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Reactionary Anti-Imperialists

Schlaglichter einer internationalen marxistischen Konferenz

London’s calling... – Soviel lässt sich sagen: London hat gerufen und in Scharen sind sie erschienen. „Sie“, das sind ca. 250 Linke aus fast allen Ecken der Welt (mit Schwerpunkt auf Europa, v.a. Großbritannien, Frankreich und Deutschland, aber auch aus den USA, der Türkei etc.), die sich zur jährlichen Historical Materialism Conference unter dem pluralisierenden Motto New Directions in Marxist Theory in London versammelt hatten.(1) In weit über 60 Panels mit mehr als 150 ReferentInnen wurde so ziemlich alles diskutiert – oder, was dem engen Zeitrahmen angemessener schien, angesprochen –, was sich im weiten Feld der marxistisch inspirierten Theoriebildung so tummelt. Von marxologischen Debatten über Wertformanalyse, Transformationsproblem und Werbung Salem-Zigaretten, 33.2k Gleichgewichtstheorien, über Versuche linker Selbstaufklärung über historisch Vergangenes (Stalinismus, Maoismus, Leninismus) bis hin zu philosophischen, tagespolitischen und kulturtheoretischen Fragen wurde kaum etwas ausgelassen: Ein aus allen Nähten platzendes Programm, äußerst beschränkte Redezeit für die ReferentInnen und die Qual der Wahl für alle Besucher waren das Resultat.(2)
Dass sich der Besuch der Konferenz in ambivalenter Weise trotzdem „lohnte“, hat zweierlei Grund: Zum einen ist London immer eine Reise (und die dazugehörige Sause) wert, zum anderen ist ein solcher Besuch und die daraus entstehenden Gespräche und Diskussionen Teil eines intellectual transfer. Aus ihm resultiert der differenzierende Blick auf das, was der jeweiligen landes- und szenespezifischen Dynamik entspringt und was sich über den beschmutzten Tellerrand des eigenen Klüngels hinaus als von allgemeinerer Bedeutung erweist. Selbst noch hinter der rätselnden Rede vom Änigma der Anti-Germans, die einem – hat man erst mal einmal offengelegt, welches Land im eigenen Pass verzeichnet ist – periodisch begegnet, steckt das Verlangen nach jenem Transfer.
Ob alles, was in jenen drei Tagen verhandelt wurde, tatsächlich „new“ war, sei hier einmal dahingestellt. Die Basisqualifikation, um als „marxist“ durchzugehen – das „Ticket“ im Sinne der Dialektik der Aufklärung, d.h. identitätsstiftendes Element und Reduktionsprogramm gesellschaftlicher Komplexität gleichermaßen – lässt sich allerdings schnell angeben: Noch in den elaboriertesten Entwürfen der jeweiligen ReferentInnen(3) zu den disparatesten Themen herrscht ein unverrückbar gesetztes und strikt antiimperialistisch imprägniertes Klassenkampf-Dogma.(4) Eine – für die englische Linke weder neue, noch im Allgemeinen besonders überraschende – ziemlich eindeutige Stellung gegen Israel geht damit ebenso einher wie die vehemente Gegnerschaft gegen alles, was den USA anlastet. Das führt zu absurden Koalitionen, wie bspw. zwischen der trotzkistischen Socialist Workers Party (SWP) und diversen muslimischen Organisationen.(5) Auch auf der akademischen Konferenz in London setzte sich dieser klassenkämpferisch-antiisraelische Konsens und die Der-Feind-meines-Feindes-ist-mein-Freund-Logik an mehr als einer Stelle durch. So warb die Referentin Anne Alexander auf dem Panel The 33-Day War and its Aftermath: Wither Lebanon für das schlichtweg als reaktionär und beängstigend zu bezeichnende 3. Sozial-Forum im Frühling nächstens Jahres in der ägyptischen Hauptstadt Kairo. Das dazugehörige Flugblatt wirbt stolz mit der Aussage, bei der letzten Konferenz wäre „ein weites Spektrum der ägyptischen Opposition vertreten gewesen, einschließlich der Muslim-Bruderschaft, Nasseristischen Gruppen, Sozialisten, Gewerkschaftern und Bauernorganisationen...“(6)
Besonders aufschlussreich ist jener Konsens, wenn er sich dort Bahn bricht, wo es eigentlich um etwas ganz anderes geht. So unterstrich ein Redner die Wichtigkeit der Marxschen Wertformanalyse – hier bietet sich das leicht abgewandelte Bibel-Wort an: „an ihren Beispielen werdet ihr sie erkennen“ – mit dem Satz: „Da geht es um alles oder nichts! Wie in Palästina!“
Begibt sich der geneigte, immer noch am intellectual transfer, Debatte und Kommunikation interessierte Besucher auf die Suche nach dissidenten Stimmen innerhalb dieses Diskurses, dann ergibt sich – verbliebe man denn im linken Spektrum – ein verstörendes Panorama. Zwischen Pest und Cholera eines breiten bürgerlichen Anti-War-Movements und einer radikal-muslimischen Opposition (Pest und Cholera gehen in diesem Fall Hand in Hand) gegen alles Jüdische und Amerikanische bilden gerade – vor dem Hintergrund einer avancierten neo-marxistischen Theorie – „traditionelle“ Analysen einen kleinen Lichtblick. Oder, um in der Metapher zu bleiben: Als Alternative zu Pest & Cholera bietet sich schwere Grippe an. Denn völlig unwidersprochen wurde die Allianz der SWP und der Anti-Kriegs-Bewegung, ganz zu schweigen von den Äußerungen antisemitischer SWP-Radaubrüder wie Tony Cliff, nicht hingenommen.(7) Das starre Dogma, in dem nur die Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt die Bühne betreten darf, gepaart mit einem guten Schuss früh-marxscher Religionskritik, führen wenigstens zu einer vehementen Ablehnung klerikal-faschistischer Regimes islamischer Provinienz. Dementsprechend gehen derartige Gruppen auch mit ihrer eigenen Linken hart ins Gericht: Für diejenigen, die sich innerhalb der Anti-Kriegs-Bewegung solidarisch mit solchen Regimes zeigen, hat sich die Bezeichnung reactionary anti-imperialists eingebürgert.(8) Die Hoffnung, eine revolutionäre Arbeiterklasse würde sich im Nahen Osten gegen die autoritären Herrschaftsapparate erheben (das schließt in der antiimperialistischen Logik jedoch auch die einzige demokratische Regierung ein: Israel) handelt sich zwar alle Widersprüche und Dillemata ein, die dem Arbeiterbewegungsmarxismus zu Recht vorgeworfen werden, aber sie bewahrt wenigstens vor falschen Allianzen. Das Paradox in einem größeren Maßstab ist jedoch auch – und das kann an dieser Stelle nur angerissen werden – dass es dieselbe arbeiterbewegungs-marxistische Denkform ist, die historisch zu einer Verfestigung des antiimperialistischen Weltbildes beigetragen hat (in dem Israel und die USA eben immer, gelinde gesagt, schlecht wegkommen). Denn es geschah auf ihrer Basis, dass sich die englische Linke im 2.Weltkrieg zumindest in großen Teilen gegen Churchill stellte und unfähig war, den durch das nationalsozialistische Deutschland vollzogenen Massenmord an den europäischen Juden in seiner zivilisationstheoretischen Bedeutung zu erfassen.(9) Denn eine solche hätte das traditionelle marxistische Gedankengebäude unmöglich unberührt lassen können. So waren die Weichen gegenüber der Staatsgründung Israels und den weiteren Geschehnissen im Nahen Osten von Anfang an falsch gestellt.
Die Hoffnung auf jenes, oben beschriebene, kleine Fünkchen Vernunft könnte allerdings von einer recht kurzen Halbwertzeit gesegnet sein. Verliess man an jenem Wochenende in London das ansehnliche Unigelände, um sich auf einen ausgedehnten panoramischen Spaziergang durch die Londoner Innenstadt zu begeben, dann passierte man gleich nach dem Ausgang ein Poster. Darauf waren orthodoxe Juden zu sehen, die eine Israel-Fahne den Flammen überantworten und Muslim, die selbiges mit einem Bild von Osama Bin-Laden tun. Darüber der Slogan: Jews against Israel – Muslims against Al-Quaida. Da sind sie wieder, die falschen Alternativen.

Walther Schrotfels

Anmerkungen

(1) Organisiert wurde die Konferenz, die vom 8.-10. Dezember 2006 stattfand, von einem Zusammenschluss aus der Zeitschrift Historical Materialism, dem Verlag Socialist Register und dem Isaac and Tamara Deutscher Memorial Prize Committe. Dabei gibt es einige Überschneidung mit denjenigen Gruppen, die in Berlin den Kongress Kapitalismus Reloaded ausricht(et)en.

(2) Wer sich ein Bild über das gelaufene Programm im Einzelnen machen will, der konsultiere der Website von Historical Materialism: http://www.brill.nl/hima und http://www.historicalmaterialism.net

(3) Als auf einer theoretischen Eben höchst spannend sei hier nur auf die wertformanalytischen Debatten von Chris Arthur, Alan Freeman und Ricardo Bellofiore (die direkt oder indirekt an die in Deutschland unter dem Stichwort „Neue Marx-Lektüre“ gelaufenen Diskussionen anknüpfen) und China Melvilles Theorie des Internationalen Rechts (die an Eugen Paschukanis’ Rechtstheorie orientiert ist und auf der Konferenz kontrovers diskutiert wurde) verwiesen.

(4) Neben dem hier verhandelten Kontext lässt sich generell sagen, dass der Umgang mit Topoi wie „class struggle“, „workerism“ und sonstigen catchwords des Klassenkampfvokabulars deutlich unverfänglicher und unvermittelter ist, als in den hiesigen Zusammenhängen. „Schuld“ könnte hier ein weiteres Mal eine Lektüre der der Kritischen Theorie sein, wie oberflächlich sie in den einzelnen Fällen auch immer gewesen sein mag. Deren Verdienst ist u.a. die Impfung mit einer gesunden Dosis Skepsis gegen eine wie auch immer konstituierte Klasse oder ein ihr anhängliches Klassenbewusstsein.

(5) Vgl.: Udo Wolter: „Falsche Propheten“, In: Konkret, Juli 2006. S. 32ff. Dennoch ist für den britischen Kontext wichtig zu erwähnen, dass sich die Solidarisierung mit dem muslimischen Teil der vermeintlich multikulturellen Gesellschaft auf einen für Anti-Faschisten relevanten und konkret existierenden Konflikt beziehen kann: Nämlich die vehement rassistische anti-muslimische Agitation der britischen Rechten. Eine Umarmung der muslimischen Organisationen aufgrund des geteilten Antisemitismus und Antizionismus ist denen fremd. Das macht die unheiligen Allianzen nicht besser. Unerwähnt darf es trotzdem nicht bleiben.

(6) Flugblatt Fifth Cairo Conference – 29 Mar – 1 April 2007, verteilt auf im Rahmen der Konferenz. [Alle Übersetzungen W.S.]

(7) Vgl. Two Nations, two States – Socialists and Israel/Palestine. A workers’ liberty pamphlet. London 2002.

(8) Vgl. den stellenweise durchaus differenzierten und dezidierten Text „What’s next in the Middle East?“, In: Solidarity, Vol. 3 / Nr. 103. S. 3 u. 10

(9) Vgl. Dan Diner (Hrsg.): Zivilisationsbruch – Denken nach Auschwitz. Frankfurt a.M. 1988., vor allem Vorwort des Herausgebers, S. 7-14.

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last modified: 28.3.2007