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Körper ohne Gewicht

Natur und Leib im Widerstand.
Verschriftlichung des gleichnamigen Vortrags von mausebär – Teil 1.

Auf einem kleinen Berg stehen und auf eine hügelige Auenwiese hinuntersehen. Ich spüre den Luftzug, kein Auto ist zu hören. Das Auge hat das in großen Mengen, was man bei Tieren „Auslauf“ nennt. Es kann sich austoben, schweifen, verweilen und stößt sich nicht an Autobahnen und Kraftwerksbauten. Ruhe, Leichtigkeit, langsame Bewegungen der Gräser, keine Hektik, dramatische Ereignisse sind ausgeschlossen.

In der Herbstnebelstille ist man in einer sonst nicht erfahrbaren Weise aufgehoben, bewahrt - es ist allein sehr schön und ebenso schön, einem Menschen zu begegnen. Man spürt sich wie unter einer Decke oder auch wie in einem wohleingerichteten Haus, das man zum ersten Mal betritt. Man tobt nicht herum, ja bewegt sich sogar gemessener, als eigentlich notwendig wäre.

Die Blätter der Zitterpappel, kurz vor ihrem Herbststurz zur Erde, klatschen ein letztes Mal der langsam sinkenden Oktobersonne Applaus. Es ist immer noch nicht zu kalt, als dass ich nicht auf einer Wiese liegen könnte; dort bin ich über nichts mehr betrübt, als darüber, dass die Sonne schon bald hinter den Wolken verschwindet. Ich spüre mich selbst in einer lebendigen Umgebung, auch und vielleicht gerade, wenn niemand meiner Art anwesend ist, obwohl er jederzeit zwanglos anwesend sein könnte. Es ist schön zu wissen, dass etwas lebt, was nicht durch mich und meinesgleichen gemacht wurde.

Gefrorenen Tau spüren, auf den ersten Halmen des Vorfrühlings in der Morgensonne. Die wärmt zwar kaum, doch Kälte macht mir wenig aus und es ist nicht einmal unangenehm, sich Schuhe und Strümpfe auszuziehen und probeweise über die Wiesen zu rennen.

Einleitung

Der Titel klingt nach Widerspruch. Er bezieht sich auf Judith Butlers „Körper von Gewicht“, englisch: bodies that matter. In der Alltagsübersetzung also: Körper, die zählen, auf die es ankommt. Bei Butler sind das diejenigen, die sich durch ritualisierte Normwiederholung und Ausgrenzung alles anderen, heterosexuell konstituiert haben, eine Praktik, mit der die Autorin unzufrieden ist und die sie deswegen dekonstruieren möchte.
Meine Abwandlung möchte ich in zweifacher Hinsicht verstanden wissen:
1. Die massenhafte Vernutzung lebender Körper, menschlicher und nicht-menschlicher, zeigt, dass es auf sie als je einzelne real kaum mehr ankommt.
2. Auf den Körper sollte es in Hinsicht auf den Leib ankommen. Leib sei – mit Gernot Böhme (der sich dabei auf Plessner und Schmitz beruft) – definiert, als Natur die wir selbst sind (Böhme 2003: 9). Leib sind wir in der Selbsterfahrungsperspektive (ebd.: 12), Körper in der Fremderfahrungsperspektive als uns äußerlich gegebenes, durch Naturwissenschaften und Medizin manipulierbares Ding. Damit sind wir mitten in den Problemen und längst zurück von der Wiese in der Stadt, dort, wo man sich dem Fortschritt nicht verweigert und noch der letzte Hartz-IV-Empfänger weiß, was der bücherlesende Linke weiß: dass man den Errungenschaften von Aufklärung, Fortschritt und Technik alles verdankt. Beide wissen: sich dem Fortschritt verweigern, hieße, lebensbedrohliche Krankheiten nicht mehr mit Mitteln der modernen Medizin heilen wollen, hieße, für die Totalverschleierung aller Frauen einzutreten und ab morgen kein Internet mehr zu haben. Und weil sie das wissen, sind sie also – wie alle anderen – für den ganz normalen Betrieb: für die Forschung an neuen Waffensystemen, Entlaubungsmitteln und Tütensuppen. Falls, ja falls doch einmal etwas gegen eine tödliche Krankheit unterkommen sollte. Man weiß ja nie.
Der linke Aufklärer redet darüber hinaus noch ganz gerne vom „falschen Ganzen“, davon, dass es kein richtiges Leben im falschen gebe, dass nur der Kommunismus und nichts unterhalb seiner anzustreben sei – wenn die Rede aber auf den Fortschritt kommt, weiß er: Fortschritt ist immer zu begrüßen, mindestens nie zu verteufeln – jede arbeitssparende Maschine ein Baustein zum Kommunismus – Schalalalalaaa. Wenn irgendein Bürger von der Straße für die Einführung einer Reichensteuer plädiert, schreit er: „Verkürzte Kapitalismuskritik! Für den Kommunismus!“. Beklagt jemand die Folgekosten von Fortschritt und Technik, die rabiate Vernichtung menschlicher und außermenschlicher Natur, wird also jemand konkret, dann wird gleich nachgefragt: „Na, wie soll's denn anders gehen, sollen wir wieder auf Bäumen leben?“, da solle man den Damen und Herren Kommunisten doch bitteschön das Patentrezept aus der Tasche zaubern. Einstweilen allerdings bleiben sie überzeugt, dass das, worin sie leben, die „im falschen Ganzen“ maximal mögliche Entfaltung bietet und geben hin und wieder zu, dass da und dort das gute Geld für falsche Zwecke eingesetzt wird. Am „falschen Ganzen“ wird lediglich die Leere des eigenen Portemonnaies beklagt. Warum nur hat man solche Angst davor, endlich zuzugeben, dass dieses großartige Ganze genau das ist, was man will?!

Heute möchte ich dem drei Dinge entgegen halten: Max Weber macht in seinem Buch „Die protestantische Ethik...“ deutlich, dass der Geist des Kapitalismus, also der Geist des Fortschritts, von Leuten entfesselt wurde (Calvin nämlich, seinen Anhängern und verwandten Sekten), die gegen nicht-religiöse Kulturgüter und nichtwissenschaftliche Literatur, gegen Weihnachtsfeste, gegen den Maibaum, gegen Theater, den Schmuck der Person, ja sogar gegen das Würzen von Speisen gehetzt haben, was das Zeug hielt; ihr Ziel war erklärtermaßen eine Uniformierung des Lebens, die heute ideelle Grundlage der „standardization“ kapitalistischer Produktion ist (Weber 1993: 140ff). Hier, genau hier, beginnt Fortschritt.
Als zweites eine Bemerkung von Max Horkheimer; sie stammt aus dem Spiegel-Interview 1970 „... der wahre Revolutionär (ist) dem wahren Konservativen verwandter ... als dem sogenannten Kommunisten heute“ (zit. bei Kaltenbrunner 1972: 52).
Das dritte ist ein kleines Rätsel: Wer hat folgendes gesagt: „Der Schornstein muß rauchen. Genau das aber wollen die Grünen nicht, und auch das wird das Wochenende zeigen: Mit der Klimakatastrophe beginnt das Event, Forderungen nach Senkung des C02-Ausstoßes werden mit satten Mehrheiten verabschiedet werden. Geht es nach den Grünen, sollen also Kraftwerke abgeschaltet und qualmende Industrien stillgelegt werden – das Geld zum Umverteilen kann dann nur aus dem globalen Spielcasino kommen.“ a) Otto Graf Lambsdorff, Ehrenvorsitzender der FDP in seiner Kolumne in der Zeitung „Die Welt“, b) Oskar Lafontaine als Gastredner einer Tagung der Bremer Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, c) Jürgen Gansel, wirtschaftspolitischer Sprecher der NPD-Fraktion im Sächsischen Landtag, d) Henryk M. Broder im Online-Tagebuch der Mitglieder des publizistischen Netzwerks „Die Achse des Guten“. Hier die Quelle: http://www.jungewelt.de/2007/11-23/042.php. (Sorry for that.)

1. Krise

Ich beginne mit einem Punkt, mit dem früher gern geendet wurde – mit Krise und Zusammenbruch.
Frage: Was braucht das Kapital zum leben? Antwort mit Marx: Die zwei Elemente A und Pm – Arbeitskraft und Produktionsmittel, beide als gegen Geld zu habende Waren auf einem Markt. Wie lange wird es das Kapital geben? Solange es A und Pm vorfindet. Wie sind A und Pm gegeben? A: In Form von menschlicher Muskel- und Geisteskraft, die durch Nahrung und durch Einübung und Benutzung spezifischer Arbeitskraftanwendungsfähigkeiten (z.B.: Arbeitsethos, Bildung, ausgeglichenes Familienleben) erhalten werden. Pm: Maschinen, Anlagen, wissenschaftliche Erfindungen und technische Fertigkeiten, Rohstoffe. Braucht Kapital, um Kapital zu sein, besonders viel A oder Pm? Nein, es braucht sie in einem bestimmten Verhältnis (natürlich beide > 0); es hat weder den Anspruch, die physischen (Natur = griech.: physis) Träger von A zu ernähren, noch die Träger von Pm zu schonen. Braucht Kapital den reibungslosen Fluss von A und Pm? Nein: Es braucht sie eben und solange sie – wenn auch stockend – zur Verfügung gestellt werden, wird es Kapital geben. Will das Kapital die Zahl der in seinen Prozess Eingeschlossenen auf irgendeinem gesamtgesellschaftlichen Optimum halten? Nein: Es gibt keinen optimalen, normalen oder nicht-normalen Kapitalismus; damit ist übrigens auch – rein logisch – die Möglichkeit ausgeschlossen, dass der Kapitalismus zu etwas Schlimmerem führen könnte, als er selbst ist – wer so denkt, muss eben einen Punkt festsetzen, an dem er sagen kann: Bis hierher war der Kapitalismus er selbst, ab jetzt kommt etwas Schlimmeres.
Wann kommt dieser Prozess aus sich heraus zum stehen? Genau dann, wenn seine Lebensgrundlagen A und Pm verschwunden sind. Wann ist das der Fall? Genau dann, wenn deren natürliche Träger, die organischen Grundlagen, weggebrochen sind oder/und kein menschliches Individuum die genannten Arbeitskraftanwendungsfähigkeiten mehr besitzt.

Nun gibt es kein menschliches Leben ohne die Transformationen von Stoff und Energie – auch wenn postmoderne Spinner nichts anderes als Dekonstruktion kennen (dazu Altvater 2005: 98). Und Transformation muss von tätigen Menschen an gegebenem Material ausgeführt werden – das klingt nach dem beschriebenen Kapitalprozess. Doch muss man sich folgendes klar machen: Als Prinzip der Totalvernutzung (und diese Totalvernutzung hat darin ihr Fundament, dass die Steuergröße dieser Gesellschaft die Profitrate und nicht die Profitmasse ist) kennt das Kapital kein Ende, es kann gar nicht anders, als A und Pm zusammenzuzwingen, daraus Waren herstellen zu lassen und diese Waren in Geld zu verwandeln. Es ist – mit Henry Ford zu sprechen – „Das große Heute, das größere Morgen“ (Original: To day and to morrow). Damit einher geht Müll, den man in zunehmend überbeanspruchten Senken verschwinden lässt. Dieser Zwang zur Transformation von Stoff und Energie ist völlig verschieden vom Transformieren von Stoff und Energie für etwas anderes, dessen Ansprüche durch Raum und Zeit begrenzt sind. (vgl. Altvater 2005: 106). Dieser Zwang ist einzigartig auf der Welt, so etwas gibt es kein zweites Mal. (Wer jetzt an Krebs denkt, denkt falsch. Krebs wächst nicht, weil er schon gewachsen ist, sondern aus außer ihm liegenden Gründen.) Dieses Prinzip kann nur getötet werden, selbst sterben würde es – wie vorhin gesehen – erst in dem Moment, in dem die letzten natürlichen Träger von A und Pm verschwunden wären. Nur ein solches Prinzip kann fortschrittlich sein. Das permanente Weitermachen, Fortentwickeln, sich-nie-zufrieden-Geben, kein-Genug-kennen – nur das ist Fortschritt. Alles andere mögen Änderungen, ja Neuheiten sein – nur das Kapital bietet die Gewähr dafür, dass es immer neue Entwicklungen gibt, die an ehemals neuen Entwicklungen anschließen, dass man also mit Neuigkeiten rechnen kann und muss. Das ist eine Angelegenheit der Logik und nicht des Beliebens, also auch nicht von Fortschrittlichkeit oder Fortschrittsfeindschaft.
Über die Logik stolpert Theodor W. Adorno (1998: 564), wenn er konstatiert: „die Krisis, der die Soziologie sich gewachsen zeigen muß, (ist) nicht mehr die der bürgerlichen Ordnung allein, sondern bedroht buchstäblich den physischen Fortbestand der Gesellschaft insgesamt“. (Im Hinterkopf: Natur, griechisch: physis – es gibt keinen physischen Fortbestand von Gesellschaft). Seiner kritischen Intention, die Gefährdung des menschlichen Lebens auf der Erde durch eine sich hinterm Rücken vollziehende Vergesellschaftung aufzuzeigen, ist dadurch die Spitze genommen, dass unverfügbar Gegebenes problemlos mit Gesellschaft verkoppelt wird. Bedroht ist „die Gesellschaft“ solange nicht, solange Kapitalverwertungsprozesse aneinander anschließen. (Vielleicht liegt hier die Ursache für die Ambivalenz der Kritischen Theorie bezüglich der Natur – einerseits das Naturschöne zu feiern, andererseits Naturbeherrschung nur verkoppelt mit Naturverfallenheit denken zu können. Man wird m.E. der Kritischen Theorie hier nur gerecht, indem man den Bezug auf sie selbst ambivalent hält, was ich im folgenden auch machen werde.)
Was aber passiert, wenn ein Prinzip, das der permanente Wechsel, ja sogar die Forcierung des permanenten Wechsels ist (Stichwort: Effizienz), auf prinzipiell begrenzte Voraussetzungen angewiesen ist (Natur, bzw. eine nicht voll dem Effizienzdiktat unterzuordnende Psyche)? Antwort: Es wird sie total bis zur völligen Erschöpfung zerrütten.
Zwei Illustrationen dieser Tendenz: Im „Summary for Policymakers” des IPCC 4th Assessment Reports über den Klimawandel, wird konstatiert: „... it is likely that anthropogenic warming has had a discernible influence on many physical and biological systems. Much more evidence has accumulated over the past five years to indicate that changes in many physical and biological systems are linked to anthropogenic warming” (Intergovernmental Panel on Climate Change 2007). „Selbst unter den striktesten Klimaschutzszenarien sind eine weitere Erwärmung und einige der damit verbundenen Auswirkungen im Laufe des 21. Jahrhunderts bereits unvermeidlich“, sagt der Entwurf für den neuesten Weltklimabericht. Ein „bedeutender Teil“ der europäischen Pflanzenwelt wird bis Ende des 21. Jahrhunderts gefährdet oder gar vom Aussterben bedroht sein (http://onnachrichten.t-online.de/c/13/39/77/24/13397724.html).
Psychische Erkrankungen nehmen zu – so hat sich 2003 im Vergleich zu 1997 und bezogen auf Tage der Arbeitsunfähigkeit je 100 Versicherte der Anteil psychischer Erkrankungen als Ursache für Arbeitsunfähigkeit nahezu verdoppelt. „Der Anteil von krankheitsbedingten Frühberentungen wegen psychischer Erkrankungen steigt dramatisch“, verlautbart die Pressestelle der DAK.

Das Zusammenbruchspotenzial liegt darin, dass ein physisloser Zusammenhang seine Voraussetzungen (und die fallen niemals mit ihm selbst zusammen) total untergräbt. Andere Formulierung: dass die Fortschrittsdynamik keine innere Schranke hat. Alles, was keine innere Schranke hat, ist der Vernichtungstrieb selbst. Dazu braucht man nur einfache Begriffslogik. Und die kann auch ein Dialektiker einsehen, Walter Benjamin z.B.: „Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Daß es ,so weiter geht’, ist die Katastrophe. Sie ist nicht das jeweils Bevorstehende sondern das jeweils Gegebene.“ (Benjamin 1984: 151).

Eine die gegenwärtige Gesellschaftsform beendende Krise, deren Eintreten von einigen an Marx orientierten Theoretikern angenommen wird, ist also aus Zusammenbruchserscheinungen (im o.g. Sinne) nicht ableitbar. Weder eine Exklusion von immer mehr Menschen, noch die fortschreitende Depravierung der natürlichen Umwelt sind identisch mit dem Ende der (Wert-) Gesellschaft.

Fazit: Jeder Zusammenbruchsbegriff, der sich nicht direkt auf nicht-menschliche Körper und auf das Befinden menschlicher Leiber bezieht, ist, weil zu schwammig, analytisch unbrauchbar.
Das Kapital greift auf die natürliche Umwelt zu als nicht mit ihm zusammenfallend (nicht eine Optimal- oder Maximalzahl von Körpern).

Das Kapital ist wirklich „the enemy of nature“ (Joel Kovel).

2. Gesellschaftlicher Fortschritt gegen die Natur

2.1 Die Gesellschaft totaler Verfügbarkeit in der unverfügbaren Natur

An diesem Punkt lässt sich festhalten: das Gesellschaftsprinzip ist in allem, was es ausmacht, von jeglicher Physis getrennt. Einer, der diese beinharte Trennung an zentraler Stelle in seine Gesellschaftstheorie integriert hat, ist der soziologische Systemtheoretiker Niklas Luhmann. Indem er in der Welt unterschiedliche, sich selbst durch nur je eine bestimmte Operationsweise herstellende Subsysteme identifiziert (Leben – Zelloperationen, Gesellschaft – Kommunikation, Bewusstsein – Gedanken/Vorstellungen) thematisiert er genau diese Realtrennung durch das Kapital. Wenn hier gesagt wird, das Prinzip „Kapital“ ist die Totalvernutzung seiner Voraussetzungen, mit denen es nicht zusammen fällt, sagt Luhmann: „Nicht alles, was von einem System abhängt, ist Teil des Systems. Die Systemgrenzen differenzieren ... nicht zwischen Abhängigem und Unabhängigem, Zusammenhängendem und Nichtzusammenhängendem ...“ (Luhmann 1978: 32).
Diese Theorie reflektiert in ihrer Fixierung auf die Funktionserfüllung von Systemen durch Operationen radikal ehrlich die angemaßte Autarkie der Vernunft und die generelle Leibfeindschaft des modernen Menschen, gegen die eine menschenfreundliche Praxis angehen müsste.

Natur als das Unverfügbare (dazu allgemein: Böhme 1997 a: 13 und Altner 1991: 4), als äußere und als meine leibliche, von der ich unausweichlich betroffen bin, von der ich mich abhängig erfahre, ist wegen dieser Unverfügbarkeit ein Widerstand gegen jedes sich Autarkie anmaßende Prinzip (das, wie gesehen, immer Vernichtung bedeutet). Sie ist auch ein Widerstand gegen den Funktionalismus, der nur noch Beziehungen gelten lässt und auf sachliche Grenzen keine Rücksicht nimmt (dazu auch Jünger 1953: 297f). Darauf bezieht sich der zweite Teil meines Titels. Was unverfügbar ist, ist nicht-objektivierbar (Altner 1991: 4), entzieht sich der Totalität („Die Angewiesenheit des Fortschritts auf Totalität aber kehrt einen Stachel wider ihn“, sagt Adorno [1980: 30], der den Fortschritt aber nicht verwerfen will) des Kapitals und kann als Widerstandsbastion benutzt werden. Das auch ausdrücklich gegen Roswitha Scholz gesagt, die hier wegen ihrer allzu engen Bindung an die Kritische Theorie anderer Meinung ist. Nachzudenken wäre dabei auch über das Weibliche, das wegen der Zuschreibung von Natur an es vielleicht ebenfalls eine solche Widerstandsbastion sein könnte, mindestens muss man darüber nachdenken, ob hier vielleicht die Differenzfeministinnen viel mehr recht haben als die neue kritische Theorie von Scholz.
Verallgemeinert: Jede erfahrene Abhängigkeit, jedes Gebundensein an Leiblichkeit ist ein Fingerzeig auf gebotene Solidarität, jede Autarkiebestrebung ein Schritt hin zur Vernichtung. Autarkie ist dem abhängigen Leiberleben kontrastiert; Türckes Deutung von Adam und Eva gibt eine gute Illustration (vgl. Türcke 2001: 103) – der Mann ist als Bedürftiger hingezogen zur Frau, die Autarkie des Geistes gilt nicht mehr; indem er seinem Bedürfnis nach Abhängigkeit nachgibt, verletzt er das herrschende Gesetz, leistet Widerstand, beide verlieren, sie werden nicht mehr in der Totalität gehalten und sind in Zukunft auf Solidarität angewiesen). Das gilt auch für den Leib, als die Natur, die ich selbst bin. Mein auf Aktivität und Autonomie gerichtetes Selbstbewusstsein ist nur möglich, wenn ich mich mir selbst als Leib, abhängiger, schmerzgeplagter, müder Leib versichert habe (und zwar als dieses sich-selbst-begründende Ich nicht mit ihm zusammenfalle; denn Selbstbegründung heißt ja, sich nichts widerfahren lassen zu müssen/können.). Natürlich ist das K.O.-Kriterium für jedes sich-Wohl-Befinden ein schmerzender Leib, doch ist ebenso in ewiger Lust kein menschliches Leben möglich (Böhme 2003: 95), weil es gar keinen spürenden Leib gäbe (selbst „auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen“, wie sich Adorno [1994: 208] ausdrückt, tut man leiblich. Das Wasser ist für mich spürbar als nicht mit mir zusammenfallend). Damit ist auch gleich dem Lieblingsargument „Es gibt gar keine Natur (mehr), alles ist immer schon gesellschaftlich.“ vorgebeugt. Müdigkeit und Zahnschmerzen lassen sich durch noch so intensives Nachdenken über Gesellschaft nicht wegreflektieren, im Orgasmus und auch auf dem Weg zu ihm ist eine naturwissenschaftliche Untersuchung des tätigen Körpers durch mich unmöglich; weder in den Augenblicken von Zahnschmerzen noch in denen von Orgasmen sind wir uns selbst gesellschaftlich gegeben, wir sind in der Tat dabei Natur, uns „unverfügbar“. Wenn ein Saatkorn auf die Erde fällt und nach einer Zeit keimt, hat das nichts, aber gar nichts mit zweiter Natur und Kapitalismus o.ä. zu tun – dieser Vorgang ist nicht menschengemacht und seine Ursache ebenso wenig wie die spezifische Form von Schneekristallen erklärbar. Die Schöpfungstheorie an dieser Stelle einzusetzen, halte ich für völlig plausibel. Bitte: Wir wissen doch, was schlechte Luft ist und wir spüren doch ganz deutlich, dass sich das Wetter von Jahr zu Jahr toller gebärdet. Warum nur lässt sich die Ignoranz dermaßen feiern und all die Studien aufmarschieren, die erklären, dass das eigene leibliche Spüren überhaupt nichts wert ist? Schon vor 15 Jahren musste sich Elmar Altvater mit dieser Lust an der Ignoranz auseinandersetzen (dazu: Altvater 1992: 110f). Als ich schulisch sozialisiert wurde, bezog sich die Leugnung übrigens auf das Ozonloch, das gar nicht nachgewiesen sei. Keiner der damaligen Querdenker gegen die dummen Ökos hat sein Geschwätz bedauert. Heute bleibt den Klimawandelleugnern nichts anderes mehr übrig, als die Zeitung „Die Welt“ zu zitieren, denn die ist die einzige, die einschlägige Verrückte immer noch ernst nimmt. Und ich sage das Wort auf Wunsch eines einzelnen CEE-IEH-Kolumnisten gern noch mal: „Klimawandelleugner“, Kurzform: „Klimaleugner“. (vgl. http://www.conne-island.de/nf/141/3.html) Die Presse geht langsam dazu über, nachdem sie zunächst den Klimawandel und danach dessen menschliche Verursachung geleugnet hat, zu erklären, jedes Handeln gegen den menschengemachten Klimawandel käme bereits zu spät (z.B.: FAZ, 02.12.07).
In jeder Menschenprägung erhält sich Natur – logisch, wäre das nicht so, könnte der Mensch mit Stofflichem nicht mehr umgehen, wäre sein tätiges Leben längst virtualisiert. Und was wäre überhaupt das „sein“ im letzten Satz? So, wie man nach Adornos (oder Horkheimers?) Bemerkung am besten den Antisemiten fragen sollte, was Antisemitismus ist (der hat mit dem Begriff keine Probleme und weiß genau, wen er im Pogrom treffen will), so könnte man die Agenten des Fortschritts bei ihrem Tun beobachten – was immer sie da treiben, an der Naturzerstörung kann man sie erkennen. (Auch dem Fortschritt also ist Natur letztlich „unverfügbar“). Naturbegreifen geht eben nicht als Faktenhuberei oder Begriffsklauberei, sondern als hinsehen, als der Versuch (!), sich einzufühlen und als wortwörtliches Be-Greifen.
Auch wegen des immer schon daseienden Widerstands gegen das Fortschrittsprinzip des Kapitals, das alles, was es braucht, zur totalen Verfügung hält, ist Natur nicht zugunsten von Künstlichkeit oder totaler Vergesellschaftung (und sei ihr Anstrich noch so emanzipatorisch) zu verabschieden. Der Anblick des Taus, der einem im Morgensonnenlicht entgegenglitzert, wird wohl spätestens seit der Aufklärung als Begründung für Natur nicht mehr akzeptiert. Immer weniger Menschen empfinden die Schönheit von etwas, das einfach ohne Technik und Mühe da ist, die Schönheit der Lilien auf dem Felde, die nicht arbeiten und die der Vögel, die nicht säen, nicht ernten und doch vom himmlischen Vater genährt werden, wie sich Matthäus (6, 26/28) ausdrückt. Wer überall nur Gesellschaft sieht, macht sich dumm, indem er vom Leib geradezu zwanghaft absieht. Das gemeinsame Deichverstärken bei Hochwasserbedrohung hat dann selbstverständlich nichts mit einem Schutz vor Überflutung zu tun, sondern nur mit der Neukonstitution der Volksgemeinschaft. Die Leibperspektive von Hochwasser: Gehinderte Fortbewegung, Schlamm, das Atmen erschwerende Wassermassen; diese, einem sinnlich auf den Pelz rückenden, Zwänge, kommen in der Beurteilung durch große Teile der Antifa-Szene und der Theorielinken nicht vor. Längst haben sie sich in die Virtualität verabschiedet, aus der sie nur für kurze Zeit zum Besuch irgendwelcher Schlägereien wieder auftauchen. Und dort gröhlen sie dann, wie es zu ihnen passt: „Kühe, Schweine, Ostdeutschland.“.
In den einschlägigen Kreisen ist längst bekannt, dass Mülltrennung Ausdruck des Deutschseins (Café Morgenland, http://www.fluchschrift.net/archiv/heiligendamm.htm) oder mindestens Vorform des Faschismus (Roswitha Scholz, mündliche Mitteilung) ist. Es geht nicht mehr um die Einsparung von Ressourcen, oder um den Erhalt einer akut bedrohten Lebensumgebung, sondern darum, wer was bei seiner Handlung gedacht haben könnte. (Sehr ähnlich übrigens Judith Butler, bei der es auch nicht um Körper geht, sondern darum, wer wie über Körper redet.)
Dieses erwähnte Nur-Gesellschaft-Sehen kann auch auf der Ebene kritisch-theoretischer Anstrengung zu Verkürzungen führen. Auf einer Veranstaltung der „Gruppe in Gründung“ wird unter anderem zur Diskussion gestellt, dem Menschen – als Naturwesen gefasst – entspräche der „Mühe“-Aspekt der Arbeit als äußere Naturnotwendigkeit. Nun ist das nicht ganz falsch, aber doch auffallend, wie die Verbindung zur Natur nur in der Notwendigkeit, sich gegen sie zu behaupten, gesehen wird und nicht bspw. in der Möglichkeit, Anmutungen zu erfahren (dazu grundsätzlich Böhme 2003). Ästhetische Erfahrungen scheint man nur in Galerien, gigantischen Malls und auf den ungesunden Drogenpartys irgendwelcher Szenen machen zu können, nicht aber unter vollen, im Wind rauschenden Baumkronen. Dass ich mit dieser ein bisschen böse klingenden Einschätzung recht habe, wird durch einen Seitenaspekt in der Diskussion bestätigt. Es wird als Marx‘ Ansicht dargestellt, dass schließlich die Arbeit den Reichtum produziere, was nicht stimmt. Marx bemüht als Kronzeugen gegen diese falsche Ansicht den von ihm verehrten Ökonomen William Petty. Hier zwei Originalstellen: „Die Arbeit ist nicht die Quelle alles Reichtums. Die Natur ist ebenso sehr die Quelle der Gebrauchswerte (und aus solchen besteht doch wohl der sachliche Reichtum!) als die Arbeit...“ (Marx MEW 19: 15) und noch mal im Kapital: „Arbeit ist also nicht die einzige Quelle der von ihr produzierten Gebrauchswerte, des stofflichen Reichtums. Die Arbeit ist sein Vater, wie William Petty sagt, und die Erde seine Mutter.“ (Marx MEW 23: 57f)
Natur bzw. Erde – als Quellen des Reichtums. Marx wusste es noch.

2.2 Schnelligkeit und Entkörperlichung

Wir hatten gesehen: Einzig das Kapital bietet die Gewähr dafür, dass eine Neuigkeit nicht allein bleibt, dass es einen Entwicklungswettlauf gibt. (ganz ohne Wertung). Mit dem Produktivitätszwang einher geht die „... Diffamierung der Ruhe, der Nachsicht, des rezeptiven Seins.“ (Marcuse 1979: 136), somit eine Bevorzugung von Schnelligkeit gegenüber durchdringender Erfahrung; verbunden mit Entkörperlichung, mindestens mit der Herabwürdigung von Körpern sickert der Zeitdruck in alle Poren der Gesellschaft. Doch die Rhythmen der Natur sind meist nur in Katastrophen schnell (dazu auch Altvater 2005: 76). Natur kennt zwar Aufregungen bspw. in Flucht und blitzschnellem Angriff, aber nicht permanente Hektik.
Vor allem in der Stadt haben Muße und Langsamkeit keine Chance. (Die Schnelligkeit des Sprechens in Stadt und Land ist immer noch offensichtlich unterschiedlich.) Vielleicht liegt es nicht nur an der Häufung unterschiedlichster schneller Verkehrsmittel, sondern auch an den vielen Dienstleistungsbetrieben, in denen die Angestellten so überdreht energiegeladen wie pubertierende Jugendliche agieren, denn das gilt heute als freundlich. Vielleicht auch haben die vielfältigen Möglichkeiten, in der Stadt elektronische Musik zu hören, eine Aktie daran.
Die ersten, die Geschwindigkeit und Entfesselung direkt in Verbindung mit Schönheit bringen, so, wie es heute nur noch die ex-linken Aufklärungsfans können, waren die italienischen Futuristen:
„Wir wollen die Liebe zur Gefahr besingen, die Vertrautheit mit Energie und Verwegenheit. [...] Bis heute hat die Literatur die gedankenschwere Unbeweglichkeit, die Ekstase und den Schlaf gepriesen. Wir wollen preisen die angriffslustige Bewegung, die fiebrige Schlaflosigkeit, den Laufschritt, den Salto mortale, die Ohrfeige und den Faustschlag.
Wir erklären, daß sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit“. schreibt Marinetti (www.kunstzitate.de/bildendekunst/manifeste/futurismus.htm), der Inspirator der Bewegung 1909. Er gibt einem aufheulenden Auto den Vorzug vor der Nike-Statue, ruft nach der Bombardierung Venedigs und setzt Dichtung mit dem Kult des Fortschritts und der Geschwindigkeit gleich.
1924 widmet er sein Werk „Futurismus und Faschismus“ seinem „teuren und großen Freund Mussolini“ und hofft auf die Errichtung einer Artokratie (eine Künstlerherrschaft), in der er und faschistische Parteigänger ungehemmt die modernen Errungenschaften (Krieg, Geschwindigkeit, Hass auf die Tradition, Gewalt, Schnelligkeit, Frauenverachtung – alles im Futuristischen Manifest) feiern können.
In der technischen Apparatur, die die gesamte Gesellschaft durchzieht, fallen menschliche Körper nahezu nur noch durch Betriebsstörungen, durch Unfälle auf; entweder als Zermalmte oder als denkende und im Vergleich zur Technik abweichen könnende Helfer, (eine Beobachtung von F.G. Jünger: 1953: 299f, 307f). Abdrängen des Körpers und Feier der Energie – das bringt uns auf die Gleichung E = mc2. Wer Körper nur benutzt und wem Energie alles ist, muss eine unmäßige, alle Vorstellung sprengende Geschwindigkeit wollen.

Die Futuristen können mit dem Beginn des 21. Jahrhunderts zufrieden sein: Nahezu keine Schrift im Fernsehen kann mehr still stehen, sie muss animiert sein, vermutlich, weil jüngere Zuschauer sie sonst gar nicht wahrnehmen würden. Überall herrscht heute Signalsehen statt Gegenstandssehen (Böhme 1989: 181f). Wenn man Steven Spielberg hier trauen darf, haben Saurier in einer bestimmten Entfernung vom Objekt dies nur dann gesehen, wenn es sich bewegt hat, sie konnten also nur Signale wahrnehmen. Die neuen Medien erziehen die Menschheit planetarisch zu diesem saurierhaften Gebrauch ihrer Sinnesorgane, zur Entwöhnung vom Körper, zum Leben in einer Welt ohne stimmige Gegenstände, in der es nur immer schnellere Zustandswechsel gibt, die in immer krasseren Farben angezeigt werden müssen, damit sie überhaupt noch jemand wahrnimmt. Wie wunderbar dieser Funktionalismus zu apersonaler Herrschaft passt und ob man aus der Alternative personale oder apersonale Kapitalismuskritik nicht vielleicht durch eine Stärkung und Wiedereinsetzung der Person in ihre Rechte ausbrechen könnte, müsste Thema einer gesonderten Abhandlung sein (dazu auch Jünger 1953: 290f). Die letzten Widerstände gegen das Rasen, die wütende Umwälzung alles Bestehenden, werden unter dem label „Identitätskritik“ im Bündnis von esoterischen Adorniten und disparaten Dekonstruktivisten abgeräumt. Das, was ohnehin geschieht, die Aufspaltung einer stimmigen Identität in Rollen, Aspekte, Zugänge (mit dem unvertilgbaren Rest des Nicht-Identischen), die man alle auch noch als selbstgewählte fingieren muss, das von keinen sperrigen, dauerhaften Eigenschaften behinderte Sich-Einfügen in die Maschinerie der Hektik, erhält noch die Weihen reflektierter Kritik (Böhme 1997: 53f und Böhme 2006: 148f). Ein Grund unter vielen, Reaktionär zu werden.
Gegen den permanenten Wechsel könnte eine Einübung ins Gegenstandssehen gesetzt werden – vielleicht durch eine Abwechslung von Starren und den-Blick-schweifen-lassen (Böhme 2003: 36, Böhme 1989: 184f). Also das, was ältere Leute recht gut können. Überhaupt das Schweifen: Als Gegengift gegen das Trommelfeuer konzentrierter Zerstreuungsangebote (vgl. Türcke 2002: 312) könnte man vielleicht zerstreute, schweifende Aufmerksamkeit nahe legen (auch wenn dies widersprüchlich klingt), mit dem Ziel eines freien Sich-Einlassens auf die Dinge selbst. Dies wäre im Übrigen auch ein Vorgriff auf die Daseinsweise im Kommunismus: ein Wechsel von Müßiggang und konzentriertester Anstrengung (so sinngem. Robert Kurz).
Nun höre ich schon wieder den Einwand: „Sag das der Bevölkerung unter der sengenden Sonne Afrikas, dass die herumtappen und sich schweifend an Blütendüften erfreuen soll, statt zu versuchen, engagiert ein Bewässerungssystem aufzubauen. Du bist ein Zyniker!“. Solange die Reflexe in dieser Weise einschnappen, wird man sich nicht über wahr und falsch verständigen können. Da bedeutet planetarischer, weltvernichtender Kapitalismus eben nichts anderes als ein Bewässerungssystem; und die leibfeindliche Aufklärung nichts anderes als Vernunft, Klarheit, Frauenbefreiung und schwule Emanzipation. Ich wollte hier nur ein Angebot machen für die, die auch in den nächsten zwanzig Jahren der Bevölkerung Afrikas nicht mit einem Bewässerungssystem, sondern mit Abhandlungen über Kritische Theorie und Psychoanalyse helfen werden.

Was verbindet Kampfsport und Antifagewaltkult mit den drogengeschwängerten Durchtanzparties der Großstadt, mit der „Freien Software Bewegung“, mit Queer-Theorie und -Praxis und mit den immer monströseren Metallteilen in den Gesichtern? Ihr aller Ergebnis ist niemals eine erfüllende Leiberfahrung, sondern das Zurückdrängen des Leibes. Jeder Tritt gegen einen Nazi schädigt im Kopf des Treters lediglich die faschistische Ideologie, jeder Drogenexzess hat angeblich was mit gesteigerter Selbstwahrnehmung zu tun, die Freie Software Bewegung will ein Modell für eine nicht vom Eigentum gegängelte Ökonomie sein, das Zupiercen der Gesichter einfach moderner Körperschmuck, jede Queer-Party (mit oder ohne angehängte Theorie) ist spielerische Kritik an der repressiven Kategorie des Geschlechts.
Die Leibperspektive: Der Tritt fügt Schmerzen zu (man sieht offene Münder, hört Schreie, spürt fallende Menschen), er ist nicht geistig, sondern auf beiden Seiten sehr, sehr leiblich, der Tretende muss sich ja aussuchen, wohin er tritt – er kann dies nur mit einer quasi-leiblichen Vergegenwärtigung der Schmerzen des Getretenen. Die gesteigerte Selbstwahrnehmung durch eine Substanz ist nur peinlich, man will ja gar nicht leiblich sein, man will sich nicht anstrengen, sich nicht bemühen um den Exzess, sich nicht bspw. in Trance tanzen, nein, man will bequem und bräsig wie eine Oma eine Pille nehmen, damit man es schafft, durchzutanzen. Die „Befreiung“ in der Freien Software Bewegung besteht in nichts anderem, als dass Leute für selbstgeschriebenen Quelltext nichts haben wollen. Sinnlichkeit spielte für dieses angemaßte Modell einer solidarischen Ökonomie noch nie eine Rolle. Die Freie Softwarebewegung ist nichts anderes als die Praxis gewordene Ressentiment-Theorie von Leuten, die – wahrscheinlich mit Recht – annehmen, dass sie zuwenig Geld haben und die also den ganzen virtuellen Blödsinn, für den sie sonst Unsummen ausgeben müssten und dessen Sinnhaftigkeit sie nie in Frage gestellt haben, selber machen und verschenken. Die Piercings der neuen Generation dokumentieren im Gesicht ihrer Träger das Ziel, möglichst viel Haut zu verdrängen, sie sind nicht mehr eingehängt, wie ein einfacher Ohrring, sondern scheinen Geschossteilen gleichen zu wollen, die niemand herausoperiert hat. Je größer das Loch, desto cooler der Träger, denn desto mehr Natur hat er zur Strecke gebracht. Die queers wollen gar nicht den Körper ihres schönen Wesens genießen; Lust am Körper wäre ein Bekenntnis zu ihm und kein Vorbehalt, der bei als zu groß empfundener Nähe sofort geltend gemacht werden könnte und in Richtung „Kult“, also als gar nicht ernstgemeint, aufgelöst wird (Stichwort: angeklebte Bärte). Sie führen auf der Queer-Party die Kontingenz, ja Vergeblichkeit ihrer Leibesempfindung vor – was sind schon Männer, was sind schon Frauen?! Alles ist in alles überführbar. Und alle -– in den Tod.

2.3 Gegebenes und Gemachtes

„Die Natur ist unser Feind“, sagte vor Jahren ein prominenter Vertreter einer sich „linkskommunistisch“ nennenden Gruppe und als Begründung präsentierte er: „das merkt man daran, dass man Zahnschmerzen hat“ (Gemeint ist Joachim Bruhn von der Freiburger „Initiative Sozialistisches Forum“). Mein Zwischenruf: „Und wie sieht es mit dem Orgasmus aus?“ war viel zu zaghaft, als dass er von der Masse der sonst so hedonismusversessenen Politjungs und -mädels, die an den Lippen des sehr, sehr traurig wirkenden Westentaschenadorno hingen, bemerkt werden konnte. Doch vermutlich wäre die Antwort des Referenten in einer Weise ausgefallen, die jedes postmoderne, Queer- und Gender-Trouble-Grüppchen, das sich noch nicht wegen Identitätskrisen aufgelöst hat, in helles Entzücken versetzt hätte – Zahnschmerzen als durchschlagender Natureinfluss, Orgasmus als kulturelle Konstruktion, Errungenschaft eines fantasievollen Spiels mit Zeichen. Denn das allein kann der Ausweg für den damaligen Vortragenden sein, von dem ich, bei aller Kritik, annehme, dass auch er nicht auf die Möglichkeit des unsteuerbaren Orgasmus wird verzichten wollen. Denn er ist ja noch nicht so weit wie einige TheoretikerInnen aus dem Umfeld des Postkolonialismus, die es geschafft haben, das Hungern afrikanischer Menschen als eurozentristische Projektion zu dekonstruieren (ein Beispiel von Roger Behrens; mündliche Mitteilung am 13.10.07). An diesem Beispiel sieht man gut: Man gerät in die Hölle der Barbarei, wenn man auf Natur verzichtet.

Klar ist das Grundsätzliche: Natur ist unverfügbar gegeben, alles andere wird unter Vermittlung von Kultur oder sonstwas – gemacht. Manipulation an und Umwälzung von Natürlichem haben den Fortschritt auf ihrer Seite. Beispiele:
  1. Sucht: etwas Gemachtes wird mir zu Natur, zur zweiten sozusagen, ich verhalte mich in Hinsicht auf etwas Bestimmtes so, wie als ob ich in es hineingeboren wäre, es bedarf also besonderer Anstrengung, daraus wieder auszusteigen. Ich nehme nicht hin, dass mein Leib, als die Natur, die ich selbst bin, Grenzen des Zuträglichen kennt – die Grenzanlagen werden eingerissen oder mindestens verschoben. Natur soll auf eine fortschrittliche, entdeckerfreudige Art und Weise überwunden werden. Auch die Umkehrung gilt: das „Kapital“ ist eine die Unternehmer antreibende Sucht, wie sich Max Weber ausdrückt – Das Geschäft ist ihnen unentbehrlich geworden. (Weber 1993: 28). So unentbehrlich wie dem Drogensüchtigen die Droge.
  2. Eugenik, die menschliche Zuchtwahl, ist – fortschrittlich, sie findet sich nicht mit gegebenem Menschenmaterial ab, sie will höher entwickeln, verbessern. Ihren Kampf gegen Rückschritt, Indolenz und Minderwertigkeit führt sie aus der Perspektive von Zivilisation, Nation und Wissenschaft (dazu Kurz 1999: 281f).
  3. Die Einführung der Zeitumstellung hat zur Entwöhnung des modernen Menschen von den Jahreszeiten geführt. Zudem bringt sie die innere Uhr durcheinander, die sich – immer noch, auch beim modernen Menschen – am Sonnenlicht orientiert. (Till Roenneberg von der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität, siehe: www.welt.de/wissenschaft/article1294863/Wie_die_Zeitumstellung_die_Gesundheit_scdigt.html und auch WELT am Sonntag, 04.11.07, 80.)
    Mir ist klar, dass es Dutzende Studien gibt, die das bestreiten und mindestens ein weiteres Dutzend, das positive Auswirkungen auf den menschlichen Organismus feststellt (So wie ja auch schmutzigere Luft u.U. gesünder oder wenigstens genauso gesund sein kann, wie weniger verschmutzte, nicht wahr?! Die FAZ [27.11.06, Seite 1] jedenfalls fragt schon mal kritisch nach: „wie gesichert ist die Vermutung, dass sauberer stets auch gesünder ist?“). All das steht hier nicht zur Debatte. Fakt ist, die Sommerzeit wurde aus fortschrittlichen Gründen eingeführt, es ging um eine bessere Ausnutzung des Tageslichts. Nichts nimmt der Fortschritt als gegeben hin, jede bestehende Institution muss auf den Prüfstand und sich dem kritischen Blick des Reformers aussetzen. Geschlechter, Arbeitszeitregelungen, Manieren, Essgewohnheiten oder eben die Normalzeit – nichts darf verkrusten oder sich in einem Schonraum wähnen. Alles, alles ohne Ausnahme steht zur Debatte.
2.4 Wie lässt sich das Widerstandspotenzial von äußerer Natur und Leib aktivieren?

Die Logikdesigner der Suchmaschine Google sind wohl für dieses Widerstandspotenzial ebenso unempfänglich wie die städtische Theorielinke. Beim Googlen nach „Leiberfahrungen“ wird man gefragt: Meinten sie „Leiderfahrungen“?

Ich möchte wiederum an einigen Beispielen darstellen, wie man dieses Potenzial aktivieren könnte. Das Ziel ist partielle Regression (dazu Gernot Böhme auf der Adorno-Konferenz; hier nachzuhören: www.uni-frankfurt.de/fb/fb04/forschung/gruschka_adorno/boehme.html; im Sinne von Freud, der meint, dass allen Trieben eine konservative Tendenz innewohnt, einen früheren Zustand wiederherzustellen – eigentlich also eine reaktionäre), die notwendig ist (Böhme 2003: 90ff, 95), um wiederzuentdecken, dass wir alle – als Leib – selbst Natur sind. Wenn man sich bspw. wohlig in einem Wasserbassin streckt, heißt das, dass man sich ein wenig wie ein Kind verhält, sich also nicht wie Erwachsene schwimmend oder sitzend (gar mit übereinandergeschlagenen Beinen) zeigt, sondern sich in eine Position begibt, die klar anzeigt, dass man sich spüren will (Und diese Lust kann sich durchaus auch in kindlichen Lauten, z.B. Grunzen, äußern.).
  1. Einsamkeit gibt Gelegenheit zu konzentrierter Leiberfahrung. In ihr sind wir maximal offen für Anmutungen; in der Einsamkeit haben Schnelligkeit oder gar Hektik von vornherein geringere Chancen. Das, was Aufmerksamkeit verlangt, ist das Arrangement für die Erfahrung selbst. Nebeneffekt: Man kann die Möglichkeit erfahren, sich selbst als für sich und andere verträglich agierend zu begreifen. Und: Die Einsamkeit einer Landschaft genossen zu haben, kann uns auch dazu führen, die Bedeutung leiblicher Anwesenheit, die Nicht-Vertretbarkeit von Menschen durch Telekommunikation wiederzuentdecken. Unter Umständen bedarf es einiger Vorübungen – Städter müssen wohl erst wieder lernen, Stille auszuhalten, sich sowohl konzentrieren wie auch, sich etwas geben, wiederfahren lassen zu können. Christoph Türcke empfiehlt, sich gegen die permanente Berieselung mit Musik zur Wehr zu setzen (was gegen Musik in Cafes noch nichts besagt), aber auch das Abschreiben von Texten zur Konzentrationssteigerung (Türcke 2002: 311).
  2. Landwirtschaft bietet heute kaum mehr Möglichkeiten, Leiberfahrungen zu machen, sondern ist nahezu so borniert, wie Fabrikarbeit – auch wenn ich nicht wie Marx und Engels vom „Idiotismus des Landlebens“ (Kommunistisches Manifest) sprechen würde; so redet eben jemand, der weder die Vereinzelung in der Fabrikarbeit, noch das durchaus vorhandene Schöpferische in der Landwirtschaft selbst gespürt hat). Landwirtschaft bleibt Naturbezug unter Zwang. Aber es gibt eine Möglichkeit, gewollte Leiberfahrungen zu machen und dennoch den Zusammenhang mit der Reproduktion zu wahren: das Sammeln (dazu wunderbar: Machatschek 1999). Das Spüren von Pflanzen in all ihren Teilen, verbunden mit dem Vorgriff aufs Schmecken oder wohltuende Einreiben ist nicht ganz so rezeptiv, wie der Anmutung des Blütendufts nachzuspüren, aber hat noch lange nichts mit Gestaltungszwang zu tun (wie das bei der Landwirtschaft der Fall ist). Eine interessante Art, Natur zu erfahren, auf alle Fälle.
  3. Menschen in Supermärkten, Diskotheken, Flughäfen oder sonstwo erhalten sich nicht aus sich selbst, sie werden von den Stoffen der Felder ernährt, also gehalten, von Wasser durchströmt, von der Sonne gewärmt. All das erledigt nicht die Schönheit-und-Genuss-GmbH. Menschen leben im „Durchzug der Elemente“, wie Paracelsus sagt. Dieses Bewusstsein kann z.B. durch langsameres Essen wieder erweckt werden, intensives Nachschmecken; Weintrinken durchaus einmal als Weinprobe zu veranstalten und sich Rechenschaft über Geschmackserlebnisse zu geben. Ein solches Ritual führt dazu, dem Vollzug selbst wieder Aufmerksamkeit zuzuwenden und so sich zu öffnen für die durch Gegenstände geschaffenen Atmosphären, abzukommen von purer Signalwahrnehmung und am Leib-Vorbeileben (etwa durch besinnungsloses Schütten).
  4. Leiblich spürbares Getroffensein durch Natur oder Kunst gibt es heute nahezu nicht mehr, wir finden einschlägige Metaphern nur mehr in alten Romanen (auch das verweist darauf, dass Leibsein heute eine Aufgabe ist). Vielleicht haben ältere Leute noch eher einen Draht dazu, als die heutige Elterngeneration, oder gar Jugendliche. Die flinke Signalerkennung ist trotz aller Anbiederei (Bsp.: Internet-Kurse für Senioren) nicht ihre Sache.
    „Man möchte schreien, so schön ist das“, sagte mir eine alte Frau auf einem Berggipfel. Schreien, weil man es leiblich kaum aushält, auf diesen sanften, stetigen Zug der Wolken zu blicken. Um diese Erfahrung adäquat machen zu können, sind Übungen notwendig, gilt es wieder zu lernen, denn das Schreien-Wollen als Energieabfuhr ist wohl selbst nur falsches Ergebnis einer Anmutung.
    Hier kommt auch wieder die Künstlichkeit zu ihrem Recht, hier, wo man gedrängt wird, neue Ausdrücke für neue Erfahrungen zu entwickeln. Beispiele: 1. Sexuelle Experimente, die geeignet sein können, mehr von dem zu erfahren, in dem man sich selbst gegeben ist, z.B. welche Berührungen in welcher Heftigkeit was auslösen. 2. Durchaus einmal versuchen, sich üblen Sinneszumutungen auszusetzen – extrem kalt baden, lange durchs Unterholz toben, aber auch versuchen, ungewöhnliche, anstrengend durchzuhaltende Blickwinkel auf die Umgebung aufzuspüren (z.B. ein Wiesenstück). 3. Selbst ein Burger bei McDonalds kann hinsichtlich bewusstem Erleben seltsamen Geschmacks eine wichtige Erfahrung sein.
  5. Stärkung der Leibperspektive gegen den herrschenden Schlankheitskult. Es geht darum, sich selbst auf befriedigende Weise zu spüren und nicht um ein Winseln nach gesellschaftlicher Anerkennung, Übereinstimmung mit einer Norm. Der Trend weg vom Ding hin zum Design, weg von körperlicher Präsenz, hin zu telekommunikativer Vergegenwärtigung wirft sich auf die Menschen (Böhme 2006: 138ff). Sie werden immer schlanker (verbunden übrigens mit der Einebnung charakteristischer Geschlechterformen – da können sich die Queer-Leute natürlich freuen), sehen immer weniger und immer seltener etwas von sich selbst und von ihresgleichen. Das ist wohl direkter Ausdruck für das Verschwinden-Wollen. Denn der Schlankste überhaupt wird derjenige, der gar nicht mehr isst.
  6. Etwas woran man sich kurz nach den nächsten Schmerzen einmal erinnern kann: wie uns der Leib den Geist funktionsuntüchtig machen kann. Wenn wir uns an der Kante eines Schrankes stoßen, sind wir ein, zwei Sekunden lang keine Vernunftwesen mehr, wir können nicht mehr denken, ebenso wenig, wie wir kurz nach dem Orgasmus sexuelle Wesen sind.
  7. Einmal ausprobieren, was es heißt, leise und laut zu sprechen. In einer Atmosphäre des Leisesprechens kann man weniger heftig argumentieren, muss sich also mehr auf den anderen einlassen, lautes Sprechen ist immer der Versuch, den anderen, quasi mit Schallwellen, von sich abzudrängen (was jeder Selbstverteidigungstrainer weiß).
  8. Allgemein sich spüren und bewegen lernen. Man kann von seiner Bewegungsweise durch bestimmte Methoden mehr erfahren, als durch pure Beobachtung (z.B. durch die Feldenkrais-Methode, aber auch durch andere Formen). Ich denke auch an das spielerische Einüben von unterschiedlichen Geh-Arten, z.B. gemessenes Schreiten, Hoppeln, oder ausgreifendes Schwingen und durchaus auch die tätige Vergegenwärtigung der abgehackten Bewegungen, zu denen uns Verkehrsvorschriften in der Großstadt zwingen (vorzugsweise auf einer weiten Wiese nachzumachen) (dazu auch Jünger 1953: 132). Um zu bemerken, wie oft man stehen bleibt, könnte man sich bspw. einmal vornehmen, hintereinanderweg zu gehen und dabei normale Haushaltstätigkeiten zu verrichten. U.U. wird erst in der Konfrontation dieser unterschiedlichen Bewegungsweisen deutlich, wie tempobetont, effizient und roboterartig wir agieren und wie sehr das andere Extrem, das Versunkensein oder auch das starke, wuchtige Auftreten fehlt (vgl. Böhme 2003), weil es in der Stadt, dem Platz der vielen Menschen schlicht nicht möglich ist. Versunkensein klappt im Wald, wuchtiges Auftreten in der Landwirtschaft (Bodenbeschaffenheit) oder an Bord eines schwankenden Schiffes, wo Balance wichtiger ist als das Ausweichen vor eilenden Menschen.

Ende von Teil Eins, der zweite Teil wird fortgesetzt mit dem Punkt: Verbindung der Leibperspektive mit dem Wissen um die naturfeindliche Gesellschaft: das reaktionäre Minimum

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last modified: 22.1.2008