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Schneewittchen im Märtyrerland

Notizen zu Lookism

Einleitung

In diversen deutschen Städten befinden sich seit letztem Jahr bunte Aufkleber auf der Straße, die zur Bekämpfung von „Lookism“ aufrufen. Dahinter steht eine lose Gruppe, die eine Kampagne gegen Lookism gestartet hat und dazu die Website www.lookism.info betreibt. Dort sind diverse Texte rund um das Thema zu finden.
Als „Lookism“ definieren die Macher der Kampagne „die Diskriminierung von Individuen aufgrund deren äußeren Erscheinungsbildes“ (lookism.info: Allgemeine Definition).
Die Aktivisten versuchen die Diskriminierung durch Schönheitsnormen zu thematisieren: durch Texte, aber auch durch Street Art, Culture Jamming und Austellungen.
Im Folgenden nun eine kurze Abhandlung zu einigen ambivalenten Punkten der Kampagne und deren Verständnis von Kulturindustrie.(1) Interessant dabei ist, dass die Anti-Lookism-Kampagne einerseits die Kulturindustrie kritisiert, andererseits selbst mit Hilfe von Kunst intervenieren will, d.h. nach eigenen Angaben Schönheitsnormen dekonstruieren will.

Schneewittchen Gunwoman

Abgesehen von dem zweifelhaften künstlerischen Anspruch(2) sind die Inhalte der Kampagne nicht weniger fragwürdig. Symptomatisch dafür ist die Verwendung des Schneewittchens aus dem gleichnamigen Disney-Zeichentrickfilm von 1937, dem eine Maschinenpistole in die Hände montiert wurde. Dieses Motiv ist das bekannteste der Kampagne, es findet sich auf Aufklebern und verfremdeten Werbeplakaten wieder.
Die dabei verwendete Verfremdungstechnik, die auf einen Schockeffekt durch die gleichzeitige Verwendung von Unvereinbarem setzt, hat eine lange Tradition in der linken Kunst und wurde etwa 1993 von der Barbie Liberation Front verwendet, um „die sexistische Beeinflußung der Kinder als terroristischen Akt ins Bewußtsein zu rücken“ (autonome a.f.r.i.k.a. gruppe/ Blissett/ Brünzels 2001, S.116). Doch worin besteht in Gesellschaften, in denen Frauen als Polizistinnen und Soldatinnen Waffen tragen, der Schockeffekt?
Was die Macher als ironischen Umgang mit den gesellschaftlichen Normen sehen, ist der Versuch mit einer parolenhaften Bildsprache die Aufmerksamkeit der Betrachter zu erreichen.
Mit Schockeffekten funktionieren ebenso die Motive der Anti-Lookism-Kampagne. Plakative Botschaften wurden entweder auf Aufklebern oder mit Hilfe von Stencils verbreitet. Die Verwendung von einfachen, reduzierten Formen aus dem Repertoire der Street Art erinnert an Reklame, weist aber im politischen Kontext doch einen entscheidenden Unterschied auf: Wo Reklame die Betrachtenden unterhalten will und umschmeichelt (sonst könnten sich diese ja für ein anderes Produkt entscheiden), fällt die linke Kunst im Auftrag des Anti-Lookism mit der Propaganda zusammen(3).
Schließlich muss eine politische Botschaft in die Hirne geprügelt werden. „Fight Lookism!“ lautet der Imperativ, dem die Betrachtenden sich unterordnen sollen.

Die Ironie der Cartoons

Dass mit Schneewittchen ausgerechnet eine Zeichentrickfigur von 1937 verwendet wurde, mit Wespentaille und Kulleraugen, passt nur zu gut zu einer einfachen Sichtweise der Kulturindustrie. Damals war die Rollenverteilung und die Repräsentation der Geschlechter noch klar. Die wenigen weiblichen Cartooncharaktere repräsentierten ein festes Rollenbild (etwa das Cartoon-Sexsymbol der 1930er Jahre Betty Boop).
Damit ist aber noch lange kein passendes Bild des heutigen Stands der Kulturindustrie gezeichnet. Dass die Charaktere von damals heute nur noch als Parodie taugen, fällt aus dem Raster der Anti-Lookism-Aktivisten. Comics und Cartoons zeichnen sich wie Karikaturen seit jeher durch eine übertriebene Darstellung von Eigenschaften aus. Dieses Prinzip ist heute ins Extrem getrieben und macht vor der Persiflage auf ältere Cartoons nicht halt. Serien wie „Drawn Together“ oder „Harvey Birdman“ karikieren genau diese Art von klassischen Comiccharakteren durch die Überzeichnung sämtlicher Merkmale ins Klischeehafte. „South Park“ und „The Simpsons“ lassen keine Möglichkeit aus, sich über gesellschaftliche Themen lustig zu machen. Niemand, weder Produzent noch Konsument, würde eine Darstellung anno 1937 heute noch Ernst nehmen. Das heißt nicht, dass die heutige Ironie weniger affirmativ wäre.
Nur wird nicht mehr die eine Norm in kulturindustriellen Produkten Second Life, 12.9k abgebildet; vielmehr werden Normen moduliert. Eine augenzwinkernde Reflexion der Produkte wird Teil der Darstellung. Die Kulturindustrie entwickelt eine systemimmanente Kritik, die ihren Produkten eingeschrieben wird. Eine Marktlücke wird geschlossen: die Unzufriedenheit der Konsumenten wird bedient mit Satire, die sich darüber lustig macht, wie langweilig das alles doch sei. Gleichzeitig wird aber die alte Drohung ausgesprochen: The show must go on.
Gerade hinsichtlich der Frage nach dem Schönheitsideal sind die Filme der „Shrek“-Reihe auf der Höhe der Zeit. Auch dicken, grünen, hässlichen Ogern soll das bürgerliche (genauer: US-amerikanische) Glücksversprechen nicht verwehrt bleiben. Am Ende ist die hübsche Prinzessin Fiona eine dicke Oger-Frau und wird damit glücklich. Was will man mehr? Na also – auch den als hässlich Dargestellten wird in der Kulturindustrie die Chance auf ein erfülltes Leben versprochen, das dann im alltäglichen Elend der Ehe endet.

Ein Schönheitsideal in der Kulturindustrie, viele oder keins?
      „Musikclips von MTV geben einen guten Überblick über Arten, wie Menschen sich gebärden und aussehen können: dicke, dünne, lange und kurze, in Schwarz, Weiß, Gelb, Rot und cross over. Das Showgeschäft kultiviert geradezu die Paletten der Rassen und die Abweichung von der Norm. Ist eine Figur besonders schön, dann überschlägt sie sich zur Karikatur des Normalen. Pop folgt dem Gesetz der Mode: dem ständigen Überreizen der Regel.“
      Beat Wyss: Pop zwischen Regionalismus und Globalität
Von den Anti-Lookism-Aktivisten wird vereinfachend angenommen, es gäbe heute ein einziges Schönheitsideal:
      „Dass auf Werbeplakaten, in Zeitschriften und im Fernsehen fast ausschließlich Menschen gezeigt werden, die dem gängigen Schönheitsbild entsprechen (und meist als ‚weiß‘ und heterosexuell dargestellt sind), ist schon so selbstverständlich, dass es kaum mehr auffällt.“ (lookism.info: Fight Lookism)
Das ist schlichtweg falsch. Als gäbe es nicht im deutschen Fernsehen schauderhafte Comedy von Dirk Bach und Hella von Sinnen. Homosexuelle werden als fleischgewordenes Spiegelbild der deutschen Fernsehzuschauer präsentiert zum Beweis, dass auch sie genau dieselben Spießer sind wie alle anderen Deutschen auch.
Es ist gerade keine verbindliche Norm, die in Medien heute vorherrscht, sondern eine Pluralität von verschiedenen Typen, die dort als Repräsentanten ihrer jeweiligen Gruppe aufgeführt werden: der schwarze, schwule Polizist Keith Charles in der Serie „Six Feet Under“.(4) Alle dürfen mitmachen, selbst der Anti-Lookism-Kampagne werden einige Minuten bei „Polylux“ eingeräumt.

Dem Konsumenten wird in der Kulturindustrie eine Produktpalette an verschiedenen Typen angeboten. Einer wird schon dabei sein, mit dem er sich identifizieren kann: Hätten Sie es lieber blond oder brünett? Ja, das Ganze ist Werbung und menschliche Körper werden dabei zu Werbeträgern. Doch was hat das mit dem Begriff der Diskriminierung zu tun?
      Einerseits: falsch ist die Beobachtung nicht, dass Schönheit zur Ware wird. Andererseits: erklären, warum selbst die Bräune der Haut dem Fetischcharakter der Ware unterworfen wird (vgl. Adorno 1998b, S.649) lässt sich mit einem solchen Kulturkonservatismus nicht.
Es wird von den Machern der Anti-Lookism-Kampagne ein vereinfachtes Bild des Kapitalismus gezeichnet. Die Kritik arbeitet sich an ästhetischen Standards der fordistischen Periode ab, wie sie etwa in den 1950er Jahren durch Marilyn Monroe symbolisiert wurde.
Einer Aufweichung und Vervielfachung dieser Standards im Postfordismus (die aber eben kein Mehr an Freiheit bedeuten) kann sie nichts entgegensetzen.
Die Verwendung von Schneewittchen für die Kampagne ist damit symptomatisch für den Kampf mit einer Chimäre: Es wird ein idealisierter Kapitalismus beschrieben, den es so seit Jahrzehnten nicht mehr gibt.

Manipulieren Medien die Konsumenten?

An den Bereich des Phantastischen, des Utopischen (worunter selbst die „Heile Welt“-Idylle der frühen Disney-Filmproduktionen fällt) kann nur schwerlich der Maßstab der Realität angelegt werden. Horrorfilme machen Zuschauer nicht zu Serienmördern (und selbst Effekte durch dauerhaften Konsum konnten bisher nicht empirisch nachgewiesen werden) und genauso wenig bringt der fiktive Charakter „Schneewittchen“ die Zuschauer direkt dazu, entsprechende Körpermaße besitzen zu wollen.
Doch genau diese Manipulationshypothese wird von der Anti-Lookism-Kampagne vertreten:
      „Schon beim bloßen Einschalten des Fernsehers, dem Blick auf Werbeplakate oder beim Surfen im Internet wird mensch von Lookism überschwemmt. Ob es die nach äußeren Kriterien ausgesuchten Schauspieler_innen, Nachrichtensprecher_innen oder Musikgruppen sind, ob es die sich in ihrer Aufbau nach ständig wiederholenden Produktwerbungen sind; in all diesen Bereichen wird die scheinbare Eigenschaft ‚schön zu sein‘ genutzt, um den Marktwert eines Produktes zu steigern.“ (lookism.info: Lookism in allen Lebensbereichen)
Im Endeffekt läuft Lookism hier auf eine recht altbackene Medienkritik hinaus. Das Medienkartell hämmert danach gesellschaftliche, diskriminierende Normen in die wehrlosen Zuschauer ein. Wie diese Norm auf die Zuschauer wirkt, kann und will man nicht erklären. Unterstellt wird: die Subjekte würden sie durch permanente Wiederholungen internalisieren.
Die Analyse ist damit mehr als verfehlt: bösartige, kapitalistische Firmen verfolgen die niederträchtige Absicht, Produkte zu verkaufen, und bedienen sich dazu der „Schönheit“. Kapitalismuskritik wird zur Verschwörungstheorie. Mit einem mystischen Raunen verkündet man, dass da finstere Mächte am Werk seien, die – vermittelt über Medien – den ahnungslosen Menschen ihren Willen aufzwingen würden. Dies basiert auf der Annahme, Menschen wären ohnmächtig, ihnen würde übel mitgespielt und all das würde ohne ihre Einwilligung geschehen.
Medientheoretisch wirkt diese Sicht naiv. Der Zuschauer wird als passiver Konsument gedacht, der von Medienmachern via Medium mit Inhalten bombardiert wird. Kulturindustrie bedeutet Werbung, das stimmt ja auch. Nur funktioniert das Prinzip Werbung eher so, wie Heinz Steinert es formuliert: „Werbung [...] manipuliert und verführt uns nicht, sie unterhält uns und macht uns zu Komplizen.“ (Steinert 2002, S.132). Der Zuschauer ist mitnichten der ahnungslose Tölpel, der vom Medienkartell böswillig hinters Licht geführt wird. Er hat mehr als eine Ahnung davon, dass der Betrug, der um seinetwillen veranstaltet wird, seiner Einwilligung bedarf. Wesentlich gewinnbringender wäre also die Frage: Warum gucken sich die Leute den Scheiß überhaupt an?

Where do you draw the line? Lookism und Islamismus

Die Gesellschaft ohne Diskriminierung aufgrund von Körperformen und mit militanten Frauen, die bewaffnet gegen den Kapitalismus kämpfen – gibt es das nicht schon?
Das Bild des selbstbewussten Schneewittchens ähnelt den Motiven des radikalen Islamismus. Auch dort werden Bilder produziert: Abschiedsfotos- und videos von Märtyrerinnen. Diese werden als Kämpferinnen gesehen, die die täglichen Drangsalierungen durch den Kapitalismus (und die dahinter stehenden Mächte) nicht mehr ertragen. Burka und Kopftuch werden vom politischen Islam als anti-sexistische Maßnahmen angepriesen: als Schutz von Frauen vor männlicher Belästigung und Diskriminierung.
Insofern ließe sich problemlos Schneewittchen durch Fatima Omar Mahmud el Nadschar ersetzen. Diese posiert auch mit einer Maschinenpistole in der Hand auf ihrem Abschiedsfoto, bevor sie sich im November 2006 im Gazastreifen vor israelischen Soldaten im Auftrag der Hamas in die Luft sprengte (vgl. Die Welt 24.11.2006).

Im Jihad darf sich auch eine alte Frau, die keinen Schönheitsnormen entsprechen muss, im Kampf gegen die Juden und das Kapital in die Luft sprengen. Das ist die verwirklichte Gleichberechtigung: Lookism gibt es unter der Herrschaft der Hamas nicht. Ins Fernsehen des Jihadismus darf jeder, der eine Waffe in die Hand nehmen kann und sein Leben opfern möchte. Und im Gegensatz zur Kulturindustrie sollen diese Bilder in die Tat umgesetzt werden. Sie sind die öffentliche Androhungen der Vernichtung gegenüber den Juden.
Die Zuschauer eines Splatterfilms können sich hinterher gewiss sein, dass das erlebte Gemetzel eine fiktive Handlung darstellt, das einzig ihrer Unterhaltung diente. Die islamistische Propaganda produziert dagegen keine Fiktionen, sondern reale Tote: Snuff-Movies im faschistischen Propagandaauftrag.

Ohne den Vergleich überstrapazieren und das Selbstmordattentat verharmlosen zu wollen: Anti-Lookism weist Ähnlichkeiten mit dem Islamismus in der Bildsprache und Intention auf und tendiert in Richtung eines offen reaktionären Antikapitalismus. Es stellt sich die Frage: Wodurch grenzt sich die Kampagne von der Revolte gegen die Moderne des Islamismus ab?

Denn wie die Kritik an Schönheitsnormen und Werbung in die Praxis umgesetzt wird, belegt ein verfremdetes Werbeplakat aus Berlin-Prenzlauer Berg. Im April 2006 brachte der Bekleidungshersteller Tally Weijl ein riesiges Plakat an einem Baugerüst an, das eine leicht bekleidete Frau zeigte, die mit einem überlebensgroßen Plüschhasen posierte. Unbekannten Adbustern fiel nichts Orginelleres ein, als auf diesem Plakat eine symbolische Second Life, 14.5k Hinrichtung zu inszenieren: Einschußlöcher mit herunterlaufendem Blut in den Kopf des Hasen, den Kopf der Frau und in ihre Vagina.(5) Auf den, der den Ehrenmord zum künstlerischen und politischen Programm im Rahmen von Culture Jamming erhebt, sollte sich die Emanzipation besser nicht verlassen. Unter dem Deckmantel des Anti-Sexismus werden Vernichtungsfantasien ausgelebt, bei denen es nicht um die Befreiung des Individuums geht. Wo das Konzept des Anti-Lookism in der Theorie trotz aller Kritikpunkte einen positiven Bezug zur Freiheit des Individuums aufweist, endet die Praxis in der Barbarei: der Politik der rächenden Wut.

Wut essen Seele auf. Der Befreiungsschlag gegen die übermächtige Gesellschaft.
      „Dann möchte ich ‘ne Bombe sein und einfach explodieren./ Wenn alle Leute Hilfe schrein, dann würde was passiern./ Manchmal möchte ich zerplatzen und laut knalln/ Und alles was nicht stimmt würde auseinanderfalln.“
      Die Prinzen: Bombe
Die falschen Verhältnisse durch Selbstexplosion zum Platzen zu bringen und sich so an der Gesellschaft zu rächen – dieser Wunsch eines infantilen Rumpelstilzchen ist im zitierten Liedtext der Leipziger Ulk-Truppe „Die Prinzen“ dokumentiert. Und mit diesem Wunsch macht die post-autonome Szene Ernst, in deren Kontext die Anti-Lookism-Kampagne ihre Wirkungsmacht entfaltet. Die Gemeinschaft der Gekränkten kultiviert Allmachtsfantasien der Wut, die zum politischen Programm erhoben werden. Dadurch meint man ein gigantisches Energiepotential erschlossen zu haben, das gegen den Kapitalismus in Stellung gebracht werden kann. Getreu der Logik „Jedes Herz ist eine Zeitbombe“ (Revolutionärer Zorn Nr.6, 1981) weiß der autonome Sprengstoffexperte bis heute, dass es darum geht, den richtigen Zünder zu finden, um die Individuen scharf zu schalten in ihrer historischen Mission.
Nur richtet sich der Groll kaum gegen abstrakte Begebenheiten wie die verhassten „sozialen Normen“, sondern benötigt ein Objekt. Wer Opfer sagt, kommt kaum ohne Täter aus und so tobt sich die Wut letzten Endes an Personen aus, die angeblich von Lookism profitieren.
Ein archaisches Rachebedürfnis ist die Motivation dieser Linken. Die Individuen müßten nur ihre Unterdrückung erkennen – indem sie sich als Opfer definieren. So wie das Private politisch ist, ist jede Kränkung eine persönliche, die dem sensiblen Individuum von Dritten zugefügt wird. Die eigene Ich-Schwäche wird übertönt durch die Flucht ins Kollektivsubjekt. Identität! Sie ist der Wunsch, der leider schon in den Anti-Lookism-Texten angelegt ist mit der penetranten Verwendung der 1. Person Plural.

Die martialische Bildsprache offenbart den Blick auf diese Triebkräfte von Anti-Lookism.
Dem ohnmächtigen Individuum wird die Verantwortung für sein Handeln abgesprochen. Es gilt als Opfer widriger Umstände. Die als allmächtig empfundene Gesellschaft zwingt ihm die Schönheitsnorm auf. Kein Wunder, dass ihm irgendwann der Kragen platzt.
Die Wut wächst – und wer wird da einem irregeleiteten Schneewittchen den Amoklauf mit dem Schnellfeuergewehr übel nehmen?(6) Nur gegen wen oder was soll es die Aggression richten? Wie auch immer gesellschaftliche Normen mit einer Waffe in der Hand dekonstruiert werden sollen – irgendein Schuldiger wird sich schon finden lassen, an dem das selbsternannte Opfer seine Rachephantasien ausleben kann.

Dass sich dies nicht nur auf Werbeplakate beschränkt, durfte der Autor dieser Zeilen während der Anti-Lookism-Ausstellung im Café Morgenrot in Berlin erleben. Ein weiblicher Gast des Cafés wollte eine (vermutlich als „schön“ zu bezeichnende) Zeitungsaboverkäuferin mit den Worten „Ey, Schneewittchen, hau ab hier“ des Ladens verweisen.(7)

Das bleibt von der Anti-Lookism-Ausstellung bei ihren Betrachtern übrig: Die geschminkte, hübsche Frau verkörpert die Profiteurin der kapitalistischen Wirtschaftsweise.
Es ist erstaunlicherweise nicht der „weiße, heterosexuelle Mann“ (siehe obiges Zitat), an dem sich der Zorn entlädt, sondern die Frau, die sich „schön macht“ und vom Kodex der linken Norm abweicht.(8) Und so ist Anti-Lookism selbst zur Begründung von Diskriminierung geworden. Der Hass auf das gute Leben, auf die Schönheit und die Schönen wird kultiviert.

Und hier treten die Ähnlichkeiten zum Islamismus und dessen Ideologie des Antisemitismus offen zu Tage: Die „Wut auf die Differenz“ richtet sich gegen die, die von der Norm abweichen und als glücklich empfunden werden. Das Ticket, das den Hass auf Personengruppen enthält, denen bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden, ist gelöst (vgl. Adorno 1998a, S.233). Diejenigen, die als abweichend definiert werden, bekommen die Wut des Kollektivs zu spüren. Nach Horkheimer/ Adorno ist es diese Ideologie, die bereits den Antisemitismus ausmacht: „Nicht erst das antisemitische Ticket ist antisemitisch, sondern die Ticketmentalität überhaupt.“ (Adorno 1998a, S.234). Im Kern, dem Wunsch nach einem personifizierten Objekt der antikapitalistischen Raserei, trifft sich die Praxis des Anti-Lookism mit einem reaktionären Antikapitalismus.

Fazit

Von dem eigentlichen Ziel der Kampagne, nämlich Normen dekonstruieren zu wollen, bleibt am Ende wenig übrig. Als Resultat bleibt, dass der Kanon der Objekte des linken Hasses um die imaginäre Personengruppe der „Schönen“ ergänzt wird, was in das klassische Muster der Personifizierung des Kapitalismus fällt (vgl. Schmidinger 2001). Da hilft es auch nicht, wenn im Interview mit der Jungle World von Aktivisten der Anti-Lookism-Kampagne brav das Standard-Spüchlein aufgesagt wird, man würde sich nicht explizit gegen „die da oben“ richten (vgl. Jungle World 50/2006).

Lookism: Eine weitere Verwirrung von Linken, die die Gemeinschaft der Opfer ausweiten möchte. Überall sind Diskriminierungen, die Opfer produzieren, es geht nur darum sie aufzuspüren und zu benennen. Die Anzahl der „-ismen“ wird beständig erweitert. Nicht nur Diskriminierung aufgrund des Körpermaßes, auch aufgrund der Kleidung will man entdeckt haben, ebenso wie „Ableism“ und „Ageism“. Opfer überall.

Statt sich darüber Gedanken zu machen, was geschlechtsspezifische Diskriminierung in Zeiten von staatlichen Interventionen wie dem Allgemeinem Gleichbehandlungsgesetz und Gender Mainstreaming heißen könnte, werden neue Diskriminierungsformen erfunden.(9)

Es wäre an der Zeit, den moralinsauren Diskurs des linken Opfer-Kultes hinter sich zu lassen und Menschen als bewusst handelnde Individuen zu begreifen. Diese Position könnte zumindest für sich beanspruchen, an die Ratio zu appellieren und nicht das Rachebedürfnis eines tiefsitzenden Grolls zu befriedigen.

Hans-Christian Psaar

Literatur

Adorno, Theodor W.(1998a): Dialektik der Aufklärung. Gesammelte Schriften Band 3. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft
Adorno, Theodor W.(1998b): Dialektik der Aufklärung. Gesammelte Schriften Band 10.2. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft
autonome a.f.r.i.k.a. gruppe/ Blissett, Luther/ Brünzels, Sonja (2001): Handbuch der Kommunikationsguerilla. Berlin, Hamburg, Göttingen: Assoziation A
Beat Wyss (2004): Pop zwischen Regionalismus und Globalität. In: Grasskamp, Walter/ Krützen, Michaela/ Schmitt, Stephan (Hrsg.): Was ist Pop? Zehn Versuche. Frankfurt am Main: Fischer Verlag
Schmidinger, Thomas (2001): Struktureller Antisemitismus und verkürzte Kapitalismuskritik. Online abrufbar unter: www.trend.infopartisan.net
Steinert, Heinz (2002): Kulturindustrie. Münster: Westfälisches Dampfboot

Tageszeitungen

Die Welt 24.11.2006: Neunfache Mutter sprengt sich in die Luft
Jungle World 50/2006: Bin ich schön, jung, schlank und sexy?
Frankfurter Allgemeine Zeitung 18.1.2004: Scharon stützt Botschafter in Schweden

Online-Quellen

Anti-Lookism Kampagne www.lookism.info

Sonstiges

Revolutionärer Zorn Nr.6, 1981

Anmkerungen

(1) Da die These der Kulturindustrie von Horkheimer/ Adorno in dieser Zeitschrift ausführlich behandelt wurde, spare ich mir längere Ausführungen dazu.

(2) Die Verwendung von bekannten Comic-Charakteren wurde im letzten Jahrzehnt zur unsäglichen Bildsprache der radikalen Linken. Insbesondere im Motiv des Schneewittchens mit Maschinengewehr ist Copyrightsverletzung plus linkes Faible für Guerilla nicht Pop, sondern einfach schlechter Geschmack.

(3) Agit-Prop, und darum handelt es sich bei der Kunst im Rahmen der Anti-Lookism Kampagne, ist gewissermaßen die Summe des Zerfallsprozesses von Kunst in der Kulturindustrie: Kunst – Reklame – Propaganda. Müßig zu erwähnen, dass emanzipatorische Praxis nur gegen die Propaganda zu haben ist. Gerade in der Street Art gibt es Beispiele für eine ironische und durchaus kritische Auseinandersetzung mit der parolenhaften Form. Etwa bei Obey und Banksy, die bei allen zweifelhaften Ideen bürgerliche Künstler genug sind, um nicht auf den Schwindel der politischen Parolen ihrer Werke hereinzufallen und ihre Kunst so vor dem Umschlagen in die Propaganda bewahren.

(4) Hier gibt es noch einen perfiden Taschenspielertrick: wird dann eine Person schwarzer Hautfarbe abgebildet, so geschieht dies aus einem rassistischen „Exotismus“ heraus (vgl. lookism.info: Paralellen zu anderen Diskriminierungsformen). Hartnäckig verweigert sich die These eines Lookism der Betrachtung der Realität und formiert stattdessen lieber ein abgeschlossenes Gedankensystem, das sich nicht widerlegen lassen soll.

(5) Der Vorfall wurde hier dokumentiert: myblog.de/lfodemon/art/3317358

(6) Die personifizierte Unschuld „Schneewittchen“ scheint prädestiniert zu sein für Märtyrerglorifizierungen in der Kunst, wie etwa in der Installation „Snow White and the Madness of Truth“ von Dror Feiler. Diese wurde vom israelischen Botschafter Zvi Mazel im Januar 2004 in Schweden beschädigt (vgl. FAZ.1.2004).

(7) Glücklicherweise wirkten das Barpersonal sowie weitere Gäste mäßigend auf die wütende Frau ein.

(8) Ein anderes Motiv kommt hier ebenfalls zum Tragen: der Verrat der politischen Sache. Jedes Auftragen von Make-Up kann als Kollaboration mit dem Feind gedeutet werden. Ebenso der Sozialneid.

(9) Eine Vermutung dazu: die ehemaligen Themen der Neuen Sozialen Bewegungen sind heute von staatlichen Gruppen vereinnahmt. Um auf diesem Terrain noch als Linksradikale agieren zu können, müssen neue, unberührte Claims erschlossen; neue Politikfelder besetzt und spektakulär angepriesen werden.

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last modified: 24.4.2007