keine neue Epoche – die Postmodernität – ausrufen, sondern eine gesellschaftliche Situation beschreiben wollte.)
Als Kronzeugen für die Schnittstellen des Wandels vom Strukturalismus zum Poststrukturalismus können insbesondere Michel Focault, Jaques Derrida und Louis Althusser gelten, wobei letzterer im Gegensatz zur antimarxistischen und selbst antihegelianischen Grundstimmung des Poststrukturalismus eine marxistische Sonderrolle einimmt und deshalb hier als Randfigur – wenn auch gerade deshalb als wichtige – dieser philosophischen Strömung gelten soll.
Das differenzialistische Denken der Postrukturalisten bemißt sich an der Bewegung des Dekonstruierens von gesellschaflichen Begriffen, um das Andere, die Differenz vom dekonstruierten Begriff, offenzulegen. Insbesondere Gilles Deleuze hat dies im Verbund mit dem Psychoanalytiker Felix Guattari methodologisch so verfeinert, daß das Deskriptive, das Beschreibende, durchaus im Sinne Adornos und in produktiver Bezugnahme auf Michel Focault eine besondere Stärke entwickeln konnte.
In Fortentwicklung der Focaultschen Maxime des Nietzscheanismus, daß der Wille zum Wissen immer der Weg zur Macht sei, verklärt Deleuze fatalerweise die Philosophie zum reinen unbefleckten Ort:
„Religion, Staat, Kapitalismus, Wissenschaft, Recht, öffentliche Meinung und Fernsehen sind Mächte, aber nicht die Philosophie. Da Philosophie keine Macht ist, kann sie nicht in eine Schlacht mit den Mächten eintreten, führt stattdessen einen Krieg ohne Schlacht gegen sie, eine Guerilla. (...) Und da die Mächte sich nicht damit begnügen, äußerlich zu bleiben, sondern in jeden von uns hineinreichen, findet sich jeder von uns ständig in Unterhandlungen und einer Guerilla mit sich selbst, dank der Philosophie“ (vgl. Deleuze, Unterhandlungen, Frankfurt/Main 1993, Vorwort). Deleuze bezieht sich hier auf Nietzsche und desen „Genealogie“ von Macht, die Nietzsche gegen Hegels Dialektik vom Wesen ins Feld führte, um die gesellschaftliche Zusammensetzung von Moral zu ergründen. Erkenntnis- und Ideologiekritik spielt somit bei Deleuze wie bei allen Poststrukturalisten, wenn überhaupt, nur eine Nebenrolle.
Focault knüpft in seinem 1975 erschienenen Buch „Überwachen und Strafen“ direkt an Nietzsches Werk „Zur Genealogie der Moral“ an, wo Nietzsche tatsächlich die Bedeutung dessen für das Individuum vorwegnimmt, was Freud in seinem Spätwerk „Das Unbehagen der Kultur“ über das Eingehen unbewußter selbstdisziplinierender Zensur durch das Über-Ich feststellt.
In „Überwachen und Strafen“ beschreibt Focault drei Machttypen: die Ausschließung, die Integration und die produktive Disziplin. (Auch hier muß übrigens gefragt werden, warum diesem Buch ebenfalls keine explizite Bedeutung als Grundlage für die Leipziger Kampagne gegen „Überwachungsgesellschaft und Sicherheitswahn“ beigemessen wurde, obwohl sich hintenrum der Thesen des Buches offensichtlich doch bemächtigt wurde. So findet katastrophalerweise nicht mal der Buchtitel wie eben auch das „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“ Erwähnung in den Literaturhinweisen des Readers zur Kampagne. Das Ergebnis dieses offensichtlichen Dilemmas ist ja inzwischen bekannt: linker Widerstand auf dem denkbar niedrigsten Niveau, repräsentiert als ungewollte automatische Ausladung aller Nicht-Bewegungs-Linken – das ist, gelinde gesagt, unentschuldbar.) Genau dort knüpft Deleuze auch mit seinen Arbeiten in Bezug auf Focault an. Grundsätzlich stellt er für sich und seinen Freund Guattari als Gemeinsamkeit mit Focault fest: „Wir fanden keinen Geschmack an Abstraktionen, an der Einheit, am Ganzen, an der Vernunft, am Subjekt. Wir sahen unsere Aufgabe darin, gemischte Zustände zu analysieren, Gefüge, Verkettungen, von Focault Dispositive genannt. Dazu mußte man Linien folgen und sie entwirren, und nicht auf Punkte zurückgehen.“ (Deleuze, a.a.O., S. 125)
Was Focault „Mikrophysik der Macht“ nennt, heißt bei Guattari „Mikropolitik des Wunsches“.
Es ginge eben nicht, so Deleuze, „um die Suche nach Ursprüngen, nicht einmal verlorenen oder annullierten“, sondern darum, „Dinge dort anzupacken, wo sie sprießen, in der Mitte die Dinge aufbrechen, die Worte aufbrechen.“ (ebenda, S. 126)
„Der Verzicht auf das Ganze, die Einheit, das Subjekt (...)“ (ebenda, S.129) ist tatsächlich im wortwörtlichen Sinn der Unterschied ums Ganze bei den Poststrukturalisten im Verhältnis zur gesellschaftskritischen materialistischen Dialektik, wenn es um die Charakterisierung von Widerstand geht. Auch Deleuze und Guattari behaupten tatsächlich, sie seien Marxisten „geblieben“. Denn sie glaubten „nicht an eine politische Philosophie, die nicht auf eine Analyse des Kapitalismus und seiner Entwicklungen gerichtet ist.“ (Deleuze, ebenda, S. 246) Daß der Begriff des Kapitalismus analog ihrer eigenen Denklogik eine zufällige Sache ist, erzeugt dann folgerichtig eine unverschämt zu nennende Dünnbrettbohrerei: „Im Kapitalismus gibt es nur eine einzige universelle Sprache, das ist der Markt. Es gibt keinen universellen Staat, gerade weil es einen universellen Markt gibt, dessen Zentren und Börsen die Staaten sind.“ (ebenda S. 247) Und fertig ist der Begriffssalat, resp. -gefüge. In Deleuzes viel erwähntem Buch „Tausend Plateaus“ läßt er diesbezüglich auch die Katze aus dem Sack, worauf dieser Vulgärmarxismus zurückzuführen ist: ihn interessieren eben nicht das Wesenhafte und die Erscheinungen des Kapitalismus, sondern die „Fluchtlinien“ der Gesellschaft. Und statt den Konstitutionsbedinungen des bürgerlichen Subjektes interessieren ihn „Minoritäten“ und „revolutionäre Bewegungen“, (...) „aber auch künstlerische (...)“. (S. 247). „Tausend Plateaus“ liefere „Erkenntniseffekte (S. 42), die darauf hinausliefen, daß selbst das ‘Gute’ niemals ‘sicher’ sei.“ (S. 51)
In dem mit Guattari zusammen verfaßten „Anti-Ödipus“ – dem Vorläufer von „Tausend Plateaus“ – versuchen beide den von Freud der Ödipussage entlehnten „Ödipuskomplex“ anzugreifen – und somit „die Psychoanalyse selbst in ihrer Theorie und Praxis“. (S. 30) Sie kritisieren die Psychoanalyse dafür, daß sie den „Ödipuskomplex” zur Allgemeingültigkeit erhebt: Der Todeswunsch gegenüber dem Rivalen als Person gleichen Geschlechts und der gleichzeitige sexuelle Wunsch gegenüber der Person des entgegengesetzten Geschlechts der Sage nach wird bei Freud zum „Kastrationskomplex“ wegen des Inzestverbots, daß Levi-Strauss zur minimalsten strukturellen Grundlage eines Kulturgesetzes erklärte. Im „Anti-Ödipus“ versuchen nun Guattari und Deleuze zu zeigen, „inwiefern das schon für das Kind stimmt“. (S. 35) Sie stellen fest: „Es ist verrückt, was für Dummheiten im Namen des Ödipus gesagt werden konnten, vor allem über das Kind.“ Im Gegenzug schlagen sie statt der Allgemeingültigkeit des „Ödipuskomplexes“ eine Untersuchung der individuellen Schizophrenie als gesellschaftlichen Zustand vor – eine „Schizoanalyse“ (ebenda).
Als Kronzeuge des Poststrukturalismus bringt Deleuze auf den Punkt, was dieser Philosphieströmung (sic!) wohl kaum zu Unrecht den Pauschalvorwurf der „Heideggerianisierung der Linken“ (Initiative Sozialistisches Forum – ISF) einbrachte. Zumindest aber ist die Zeit reif, um mit Moishe Postone zu sprechen, den Poststrukturalismus als radikale Gesellschaftskritik gänzlich in Frage zu stellen. (vergleiche dazu Cee Ieh Nr. 75, Moishe Postone, Welchen Wert hat die Arbeit?) Es ist die Frage, ob sich ein Anspruch radikaler Kritik der bürgerlichen Gesellschaft als Tauschgesellschaft, die der „Selbstverwertung des Werts“ als „automatisches Subjekt“ (Karl Marx – vgl. dazu Cee Ieh Nr.74, Kritik der Antifa Teil 1) objektiv unterliegt, eine Philosphie der Beschreibung gefallen lassen muß, ohne gleichzeitig diese Strömung in ihre Schranken zu verweisen – in die Schranken, innerhalb derer der Poststrukturalismus als dekonstruierende, beschreibende Ergänzung und analytisches Mittel durchaus prima Anwendung finden könnte.
Daß die Stärke des Poststrukturalismus nur seine Mittel sind, nicht aber eine Kritik zur Abschaffung der bürgerlichen Gesellschaft unter dem totalen Eindruck des „Fetischcharakters der Ware“ (Marx) als solcher, liegt schon daran, daß dieser objektive Tatbestand strikt geleugnet wird. Deleuze steht beispielhaft für die zwanghafte Konkretion, für das unbedingte Verharren auf der gesellschaftlichen Erscheinungsebene – der Ebene der „zweiten Natur“ (Marx): „Das Abstrakte erklärt nichts, es muß selbst erklärt werden: es gibt keine Universalien, keine Transzendentalitäten, nicht das Eine, kein Subjekt (kein Objekt), keine Vernunft, es gibt nur Prozesse; das können Prozesse der Vereinheitlichung, der Subjektivierung, der Rationalisierung sein, mehr aber nicht. Diese Prozesse wirken in konkreten ‘Vielheiten’, die Vielfalt ist das wahre Element, in dem irgend etwas passiert.“ (S. 212) Für die Darstellung dieses angeblichen gesellschaftlichen Gewirrs bedient sich Deleuze unter anderem der Metapher des Rhizoms, aus dem er zur Veranschaulichung ein wurzelähnliches Geflecht, eine Art verästelten stammlosen Anti-Stammbaum konstruiert.
In dieser Logik gerät alles und nichts zum Ausdruck von Macht, weil das Wesenhafte des Kapitalismus poststrukturell schon immer in der Zufälligkeit aufgelöst war, ist und sein soll. So gehören Macht und konkreter Widerstand fast schon unmittelbar zusammen. Und einfacher kann man dann diesen Widerstand auch nicht haben können: auch er ist – genau wie die erkannte Macht – alles und nichts. Solange er sich nur umstandslos an die Mikrophysik der Macht zu klammern versteht, ist er positiven Charakters und Bejahung von Differenz ohne einheitliches, universelles Konzept.
Es ist daher letztlich ein schlechter Witz, die Poststrukturalisten mit der Frage nach einer befreiten Gesellschaft überhaupt zu konfrontieren – es interessiert sie in der Endkonsequenz einfach nicht! Denn, so das pseudorebellische Spiel eines emphatischen Deleuze, „bei jedem Versuch entscheidet sich die Frage von Widerstand oder Unterwerfung neu.“ (S. 253)
Und so zieht Deleuze aus dem „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“ bezeichnenderweise auch nur einen Schluß: „Das Wichtigste wird vielleicht sein, leere Zwischenräume der Nichtkommunikation zu schaffen, störende Unterbrechungen, um der Kontrolle zu entgehen.“ (S. 252) Da stellt sich glattweg die Frage, ob diese Form von unabdingbarer Herrschaftsreproduktion nichts weiter ist als aktives Mitmachen, das, als Widerstand getarnt, über die bestehenden gesellschaftlichen Zwänge noch hinausgehen soll – ähnlich dem Niveau einer angeblichen Theorie von Pop-Subversion oder von Distinktionsgewinnlern wie dem Soziologen Bourdieu.
Um die Sache abzurunden: wenn hier im Cee Ieh also das „Postskriptum der Kontrollgesellschaften“ abgedruckt wird, dann auch als Nachweisführung der eigentlichen deskriptiven, sprich: beschreibenden, erzählenden Stärken der poststrukturalistischen Strömung. Über deren sonstige Unerträglichkeit als ausschließliches Mittel radikaler Gesellschaftskritik wird jedoch in der Folge ausführlicher zu reden sein. Denn es geht schlichtweg um die Rettung radikaler Kritik vor dem Zerfall ins Gefasel und Expertenwissen – darunter, unter diesem Niveau, ist ein Streit leider nicht führbar.
Als ein letzter Anstoß, womit man es dabei zu tun hat, noch etwas hoffentlich bedenkenswertes: „Den Positivisten à la Focault (also auch den anderen dekonstruktivistischen Verdächtigen – R.) ist es unmöglich, Faschismus, Souveränität oder Krise als Realität zu verstehen, die die bürgerliche Gesellschaft auch dann noch kennzeichnet, wenn ihr aktuell-empirisch nichts entspricht.“ (Manfred Dahlmann, Bahamas Nr. 26, S.50) Wer daraufhin die Probe aufs Exempel machen möchte, sollte sich mit den Mitteln dieser Philosophen mal Rassismus oder Patriarchat, von Antisemitismus ganz zu schweigen, erklären oder besser: beschreiben (!) lassen. Da bleibt dann nur noch viel Spaß und Widerstand zu wünschen. Und dabei nicht vergessen: Nicht nur immer in Bewegung bleiben, sondern auch auf Teufel komm raus in Bewegung machen.
Daß so z.B. genau jene Deleuzschen „Fluchtlinien“ gar verwischt werden müssen, die man ja eigentlich in der Bewegung verfolgen möchte, gibt allein schon mit dem Sinn der Metaphorik den Irrsinn preis, den diese philosophischen Strömlinge betreiben. Der Bewegungspragmatismus der Tat muß sich also zwangsläufig in den zu dekonstruierenden Dingen verlieren, weil er nichts kennen will, an dem sich wegweisend auch nur orientiert werden könnte. Endgütlig nun scheint Horkheimers Idealierung der Philosophie hinfällig: glaubte er noch, daß jene prinzipiell dazu da sei, „sich nicht dumm machen zu lassen“, scheint langsam aber stetig empirisch nachgewiesen, daß sich die Verblödung als Neigungsradikalität in der Linken eingeschlichen hat. Es ist wohl mal wieder überfällig, daran zu erinnern, daß olle Marxens philosophiekritische 11. These über Feuerbach, nach der die Philosophen die Welt nur verschieden intepretiert hätten, es aber darauf ankomme, sie zu verändern, grundsätzlich daran gemahnen soll, sie nicht unter Zuhilfenahme von Philosophien zu gestalten, sondern sie seiner Kritik der politischen Ökonomie gemäß mit der Waffe materialistischer Dialektik zu verändern. Und das isser dann wieder, der Unterschied ums Ganze.
Ralf

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last modified: 28.3.2007