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Der Verein freier Menschen

Marx’ Grundlegungen des real existierenden Sozialismus

Die bündige und kurze Kritik des Gothaer Programms hat Marx gegen die politische Theorie der Lassalleaner Mitte der 1870er Jahre verfasst. Marx verhandelt darin auch ein Thema, das seine Schriften und Manuskripte zur Kritik der politischen Ökonomie durchzieht. Während diese allerdings die Irrationalität und Ungerechtigkeit der kapitalistischen Produktionsweise darstellen, versucht Marx in der Kritik des Gothaer Programms, die Grundzüge einer rationalen und gerechten Organisation der gesellschaftlichen Produktion zu umreißen.
Gern wird das so genannte und sagenumwobene Bilderverbot in Anschlag gebracht, um jeglicher Erörterungen über eine postkapitalistische Gesellschaft einen Riegel vorzuschieben. Man dürfe sich einen Zustand der Freiheit nicht ausmalen. Solcherart wird allerdings im Namen einer historisch längst widerlegten Hoffnung schlimmstenfalls ein Blindengehorsam gegenüber einem weiteren sozialistischen Rückfall hinter die Errungenschaften der bürgerlichen Gesellschaft erheischt. Statt blindlings radikal hinein zu stürzen, sollte der Rückfall aber durch die Simulation des „Ernstfall“ besser ausgeschlossen werden. Marx Ausblick auf den postkapitalistischen Zustand allerdings zeichnet sich nicht durch Vorsicht, sondern eher durch einen seinerzeit zeitgemäßen, arglosen Optimismus aus. Sowohl der von Marx theoretisch vorgezeichnete Zustand als auch der diesem zugrunde liegende Optimismus offenbaren sich aus heutiger Sicht als Grundlegungen des real existierenden Sozialismus.
Besagte Schrift, die Marx für den Inner Circle der kommunistischen Bewegung verfasste, ist im unerbittlichen Ton des politischen Visionärs verfasst, der die Welt erretten will, den Königsweg dahin verkündet und die Defizite der politischen Konkurrenz in dem Maße hervorhebt, wie er die eigenen verdrängt. Das sollte dann sowohl für den staatstragenden Marxismus als auch für viele westliche marxistische Gruppen typisch und eine Grundbedingung für den so unaufhaltsamen wie gnadenlosen Lauf des real existierenden Sozialismus werden: Die Gegner werden denunziert, die eigenen Probleme und Schwächen gekonnt vertuscht.

Wal, 9.9k     Das Reich der Notwendigkeit

Das Reich der Notwendigkeit kann nicht wegdeklariert werden, denn in der Natur herrscht Mangel, weil dem Menschen in ihr Lust widerfährt, die nicht ewig ist. Nun sind die Menschen kraft ihres Geistes dazu verdammt, Lust und Mangel zu erkennen, und damit zur Arbeit verflucht, die den Versuch darstellt, die Natur unter schweißtreibender Verausgabung von Hirn, Muskel und Nerv so umzuformen, dass aus ihr der Mangel schwindet. Leider gibt es wohl keine göttliche Fügung, wonach Arbeit und Spaß Hand in Hand gehen: Die Bestellung von Feldern, das Erlegen von Tieren, Geschirrspülen, Herz-Operationen, Rechnen können mitunter Spaß machen, sind aber in erster Linie gesellschaftlich notwendige Arbeiten, also kleinere Übel, um größere Übel – etwa Hunger oder Tod – abzuwenden. Nach einer eingängigen Definition: Arbeit ist „durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt“(1).
In der kapitalistischen Gesellschaft, die mit allerhand anderem Unsinn gebrochen hat, allerdings ist die Arbeit unsinnig geworden. Statt die Not zu verringern, verlangt die Arbeit als verdinglichte, tote Arbeit, nämlich als Kapital, von sich als menschlicher, lebendiger Arbeit, sich zu vermehren. Wir leben also in einer Gesellschaft, in der die Menschen nicht arbeiten, um die Genussmittel zu vermehren und die Welt lustvoller zu machen, sondern um sich noch mehr Arbeit aufzuherrschen, in einer Gesellschaft, in der der „Produktionsprozeß die Menschen“ subsumiert und nicht umgekehrt und sinnigerweise „die Menschen […] den Produktionsprozeß bemeistern”(2). Insofern steht die Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise an.
Hernach jedoch ist nicht gleich alles gut, sondern bestenfalls die Möglichkeit für die Menschen vorhanden, die eigenen Geschicke zu lenken und sich von den Leiden und Nöten soweit wie möglich frei zu machen. Das aber wird immer noch Kraft kosten: „Das Reich der Freiheit […] liegt […] jenseits der eigentlichen Sphäre der Produktion. Wie der Wilde mit der Natur ringen muß, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, um sein Leben zu erhalten und zu reproduzieren, so muß es der Zivilisierte, und er muß es in allen Gesellschaftsformen und unter allen möglichen Produktionsweisen. […] Die Freiheit auf diesem Gebiet kann nur darin bestehn, daß der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit den geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehn. Aber es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt […] das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühn kann.“(3)
Im Gegensatz zu Marx, der die rationale und humanste Bewirtschaftung des Reichs der Notwendigkeit einfordert, gab und gibt es immer wieder designierte oder berufene Revolutionswächter, die mittels dialektischen Kniffen das Reich der Notwendigkeit zu einem der Freiheit und Freude umzudichten versuchen(4). In den real existierenden sozialistischen Staaten wurde – neben Zwangsmaßnahmen – solche fadenscheinige Ideologie ins Werk gesetzt, um die Menschen als einwandfrei funktionierende Rädchen in den sozialistischen Produktionsprozess einfügen zu können: „Es lebe die Arbeit, die Freude uns schafft, es lebe des Lebens pulsierende Kraft, es lebe die Arbeit!“(5)
So sehr darauf zu hoffen ist, dass eine Produktivkraftentwicklung möglich ist, die sowohl die Not als auch die Arbeit verringert(6), so wenig kann davon ausgegangen werden, dass es dereinst keinerlei Reich der Notwendigkeit mehr geben wird. Die Frage nach dessen Bewältigung wird also bestehen bleiben: Wie wird die Not, die die Natur den Menschen aufoktroyiert, und die sie lindernde Arbeit innerhalb der Assoziation verteilt?
Hegel und Adam Smith fanden auf die Frage eine – sagen wir: bürgerliche – Antwort. Das Reich der Produktion dürfe nicht mittels Herrschaft von Menschen über Menschen bewirtschaftet werden, sondern müsse sich über Geld und Konkurrenz vermitteln. Keiner dürfe zur Arbeit von anderen gezwungen werden, jeder müsse sich selbst auf dem Arbeitsmarkt frei umschauen dürfen. In den Worten Hegels: „Das zu Leistende aber kann nur, indem es auf Geld, als den existierenden allgemeinen Wert der Dinge und der Leistungen reduziert wird, auf eine gerechte Weise und zugleich auf eine Art bestimmt werden, daß die besonderen Arbeiten und Dienste, die der Einzelne leisten kann, durch seine Willkür vermittelt werden.“(7) Nun hatte Marx herausgefunden, dass in der kapitalistischen Produktionsweise das Verhältnis von Arbeitern und Kapitalisten auf keine „gerechte Weise“ vermittelt ist und zum anderen die kapitalistische Gesellschaft gegenüber den Menschen eine eigene Macht entwickelt, die die menschliche „Willkür“ unterminiert.
Was für eine Organisation der Produktion kann also an die Stelle der kapitalistischen Produktionsweise treten, ohne dass Herrschaft von Menschen über Menschen restituiert wird? Ausgemacht war für Marx, dass die Menschen die gesellschaftlich notwendige Arbeit gerecht untereinander verteilen werden: „In einem rationellen Zustand der Gesellschaft sollte [...] kein erwerbsfähiger Erwachsener von dem allgemeinen Naturgesetz ausgenommen werden [...], nämlich zu arbeiten, um essen zu können […].“(8) Nun kann man sich als ideologiekritischer Säulenheiliger aufspielen und Marx für solche Sätze verdammen und als Apologet der Arbeit bloßstellen. Was aber wäre die Alternative zur Einsicht in die Notwendigkeit der Arbeit und ihrer solidarischen Verteilung? Die Alternative wäre entweder die Apologie des Reichs der Notwendigkeit schlechthin, unberührter Natur, oder die Apologie von Ausbeutung. Die objektive Tatsache des Reichs der Notwendigkeit, seine einzig mögliche Bewältigung durch Arbeit und deren humane, solidarische Aufteilung sind die Wurzeln der sozialen Frage, welche die sozialistische Bewegung in aller Deutlichkeit aufgeworfen hat und die durch keine Ideologiekritik negiert und durch keine Diskursanalyse wegdechiffriert werden kann. Marx stellte sie in das Zentrum seiner Philosophie und suchte die Antwort, soviel ist ihm zugute zu halten.

Wal, 11.5k     Gleichheit und Gerechtigkeit

In der kapitalistischen Gesellschaft ist die gesamtgesellschaftliche Arbeit ungeplant geregelt. Die Produktionszweige und Firmen begegnen sich auf dem Markt und versuchen ihre Produkte mittels Geld loszuschlagen und die benötigten Arbeitskräfte auf dem freien Arbeitsmarkt zu kaufen. Auch wenn die Produktion keiner Vernunft folgt, handelt es sich bei der kapitalistischen Produktionsweise doch um kein Chaos, da in ihm die Interaktion auf ganz bestimmte Formen wie beispielsweise das Geld festgelegt ist. Über die Menschen herrscht also kein Chaos, sondern ein ganz bestimmter, aber blind ablaufender Produktionsprozess. Diesem ist die Ausbeutung der Arbeiter durch die Kapitalisten implizit. Letztere besitzen die Produktionsmittel, ohne die die Arbeitskraft der Arbeiter wertlos ist, die damit gezwungen sind, ihre Arbeitskraft an die Kapitalisten zu verkaufen. Dieser Kauf erscheint als Tausch von Arbeit gegen Lohn, ist es aber nicht. In der Wirklichkeit tauscht der Arbeiter nicht seine Arbeit mit dem Lohn, sondern verkauft seine Arbeitskraft im Ganzen: „Sobald seine Arbeit wirklich beginnt, hat sie bereits aufgehört, ihm zu gehören, kann also nicht von ihm verkauft werden.“(9) Da der Kapitalist in der Regel durch die Arbeit mehr Reichtum schafft als der Arbeiter für seine Arbeitskraft an Lohn erhält, muss von Ausbeutung gesprochen werden. Allerdings zeichnet den kapitalistischen Unternehmer nicht aus, dass er den Reichtum als seinen Luxus verprasst, sondern dass er ihn gewinnbringend direkt in neue Produktion investiert oder indirekt, indem er das Geld gewinnbringend in Aktien oder auf der Bank etc. anlegt.
Zwei Grundzüge des Vereins freier Menschen sind schon anhand der Kritik der politischen Ökonomie offensichtlich, sie sind gewissermaßen ihr Standpunkt. Zum einen müssen die Menschen die Produktion rational regeln, zum anderen darf keine Ausbeutung, also keine Ungerechtigkeit herrschen. In der Kritik des Gothaer Programms versucht Marx die Grundzüge dieser Produktionsweise genauer durchzudeklinieren. Dabei unterteilt er den Verein freier Menschen in eine „erste Phase“ und eine „höhere Phase“. In der „ersten Phase“ des Vereins freier Menschen werden die Arbeiten nicht mehr über den „Umweg“ des Warentauschs vermittelt, sondern sollen „unmittelbar als Bestandteile der Gesamtarbeiten existieren“(10). Anstelle der Teilung der Arbeit trete, so heißt es andernorts, die „Organisation der Arbeit“: „Statt einer blinden Teilung der Arbeit, die in dem Austausch von Tauschwerten sich notwendig erzeugt, fände eine Organisation der Arbeit statt, die den Anteil des einzelnen an der gemeinschaftlichen Konsumtion zur Folge hat.“(11) Damit würde der Tausch unter den Produzenten auf dem Markt aufhören, bliebe aber als Prinzip der Gerechtigkeit und gegenseitigen Aufwandsentschädigung erhalten: „Was er [der Produzent, H.G.] ihr [der Gesellschaft] gegeben hat, ist sein individuelles Arbeitsquantum. Z.B. der gesellschaftliche Arbeitstag besteht aus der Summe der individuellen Arbeitsstunden. Die individuelle Arbeitszeit des einzelnen Produzenten ist der von ihm gelieferte Teil des gesellschaftlichen Arbeitstags, sein Anteil daran. Er erhält von der Gesellschaft einen Schein, daß er soundso viel Arbeit geliefert […] Es herrscht hier offenbar dasselbe Prinzip, das den Warentausch regelt, soweit er Austausch Gleichwertiger ist. Inhalt und Form sind verändert, weil unter den veränderten Umständen niemand etwas geben kann außer seiner Arbeit und weil andrerseits nichts in das Eigentum der einzelnen übergehn kann außer individuellen Konsumtionsmitteln. Was aber die Verteilung der letzteren unter die einzelnen Produzenten betrifft, herrscht dasselbe Prinzip wie beim Austausch von Warenäquivalenten, es wird gleich viel Arbeit in einer Form gegen gleich viel Arbeit in einer andern ausgetauscht.“(12) Zweierlei ist also verändert. Erstens tauschen die Produzenten nicht mehr untereinander, da ihre Arbeit nun gesamtgesellschaftlich geregelt ist, zweitens ist das Privateigentum an Produktionsmitteln abgeschafft, so dass keiner mehr über das Privileg verfügt, andere für sich arbeiten zu lassen, und umgekehrt niemand mehr gezwungen ist, seine Arbeitskraft zu verkaufen.
Während der Tausch in der kapitalistischen Gesellschaft im Verhältnis von Arbeitern und Kapitalisten nur scheinbar gilt und das Unrechtsverhältnis zwischen Kapitalisten und Arbeitern kaschiert, soll er in der „ersten Phase“ des Vereins freier Menschen allgemeinverbindlich und wirklich gelten: „Es wird gleich viel Arbeit in einer Form gegen gleich viel Arbeit in einer andern Form ausgetauscht. Das gleiche Recht ist hier daher immer noch – dem Prinzip nach – das bürgerliche Recht, obgleich Prinzip und Praxis sich nicht mehr in den Haaren liegen [...].“(13) An dieser Stelle stellt Marx den Zusammenhang von bürgerlichem Recht und Tausch her, denn in dem einen wie dem anderen sind – zumindest dem Anspruch nach – die Prinzipien Gerechtigkeit, Gleichheit und Allgemeinverbindlichkeit enthalten, die in der bürgerlichen Gesellschaft anstelle von Blutsbanden, Faustrecht und Herrschaft getreten sind. Kurz: vorm Recht wie im Tausch sind alle gleich. Darin liegt aber zugleich die Crux. Denn was ist beispielsweise mit denen, die aufgrund einer körperlichen Behinderung nicht arbeiten können? Diese könnten in der „ersten Phase“ des Vereins freier Menschen kein großes Arbeitsquantum abgeben und würden nur das entsprechende Äquivalent an Konsumtionsmitteln, also wenig bekommen. Marx erkennt dieses Problem: „dieses gleiche Recht (ist) stets mit einer bürgerlichen Schranke behaftet. Das Recht der Produzenten ist ihren Arbeitslieferungen proportionell; die Gleichheit besteht darin, daß an gleichem Maßstab, der Arbeit, gemessen wird. Der eine ist aber physisch oder geistig dem andern überlegen, liefert also in derselben Zeit mehr Arbeit oder kann während mehr Zeit arbeiten […] Es ist daher ein Recht der Ungleichheit, seinem Inhalt nach, wie alles Recht. Das Recht kann seiner Natur nach nur in Anwendung von gleichem Maßstab bestehn; aber die ungleichen Individuen [...] sind nur an gleichem Maßstab meßbar, soweit man sie unter einen gleichen Gesichtspunkt bringt, sie nur von einer bestimmten Seite faßt, z.B. im gegebnen Fall sie nur als Arbeiter betrachtet und weiter nichts an ihnen sieht, von allem absieht. [...] Um alle diese Mißstände zu vermeiden, müßte das Recht, statt gleich, vielmehr ungleich sein.“(14) Das Prinzip der Gleichheit, welches die Ungleichbehandlung der Menschen, etwa die der Ständeordnung abschafft, abstrahiert zugleich von der wirklichen Ungleichheit der Menschen. Die besonderen Umstände einer Situation oder eines Individuums werden nicht in Betracht gezogen, solange nach allgemeinen Maßstäben getauscht beziehungsweise geurteilt wird. Ungleich müsste das Recht sein, damit es der Ungleichheit der Menschen gerecht wird; es müsste nicht nur Recht, sondern auch billig sein.

Wal, 10.0k     Abstrakte Allgemeinheit

Was bedeutet der gerechte Tausch für die Arbeit im Verein freier Menschen? „Es wird gleich viel Arbeit in einer Form [der der Verausgabung, H.G.] gegen gleich viel Arbeit in einer andern [nämlich in der Form von Arbeitsscheinen, H.G.] ausgetauscht. […] Das Recht der Produzenten ist ihren Arbeitslieferungen proportionell; die Gleichheit besteht darin, daß an gleichem Maßstab, der Arbeit gemessen wird. […] [D]ie Arbeit, um als Maß zu dienen, muß der Ausdehnung oder der Intensität nach bestimmt werden […] [D]ie ungleichen Individuen [...] sind nur an gleichem Maßstab meßbar, soweit man sie unter einen gleichen Gesichtspunkt bringt, sie nur von einer bestimmten Seite faßt, z.B. im gegebnen Fall sie nur als Arbeiter betrachtet und weiter nichts an ihnen sieht, von allem absieht.“(15) Die Individuen werden „unter einen Gesichtspunkt“ gebracht mittels eines Maßstabs, der „von allem andern absieht“, der also die Einzelnen in all ihren Besonderheit nicht berücksichtigt. Die Arbeiten werden durch einen allgemeinen Maßstab bewertet, so dass auch hier wie in der kapitalistischen Produktionsweise das „Maß ihrer Verausgabung [...] nicht in der einzelnen Arbeitskraft gefunden“ wird(16). Ähnlich dem bürgerlichen Recht, dessen Horizont in der „ersten Phase“ nicht überschritten wird, scheint auch die Kategorie der „abstrakt menschlichen Arbeit“ erhalten zu bleiben. Denn was kann eine Arbeit, die „der Ausdehnung oder der Intensität nach bestimmt“ wird, anderes darstellen als „abstrakt menschliche Arbeit“ – bloß dass diese im Verein freier Menschen bewusst bestimmt ist und sich nicht durch die Eigengesetzlichkeit der kapitalistischen Produktionsweise hinter den Rücken der Menschen herstellt? Im Prinzip haben wir es also in der „ersten Phase“ des Vereins freier Menschen wieder mit einer „abstrakten Allgemeinheit der reichtumschaffenden Tätigkeit“(17) zu tun, wie sie in der kapitalistischen Produktionsweise herrscht. Bei dieser abstrakten Allgemeinheit kann es Marx nicht belassen wollen; immerhin hatte Hegel diesen Terminus kritisch verwandt. Nach Hegel muss das abstrakt Allgemeine überwunden werden, da es von den Besonderheiten des darunter Befassten abstrahiert, und ein „konkret Allgemeines“ das Ziel sein – d.h. „das den Reichtum des Besonderen in sich fassende Allgemeine“(18). In polit-ökonomischen Kategorien: Gesucht ist eine Produktionsweise, in der die gesellschaftliche Arbeit insgesamt, d.h. als Allgemeinheit organisiert wird, ohne dass ihre Glieder, die individuellen Arbeiten, unter einen Gesichtspunkt gebracht und somit durch einen allgemeinen Maßstab bewertet werden.
Doch noch befinden wir uns in der Schilderung des Vereins freier Menschen in der „ersten Phase“, wo „die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit“(19) herrscht. Darin wird der Arbeiter bezahlt durch einen „Schein, daß er soundso viel Arbeit geliefert“(20) hat. Mit diesem Schein kann er entsprechend seiner erbrachten Leistung am gesellschaftlichen Reichtum partizipieren. Diese Scheine wären einerseits kein Geld, wie wir es kennen, da sie die Zirkulation nicht vermitteln, andererseits wären sie es in ihrer Funktion, die abstrakt menschliche Arbeit zu repräsentieren. Es ist wirklich eigenartig, dass Marx hier plötzlich auf eine Idee zurückgreift, die er einst versucht hat zu bekämpfen. Gegen Proudhon und andere hatte er eingewandt, dass die Arbeit „in dem Zettel eine abgesonderte, eigene Existenz erhielte“ und Gefahr laufe, sich den Menschen gegenüber „eigenen Gesetzen folgend“(21) zu verselbständigen. Nun greift er selber auf diese Idee zurück und scheint die einstige Zielsetzung seiner Philosophie in Gefahr zu bringen: „Es ist vor allem zu vermeiden, die ‚Gesellschaft‘ wieder als Abstraktion dem Individuum gegenüber zu fixieren.“(22) Denn nichts anderes wären diese Scheine, sofern sie einerseits die „abstrakte Allgemeinheit der reichtumsschaffenden Tätigkeit“ repräsentieren und sich dann möglicherweise auch noch eigengesetzlich gegenüber den Menschen verselbstständigen.

Wal, 24.9k     Der sozialistische Staat

In der Kritik des Gothaer Programms vermeidet Marx es, vom Staat zu sprechen – anscheinend bewusst(23). Was jedoch würde in Wirklichkeit geschehen? Wie und durch wen wird die Arbeit organisiert? Wer bestimmt die Arbeit hinsichtlich ihrer Ausdehnung und Intensität? Wer garantiert das Prinzip der Gerechtigkeit beziehungsweise den Tausch der Arbeiten? Immerhin ist die ganze Organisation, die in der kapitalistischen Produktionsweise blind über den Markt und das Geld vermittelt wird, nun zu koordinieren. Wer soll dies tun?
Schon nach der Revolution stellt sich die Frage, wer die neuen Eigentumsverhältnisse durchsetzt und aufrechterhält und die „die Bestimmung des Arbeiters […] auf alle Menschen ausgedehnt“(24)/(25), aber selbst dann, wenn diese Voraussetzungen geschaffen sind und auch den weiteren Ausführungen Marx‘ gefolgt wird, scheint der Staat notwendig zu bleiben. Hinsichtlich der Organisation der Produktion und Distribution setzt Marx im Prinzip einen Staat voraus, auch wenn er sich in terminologische Ungenauigkeiten flüchtet: Der Produzent „erhält von der Gesellschaft einen Schein, daß er soundso viel Arbeit geliefert […].“(26) Wer ist diese Gesellschaft, wer regelt diese Scheinvergabe? Bei Proudhon ist es die Volksbank, die an die Produzenten Scheine ausgibt. In Überlegungen zu dieser proudhonschen Konzeption gelangt Marx an anderer Stelle nach detaillierten Erörterungen zu einer abrupten und ambivalenten Schlussfolgerung, die im Prinzip auch gegen seinen eigenen Vorschlag einer Scheinvergabe durch „die Gesellschaft“ vorgebracht werden muss: „In der Tat wäre sie [die Volksbank, H.G.] entweder die despotische Regierung der Produktion und Verwalterin der Distribution, oder sie wäre in der Tat nichts als ein board, was für die gemeinsam arbeitende Gesellschaft Buch und Rechnung führte.“(27) Wer vergibt die Scheine – eine Despotie oder ein Amt? Eine entscheidende Frage! Doch mit dieser Frage bricht Marx‘ Argumentation ab. Gerade in der Kritik des Gothaer Programms hätte sie zwingend neu aufgeworfen und weiter diskutiert werden müssen, um Schlimmeres, wie es dann kam, zu verhindern. So war es im real existierenden Sozialismus die despotische Regierung und kein Amt, dass die Arbeit und das Lohnsystem gesamtgesellschaftlich zu koordinieren versucht hat.

Wal, 13.5k     Individuum und Gesellschaft

Bürgerliches Recht, abstrakt menschliche Arbeit, Geld und Staat – all das drängt sich in bestimmter Form in den Überlegungen Marx‘ zur „ersten Phase“ des Vereins freier Menschen wieder auf. Warum? Weil Marx ein Problem mehr schlecht als recht verdrängt hat: das Verhältnis von Besonderem und Allgemeinen beziehungsweise Individuum und Allgemeinheit. Recht, abstrakt menschliche Arbeit, Geld und Staat – allem wohnt die Eigenschaft inne, die Individuen und die Allgemeinheit zu vermitteln. Das Recht bindet alle Einzelnen in eine allgemeine Ordnung ein, die abstrakt menschliche Arbeit ist die Kategorie, durch die sich alle einzelnen Arbeiten aufeinander beziehen, das Geld vermittelt die einzelnen Produzenten und Waren und grundsätzlich ist es ebenjene „Diskrepanz zwischen Individuum und Gesellschaft“, die auch „im Staat sich darstellt“(28). Genau dieses Verhältnis seit seinen Frühschriften schön geredet zu haben, fällt Marx theoretisch und den sozialistischen Bürgern praktisch auf die Füße. Marx behauptete einst stolz, dass der Kommunismus „die wahrhafte Auflösung des Widerstreits zwischen [...] Individuum und Gattung“(29) sei, ohne ernsthaft in Erwägung zu ziehen, dass diese Auflösung, diese Harmonie von Besonderem und Allgemeinen, diese „konkrete Allgemeinheit“ so wenig hergestellt werden kann wie es eine göttliche Fügung gibt und der Versuch im schlimmsten Falle in Wahn und die Verfolgung von Kulaken umschlägt, die als Sündenböcke für das Misslingen absoluter Harmonie herhalten müssen.
Vielleicht kann es „nur“ um die bestmögliche, humanste Vermittlung von Allgemeinwohl und Individualinteressen gehen, vielleicht ist – frei nach der 4. Feuerbachthese(30) – der Widerspruch von Individualinteresse und Allgemeinwohl nicht aufzulösen, so dass ein herausgehobenes Drittes per se existiert, um das Besondere und das Allgemeine, das Individuum mit der Allgemeinheit miteinander zu vermitteln. Die Frage würde dann darin bestehen, wie dieses Dritte beschaffen ist, worin die Vermittlung besteht und ob sie auf der einen Seite gewährleisten kann, dass die Individuen größtmögliche Freiheit genießen, und auf der anderen Seite die Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Zusammenhangs derart, dass sich die Menschheit solidarisch und vernünftig konstituiert, statt in Kulturen, Stämme, Ethnien, Religionsgemeinschaften und ähnliche Zwangsverbände zu zerfallen.
Besonders entscheidend ist das Verhältnis von Allgemeinen und Besonderem in der Produktion, das heißt in der Bewältigung der gesellschaftlich notwendigen Arbeit. Indem sie gesellschaftlich arbeiten(31), beziehen sie sich in ihrer Arbeit auf eine Allgemeinheit, sofern sie nicht bäuerlich subsistieren und sich vor Gesellschaft hüten. Marx findet zwar nicht die kapitalistische Form gut, in der tendenziell alle Produktion „ihre Unabhängigkeit, ihr Losgelöstsein vom gesellschaftlichen Zusammenhang (verliert)“(32), begrüßt aber grundsätzlich, dass die Menschen in der Bezogenheit ihrer Arbeiten und Bedürfnisse eine „erfüllte soziale Beziehung“(33) führen. In dem Moment, wo sie mittels ihrer Arbeit in den gesellschaftlichen Zusammenhang eintreten, schlägt diese freilich auch auf jene zurück: „[S]obald die Menschen in irgend einer Weise für einander arbeiten, erhält ihre Arbeit auch eine gesellschaftliche Form“(34), mit anderen Worten: jede „besondre Arbeit (wird) zu einer besondren Existenzweise der sozialen Arbeit überhaupt“(35)/(36).
So weit, so gut. Nun stellt sich die Frage nach der Vermittlung von der einzelnen, konkreten Arbeit und der gesellschaftlichen Gesamtarbeit. Einerseits handelt es sich dabei um die Frage nach rationaler Organisation, andererseits um die Frage nach Gerechtigkeit. Welche Arbeit muss wer erledigen, wie widerfährt allen Arbeitern Gerechtigkeit, so dass keiner indirekt von anderen ausgebeutet wird? Wir kennen Marx‘ Antwort in der Kritik des Gothaer Programms bereits. In dieser Schrift kann Marx nicht mehr abstrakt postulieren, dass der Kommunismus die „wahrhafte Auflösung des Widerstreits zwischen [...] Individuum und Gattung“ ist, sondern muss diesen Widerstreit lösen. Gerechtigkeit soll, wie bereits herausgestellt, durch den Tausch hergestellt werden. Als Organisationsform schlägt er Planwirtschaft vor, die darin besteht, dass die Arbeiten nicht mehr auf dem Markt aufeinander bezogen werden, sondern schon auf der Ebene der Produktion gesamtgesellschaftlich organisiert werden; sie sollen „unmittelbar als Bestandteile der Gesamtarbeiten existieren“(37). Die gesamtgesellschaftliche Produktion soll nicht mehr durch das Geld auf der Ebene der Zirkulation vermittelt werden, sondern durch „gesellschaftlicher Buchführung“(38) oder dergleichen von Grund auf unter „planmäßige Kontrolle“(39) gebracht werden. Im Prinzip folgt Marx hier konsequent der Tradition der Aufklärung, alles durch das Licht der Ratio zu erhellen und der Vernunft zu unterwerfen. Auch die gesellschaftliche Produktion soll „einfach und durchsichtig“(40) werden.
Nun stellen sich zwei Probleme. Zum einen: ist es überhaupt möglich, wie Friedrich A. von Hayek rhetorisch fragt, eine gesamtgesellschaftliche Produktion „zentral zu kontrollieren“(41); oder sind der Vernunft nicht möglicherweise Grenzen gesetzt, jenseits derer sie in Wahn umschlägt? Und zum zweiten: Wo ein Plan gemacht wird, müssen sich die Einzelnen danach richten. Aber selbst wenn der Plan noch so vernünftig verhandelt wurde, spiegelt sich der Widerspruch von Allgemeinheit und Individuum nicht möglicherweise selbst in der Vernunft; ist die Vernunft möglicherweise mit sich selbst nicht identisch? Kann es sein, als Einzelner vernünftigerweise auszuschlafen, statt jene Arbeit zu meistern, die die Allgemeinheit ihrerseits vernünftig von einem abverlangt?
Mehr als offensichtlich war der real existierende Sozialismus nicht die „wahrhafte Auflösung des Widerstreits zwischen [...] Individuum und Gattung“, sonst hätte es in der Sowjetunion nicht etwa, um nur ein harmloses Beispiel aufzulisten, Art. 209 des Strafgesetzbuches geben müssen, d.i. das „Gesetz über das Vagabundentum“, wonach mehr als vier Monate dauernde Verstöße gegen die „allgemeine Arbeitspflicht“(42) mit zwei bis vier Jahren Freiheitsentzug geahndet werden. Das Individuum musste im real existierenden Sozialismus mehr als in der bürgerlichen Gesellschaft durch staatliche Gewaltandrohung und -anwendung zur Räson gebracht werden. Und das lag anscheinend daran, dass der Staat mit der Organisation der Produktion eine Aufgabe zu erledigen hatte, die ihn und seine Gewalt noch mehr forderten. Während sich die ökonomische Aufgabe des bürgerlichen Staats darauf beschränkt, den geordneten Ablauf des Markts samt der dazugehörigen Rechts zu garantieren, musste der sozialistische Staat den Markt und auch noch die Produktivkraftentwicklung der kapitalistischen Produktionsweise substituieren. An die Stelle bestimmter ökonomischer Zwänge trat (soweit nicht gerade die Neue Ökonomische Politik herrschte) die unmittelbare Gewalt des Staats, um alle Bürger plangemäß zu koordinieren und zu bestimmen.
Trotz dieser realen Erfahrungen mit der Planwirtschaft bleibt die Verteufelung des Geldes eines der Hauptmotive antikapitalistischer Rhetorik. Der Kapitalismus wird mit Dollarzeichen symbolisiert, am Stammtisch wird die Macht des Geldes beklagt, die linksradikale und philosophische Wertkritik zielt gegen das böse, ungreifbare Abstrakte und hat Wert und Geld dementsprechend als die wesentlichen, kapitalistischen Kategorien ausgemacht – und alle sich radikal gebärdenden Kapitalismuskritiker antworten auf die Frage, warum der Sozialismus gescheitert sei, gern mit der Phrase, dass das Geld in den sozialistischen Ländern nicht abgeschafft worden sei. Aber: Wäre das Geld im Sozialismus gänzlich – d.h. nicht nur in der Produktionssphäre, sondern auch in der Sphäre der Konsumgüterzirkulation – abgeschafft worden, hätte es vielleicht noch mehr Staat und noch weniger individuelle Freiheit gegeben. Die Frage also lautet: Warum überhaupt das Geld in den Fokus der Kritik stellen?
Marx betonte, dass mit dem Geld nicht automatisch das Kapital gegeben ist: „Seine historischen Existenzbedingungen sind durchaus nicht da mit der Waren- und Geldzirkulation.“(43) Zudem sah er Vorteile in der verdinglichten, also sachlichen Vermittlung des Geldes. Er bekundete, den „sachlichen Zusammenhang“ des Marktes einem „auf Bluturenge [...] und Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnisse gegründeten [...] Zusammengang (vorzuziehn)“(44). Und ihm schwante mitunter die Gefahr, dass jenseits des Kapitals nicht zwingend eitel Sonnenschein herrscht und durchaus die Möglichkeit besteht, jenseits des Kapitals „auf eine niedrigre Stufe der Produktion zurückgeworfen“(45) zu werden. Darüber hinaus beschlich ihn in einem außerordentlichen Moment seiner beharrlichen Auseinandersetzung mit der politischen Ökonomie eine ganz bestimmte Ahnung, was das Ende der versachlichten ökonomischen Vermittlung (also der über Geld und Kapital) bedeuten könnte: „Raubt der Sache diese gesellschaftliche Macht, und ihr müßt sie Personen über Personen geben.“(46)
Vielleicht sollte angesichts der geschichtlichen Erfahrungen mal zur Abwechslung darüber nachgedacht werden(47), ob nicht im Geld die Rettung liegen könnte, sofern es dem Zusammenhang des Kapitals entledigt werden kann und jener Vorteil erhalten bleiben könnte, der in Hegels Worten darin besteht, dass „das zu Leistend auf eine Art bestimmt“ wird, „daß die besonderen Arbeiten und Dienste, die der Einzelne leisten kann, durch seine Willkür vermittelt werden.“(48)
Eventuell ist, wie Christoph Ziermann hofft, eine Äquivalentform möglich, durch die die Einzelnen sich so mit der Allgemeinheit vermitteln können, „daß die Summe der Teile mehr ist als das Ganze: die freie Vielheit, der Anarchie so nahe wie nur möglich.“(49) Schwer auszudenken und hier nicht auszudiskutieren, aber vielleicht ist es ja die einzige Möglichkeit, über die kapitalistische Produktionsweise doch noch hinauszukommen, ohne in den totalen sozialistischen Staat oder sonst welche Zwangskollektive zurück zu fallen.

Wal, 14.8k     Reine Freiheit – reine Notwendigkeit

Abschließend zurück zu Marx. Denn dieser postuliert letztlich doch die schlussendliche Auflösung aller Missstände. Bisher hatten wir nur die „erste Phase“ des Vereins freier Menschen untersucht. Aber Marx deklariert einen Ausweg: „In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit verschwunden ist; […] nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen – erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahnen schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“(50) Der letzte Imperativ richtet sich gegen das bürgerliche Recht und den Maßstab abstrakt menschlicher Arbeit. In der „höheren Phase“ des Vereins freier Menschen werden nicht alle an einem allgemeinen Recht subsumiert und in der Produktionssphäre über einen Leisten geschlagen, sondern als besondere Individuen anerkannt, deren Fähigkeiten und Bedürfnisse zu achten sind und die sich frei entwickeln können; die höhere Phase als die verwirklichte „konkrete Allgemeinheit“.
Aber wie kam Marx zu diesem schönen Schluss, wie gelangt man in die „höhere Phase“? Wir rekonstruieren den Argumentationsgang nochmals: Marx hatte mit dem Problem der Organisation der Arbeit begonnen und ist zu dem Ergebnis gelangt, dass die Menschen in einer „ersten Phase“ entsprechend ihrer Arbeit vergütet werden müssten. Dieses Prinzip würde das bürgerliche Rechtsideal nicht überschreiten, sondern in der Praxis erst richtig durchsetzen. Dann stellt Marx die Missstände heraus, die mit dem bürgerlichen Rechtsideal verbunden sind. Wie schafft Marx die Missstände ab? Indem er das Anfangsproblem einfach durchstreicht: das Reich der Notwendigkeit. Arbeit muss nicht mehr organisiert und verteilt werden, da „alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen“. Marx löst das Problem also auf einer Ebene, wo es sich nicht mehr stellt, wo Maschinen etc. die Arbeit für uns Menschen erledigen. Nur indem er einen Zustand außerhalb des Reichs der Notwendigkeit herbeiphantasiert, kann er den bürgerliche Rechtshorizont überschreiten. Doch ist diese „höhere Phase“, in dem in der Gesellschaft keine zwingende Arbeit mehr zu machen ist, in Reinform überhaupt zu haben? Das genau bestreitet Marx an anderer Stelle: „Wie der Wilde mit der Natur ringen muß, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, um sein Leben zu erhalten und zu reproduzieren, so muß es der Zivilisierte, und er muß es in allen Gesellschaftsformen und unter allen möglichen Produktionsweisen.”(51) Allein die asymptotische Annäherung an ein reines Reich der Freiheit mag gelingen, nicht aber die absolute Beseitigung aller Notwendigkeit. Die Frage der Verteilung notwendiger Arbeit und damit die Frage nach der Vermittlung von Individuum und Gesellschaft wird also bestehen bleiben, das Reich der Freiheit immer nur auf dem Reich der Notwendigkeit „als seiner Basis aufblühn“(52) können. Marx flieht der unbequemen Frage, die er beharrlich aufgeworfen hat, durch einen Quantensprung in die „höhere Phase“ – dieser aber blieb praktisch verwehrt und wird es bleiben.
Marx verkündet als Happy End das absolute Reich der Freiheit, die „höhere Phase“ des Vereins freier Menschen in reinster Gestalt, ohne jeglichen Ballast gesellschaftlich notwendiger Arbeit. Das Happy End hatte dann allerdings ein Schrecken ohne Ende als Vorstadium – den real existierenden Sozialismus. Dieser war gewissermaßen das passgerechte Gegenstück zur „höheren Phase“. In dem Maße nämlich, wie Marx in der Kritik des Gothaer Programms die „höhere Phase“ in Reinform phantasiert, wurde im real existierenden Sozialismus die „erste Phase“, die „knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit“(53), den Menschen in Reinform aufgezwungen. Vorm und für den Quantensprung mussten sich die Individuen aufopfern (und für den das Allgemeininteresse repräsentierenden Staat(54)). So wie die „höhere Phase“ ganz real die „konkrete Allgemeinheit“ darstellen soll, so war die „erste Phase“ ganz real die „abstrakte Allgemeinheit“, worin bekanntlich nichts inbegriffen sein kann, das besonders und dem Allgemeininteresse disparat ist.
1933, einem Jahr, in dem die Zahl der Gefangenen in sowjetischen Arbeitslager von dreihunderttausend auf vierhunderttausend stieg, konnte Stalin stolz die Vollgültigkeit der „ersten Phase“ der sozialistischen Produktionsweise verkünden, welche nach Stalins gesamtgeschichtlicher Sichtweise die „fünfte Form“ in der Abfolge der geschichtlichen Entwicklung der Produktionsformen darstellt: „Wir können jetzt sagen, daß [...] die fünfte gesellschaftlich ökonomische Form, die sozialistische, die uneingeschränkt herrschende und einzig bestimmende Kraft in der gesamten Volkswirtschaft ist. (Stürmischer Beifall.)“(55)

Hannes Gießler

Wal, 6.0k     Zitierte Schriften:

Theodor W. Adorno, Drei Studien zu Hegel, Gesammelte Schriften 5, Frankfurt am Main 1998
Friedrich A. von Hayek, Die verhängnisvolle Anmaßung: Die Irrtümer des Sozialismus, Tübingen 1996
Hegel, Werke, Frankfurt am Main 1970
Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III, Werke 10
Ders., Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke 7
Ders., Wissenschaft der Logik I, Werke 5
Lenin, Rede auf dem III. Gesamtrussischen Gewerkschaftskongress, Werke 30
Herbert Marcuse, Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus, Frankfurt am Main 1989
Marx-Engels-Werke (MEW), Berlin, 1975
Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA), Berlin 1975ff.
Karl Marx, Ergänzungen und Veränderungen zum ersten Band des „Kapitals“, MEGA II/6
Ders., Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, MEW 42
Ders., Instruktionen für die Deligierten des Zentralrats der int. Arbeiterassoziation, MEW 16
Ders., Das Kapital Bd. 1, MEW 23
Ders., Das Kapital Bd. 3, MEW 25
Ders., Ökonomisch-philosophische Manuskripte, MEW Erg.-Bd. I
Ders., Thesen über Feuerbach, MEW 3
Ders., Urtext, in: ders., Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1974
Ders., Zur Kritik des Gothaer Programms, MEW 19
Stalin, Rechenschaftsbericht an den XVII. Parteitag über die Arbeit der KPdSU (B), Stalin Werke 13, Berlin 1955
Nicolas Werth, Ein Volk gegen sein Staat, in: Stéphane Courtois u.a., Das Schwarzbuch des Kommunismus, München / Zürich 1998
Christoph Ziermann, Dialektik und Metaphysik bei Marx und Adorno, in: Ette, Figel u.a., (Hg.), Adorno im Widerstreit, Freiburg / München 2004

Wal, 25.8k     Anmerkungen

(1) Marx, Das Kapital Bd. 3, S. 828

(2) Marx, Das Kapital Bd. 1, S. 94f.

(3) Marx, Das Kapital Bd. 3, S. 828

(4) „Die Arbeit ist im Kommunismus nicht mehr entfremdet.“ „Die Arbeit ist dann keine Lohnarbeit mehr.“ „Die Arbeit ist dann nicht mehr abstrakt.“ „Arbeit ist eine kapitalistische Kategorie.“ „Es gibt dann nicht mehr die Arbeit, weil die Trennung von Arbeit und Freizeit selber kapitalistisch ist.“ „Wenn ihr euch die Tätigkeit in einer befreiten Gesellschaft wie Arbeit vorstellt, dann seit ihr noch zu sehr dem bürgerlichen Denken verhaftet.“

(5) Kanon für drei Stimmen aus einem DDR-Liederbuch für die 5. bis 10. Klasse.

(6) Vgl. meine Artikel: Zwang zur Arbeit, „…lasst uns der Gaben arbeitslos uns freun…“, in: CEE IEH #111 (http://www.conne-island.de/nf/111/23.html), u.: Der schlechte Gebrauchswert der Maschinerie. Über die Nachhaltigkeit der kapitalistischen Produktionsweise, in: CEE IEH #128 (http://www.conne-island.de/nf/128/21.html)

(7) Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts §299, S. 466

(8) Marx, Instruktionen für die Deligierten des Zentralrats der int. Arbeiterassoziation (1867), S. 193

(9) Marx, Kapital Bd. 1, S. 559

(10) Marx, Kritik des Gothaer Programms, S. 20

(11) Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, S. 104

(12) Marx, Kritik des Gothaer Programms, S. 20

(13) Marx, Kritik des Gothaer Programms, S. 20

(14) Marx, Kritik des Gothaer Programms, S. 21

(15) Marx, Zur Kritik des Gothaer Programms, S. 20f.

(16) Marx, Ergänzungen und Veränderungen zum ersten Band des „Kapitals“, S. 31

(17) Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, S. 29

(18) Hegel, Wissenschaft der Logik I, S. 54

(19) Marx, Zur Kritik des Gothaer Programms, S. 21. Dieses Postulat richtet sich auch gegen die Sozialisten um und nach Saint Simon, die allein die Durchsetzung des bürgerlichen Rechts betrieben, wenn sie forderten: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung“.

(20) Marx, Zur Kritik des Gothaer Programms, S. 20

(21) Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, S. 74

(22) Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, S. 538f.

(23) Friedrich Engels schrieb 1975, um Marx‘ Kritik des Gothaer Programms zu unterstützen und die Schriften der Partei darauf zu eichen, einen Brief an August Bebel, den er auch im Namen von Marx formuliert: „Man sollte das ganze Gerede vom Staat fallenlassen, besonders seit der Kommune, die schon kein Staat im eigentlichen Sinne mehr war. Der Volksstaat ist uns von den Anarchisten bis zum Überdruß in die Zähne geworfen worden, obwohl schon die Schrift Marx‘ gegen Proudhon‘ und nachher das ‚Kommunistische Manifest‘ direkt sagen, daß mit der Einführung der sozialistischen Gesellschaft der Staat sich von selbst auflöst und verschwindet. […] Wir würden daher vorschlagen, überall statt Staat ‚Gemeinwesen‘ zu setzen […].“ (MEW Bd. 19, S. 7)

(24) Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, S. 534

(25) In der Praxis lautete diese Frage dann in aller Genauigkeit: „Man muß sich überlegen, wie und unter welchen Bedingungen das Proletariat, das über einen so starken Zwangsapparat wie die Staatsmacht verfügt, den Bauern als Werktätigen heranziehen [...] kann.“ (Lenin, Rede auf dem III. Gesamtrussischen Gewerkschaftskongress (1920), S. 499f.)

(26) Marx, Zur Kritik des Gothaer Programms, S. 20

(27) Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, S. 89

(28) Marcuse, Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus, S. 120

(29) Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, S. 536

(30) Marx, Thesen über Feuerbach, S. 5f.

(31) „Die verschiednen Privatarbeiten hängen stofflich von einander ab und ergänzen einander stofflich, so weit die eine dieß, die andre jenes bestimmte gesellschaftliche Bedürfnis befriedigt, alle zusammen daher die gesellschaftliche Gesammtheit der gesellschaftlichen Bedürfnisse, in andren Worten, weil jede Privatarbeit durch ihren besondren nützlichen Charakter einen Theil der gesellschaftlichen Gesamtarbeit verrichtet [...].“ (Marx, Ergänzungen und Veränderungen zum „Kapital“, S. 39) Vergleiche dazu auch: Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III, S. 321f., und: Adorno, Drei Studien zu Hegel, S. 266

(32) Marx, Das Kapital Bd. 3, S. 805

(33) Marx, Urtext, S. 912f.

(34) Marx, Das Kapital Bd. 1, S. 86

(35) Marx, Urtext, S. 912f.

(36) „Sobald die Arbeit einen durch den gesellschaftlichen Zusammenhang bestimmten Inhalt besitzt, [...] gilt sie als allgemeine Arbeit. Die Form der Allgemeinheit der Arbeit bestätigt sich durch ihre Realität als Glied einer Totalität von Arbeiten, als besondre Existenzweise der gesellschaftlichen Arbeit.“ (Marx, Urtext, S. 908)

(37) Marx, Kritik des Gothaer Programms, S. 20

(38) Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, S. 87

(39) Marx, Das Kapital Bd. 1, S. 94

(40) Marx, Das Kapital Bd. 1, S. 90f.

(41) Hayek, Die verhängnisvolle Anmaßung: Die Irrtümer des Sozialismus, S. 91

(42) Lenin, Bd. 25, S. 371

(43) Marx, Das Kapital Bd.1, S. 184

(44) Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, S. 95

(45) Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, S. 143

(46) Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, S. 91

(47) Neben Ziermanns Überlegungen (s.u.) gibt es meines Wissens nur noch einen Text, der in eine ähnliche Richtung weist: Manfred Dahlmann, Einheit in der Trennung, in: Bahamas Nr. 42 (oder: http://www.isf-freiburg.org/isf/beitraege/dahlmann-einheit.trennung.html)

(48) Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts § 299, S. 466

(49) Ziermann, Dialektik und Metaphysik bei Marx und Adorno, S. 55

(50) Marx, Zur Kritik des Gothaer Programms, S. 21. Dieses Postulat richtet sich auch gegen die Sozialisten um und nach Saint Simon, die allein die Durchsetzung des bürgerlichen Rechts betrieben, wenn sie forderten: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung“.

(51) Kapital Bd. 3, S. 828

(52) Kapital Bd. 3, S. 828

(53) Marx, Zur Kritik des Gothaer Programms, S. 21

(54) „Sollen notfalls Tausende von Leuten umkommen, aber der Staat muß gerettet werden.” Trotzky, Papers, Bd. II, S. 22, zit.n.: Werth, Ein Volk gegen sein Staat, S. 104

(55) Stalin, Rechenschaftsbericht an den XVII. Parteitag über die Arbeit der KPdSU (B), S. 176

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last modified: 22.8.2007