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Einer der Gäste hält die übliche Tischrede, 35.5k

Der Antisemitismus als Ideologie besonderer Qualität


Beschäftigungen mit dem Antisemitismus leiden oft unter einem bestimmten Manko. Meist wird diese Ideologie vorschnell anderen Rubriken untergeordnet. Vielfach erscheint der Antisemitismus einfach als eine Spielart des Rassismus. In anderen Fällen gilt er als ein Beispiel für so genannte Sündenbockmechanismen: die Juden wären verfolgt und ermordet worden, weil man sie bestimmter Dinge für schuldig erklärte, etwa für die Pest, den verlorenen ersten Weltkrieg oder die Weltwirtschaftskrise. Für andere ist der Antisemitismus einfach ein Exempel für Vorurteile: Menschen wird etwas angedichtet, was man gewissermaßen selbst nicht überprüft hat: Frauen könnten nicht einparken, Wessis wären arrogant, Ausländer faul, na ja und Juden strebten halt nach Weltherrschaft, sind verschlagen und hinterlistig. Oft wird nicht erkannt, dass es sich um eine moderne Erscheinung handelt, die nicht mit den religiös begründeten antijüdischen Ausschreitungen des Mittelalters gleichgesetzt werden kann. Es ist also auch nicht jeder Judenhass antisemitisch.

Dieser Beitrag soll verdeutlichen, dass eine vorschnell unterordnende Herangehensweise die Besonderheit des Antisemitismus, seine eigenständige Qualität völlig verfehlt. Der Antisemitismus kann unter solchen Voraussetzungen nicht wirksam bekämpft werden; und dies ist heute sehr relevant, da es sich um eine der gefährlichsten Ideologiesyndrome handelt, die auch statistisch messbar in Deutschland, Europa und global erstmals seit Auschwitz wieder an Einfluss gewinnt.

I

Angesichts seiner offenkundigen Gefährlichkeit ist der Antisemitismus auf keinen Fall unter diverse Formen von Ausgrenzung, Hass auf andere Menschen, soziale Benachteiligung und ähnliches unter zu ordnen. So ließe er sich für eine besondere Form des Vorurteils halten. Darunter versteht man eine abwertende Meinung, Äußerung, Überzeugung, welche nicht an der Realität überprüft, sondern einfach „blind“ übernommen wurde. Im Vordergrund des Vorurteils steht
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nicht sein Wahrheitsgehalt. Vielmehr geht es um die Abwertung des Gegenübers. Man lehnt jemanden oder etwas ab, ohne selbst geprüft zu haben. Das Vorurteil sagt also mehr über die urteilende Person und meist gar nichts über das Beurteilte aus.
Nun soll hier nicht bestritten werden, dass der Antisemitismus auch Momente des Vorurteils in sich enthält. Unterstellt ein Antisemit, Juden seien generell verschlagen und hinterlistig, so ist das ein blind übernommenes, ungeprüftes, unzulässig verallgemeinertes und abwertendes Urteil, also ein Vorurteil. Der Antisemitismus heftet sich nicht an tatsächliche Eigenschaften von Juden. Für eine Auseinandersetzung mit ihm ist es vollkommen irrelevant, ob es tatsächlich Juden mit viel Geld, Macht und Einfluss gibt. Ein Antisemit will gerade zu, dass es so ist. Alle Gegenbeispiele sind ihm nur die Regel bestätigende Ausnahmen. Er wird es als eine unerträgliche Zumutung betrachten, über seine Urteile gegen Juden nachzudenken, zu überlegen, warum er sie hasst und ob das vielleicht auch etwas mit ihm selbst zu tun haben könnte. Der Antisemitismus hat somit überhaupt nichts mit den Juden, sondern sehr viel mit den Antisemiten selbst zu tun.
Obwohl es sich bei einzelnen antisemitischen Klischees also durchaus um Vorurteile handelt, wird man der antisemitischen Ideologie mit der Einordnung unter diese Rubrik schwerlich gerecht. Vielmehr richtet der Antisemitismus seit mehreren Jahrhunderten ganz bestimmte Beschuldigungen gegen ganz bestimmte Menschen. Im Zentrum stehen dabei die Vorwürfe des nach Reichtum, Macht und sexuellen Exzessen Strebens, des Ausbeutens und Aussaugens, des Zersetzens, Zerstörens und Unterminierens von Gemeinschaften. Da all diese Besonderheiten wesentlicher für den Antisemitismus sind, muss ihm doch ein besonderer Stellenwert beigemessen werden. Auch wenn antisemitische Vorstellungen oft den Charakter von Vorurteilen haben, so kann doch der Antisemitismus insgesamt nicht darauf reduziert werden. Seine Besonderheit besteht eben auch darin, was da gedacht wird, dass also den Juden Gier nach Macht, materiellem Reichtum oder luxuriösem Leben auf Kosten anderer angedichtet wird.

II

Eine andere bedenkliche Einordnung des Antisemitismus ist jene unter die Rubrik Diskriminierung von Minderheiten. Tatsächlich sind oder waren die Juden vielerorts eine Minderheit und wurden diskriminiert. Sie waren sogar vielerorts Minderheit und stellten bis zur Gründung Israels auch niemals irgendwo in der Moderne eine gesellschaftliche Mehrheit. Daher – und aufgrund der Tatsache, dass sie keine staatliche Heimat besaßen – sind sie eigentlich sogar die Minderheit schlechthin. Der Antisemitismus wendet sich aber häufig nicht nur gegen die jüdische Minderheit im eigenen Land. Die Massenmorde durch die so genannte „Wehrmacht“ im Zuge des deutschen Überfalls etwa auf Polen und die Sowjetunion im zweiten Weltkrieg richteten sich nicht gegen Juden in Deutschland, sondern man mordete während des Überfalls auf andere Länder und flankierte dies mit Ideologien, nach denen die Welt von der so genannten „jüdischen Pest“ zu befreien wäre. Die Deutschen begriffen damals – in ihrer Sprache formuliert – die Befreiung aller „arischen Völker“ vom „Weltjudentum“ als ihre historische Mission.
Zusätzlich zur oben beschriebenen Gier nach Macht, Reichtum, Luxus, Exzessen und dem Aussaugen anderer Völker tritt noch der Mythos von der jüdischen Weltverschwörung als zentrale und auch gefährlichste antisemitische Vorstellung hinzu. In diese Vision gipfelt der Wahn, sich von den Juden ausgesaugt, unterminiert und zersetzt zu fühlen. Er animiert die Antisemiten dazu, Juden weltweit zu verfolgen. In den „Protokollen der Weisen von Zion“ wurde diese Wahnidee erstmals geschlossen und systematisch dargelegt. Es handelt sich hier um einen angeblich aus jüdischer Feder stammenden, „zufällig“ an die Öffentlichkeit gelangten Eroberungsplan der Juden. Er lege dar, durch welche Machenschaften sie angeblich die Weltherrschaft künftig an sich reißen wollen würden. Dieser Plan reiche vom Schüren politischer Unruhen, über das Entfesseln von Kriegen und Wirtschaftskrisen bis zur Errichtung von U-Bahn-Schächten, über welche später dann die Städte, in die Luft gesprengt werden sollen. Bei diesem Machwerk handelt es sich um eine Fälschung der russischen zaristischen Geheimpolizei. In diesem sind alle zentralen Motive des Antisemitismus: das Aushecken von Verschwörungen, Korruption, Entfesselung von Kriegen, Krisen, Seuchen mit dem Ziel des Erreichens der Weltherrschaft versammelt. Der Tatbestand der Fälschung war den antisemitischen Fanatikern allerdings stets herzlich egal. Schließlich erhofft sich ein Antisemit mit der Diffamierung, Vertreibung oder Ermordung der Juden die Erlösung von seinen Problemen, für die er die Juden wieder und wieder verantwortlich zeichnet. Aufgrund dieser Motivation gehört der Antisemitismus nicht gleichgesetzt mit Fällen, in denen eine Bevölkerungsmehrheit eine Minderheit drangsaliert. Seine Besonderheit besteht im Inhalt des Gedachten, in der Tatsache, dass die Juden von den Antisemiten für ein Weltübel gehalten werden, von dem die Menschheit zu befreien wäre.

III

Häufig wird der Antisemitismus auch als Exempel für Sündenbockmechanismen heranzitiert. Die Menschen würden unter bestimmten Problemen leiden, etwa unter Arbeitslosigkeit und sozialer Verunsicherung oder unter gesellschaftlichen Katastrophen wie Kriegen und Wirtschaftskrisen. Dafür suchten sie dann Schuldige. Die Juden wurden tatsächlich mit den zerstörerischen und zersetzenden Seiten der Moderne in Verbindung gebracht. Für den Zerfall der Dorfgemeinschaften, der Familien, der Kleinindustrie, des Handwerks und der Landwirtschaft mussten sie herhalten. Aber auch in dieser Erklärung gehen der ganze Inhalt der antisemitischen Unterstellungen und die Struktur dieses Weltbildes nicht auf.
In eine ähnliche Rubrik gehören auch typische marxistische Vorstellungen vom Antisemitismus: Für August Bebel war er etwa der „Sozialismus der dummen Kerls“. Für ihn ist er eine Ersatzhandlung für den Klassenkampf oder eine Ablenkung davon. Eigentlich meinten die Antisemiten doch die Kapitalisten, wenn sie „vom Juden“ und seinen Ausbeutungs- und Machtgelüsten reden. Ihre Wut wäre also prinzipiell gerechtfertigt, nur der Adressat wäre rein zufällig eben leider der Falsche. Mehr noch: die kapitalistische Klasse würde sogar gezielt von sich als wirklichen Schuldigen ablenken und die Wut der Massen in andere, für sie ungefährliche oder sogar nützliche Bahnen lenken.
Dabei war die vermutete Verknüpfung von „Kapitalist“ und „Jude“ an sich gar nicht so falsch, nur in einem ganz anderen Sinne: Häufig war es nämlich umgekehrt: wenn man „Jude“ sagte, meinte man nicht „Kapitalist“, sondern viele, die auf „Kapitalisten“ schimpften, meinten häufig genug Juden. Gerade die Vorstellung vom persönlich nach Macht und Geld versessenen, damit moralisch bösen Kapitalisten muss selbst bereits als ein antisemitischer Topos verstanden werden. Die Zuschreibung von Macht, Reichtum, Leben in Luxus und Exzessen, der Neigung zur Verschwörung wird sowohl auf Juden als auch auf Kapitalisten angewandt. Den Hass auf Mächtige, Reiche, angebliche „Blutsauger“, verbunden mit der Neigung, die Welt als große Verschwörung einiger Weniger wahrzunehmen, bezeichnet man daher als strukturellen Antisemitismus. Entwirft man ein derartig verfasstes Weltbild, so müssen die Juden als Schuldige überhaupt nicht mehr ausdrücklich benannt werden. Gesellschaftliche Katastrophen werden ihnen dann automatisch angelastet. Es genügen Hinweise – und alle wissen Bescheid.
Gegenüber Sündenbocktheorien aller Art ist auf der Besonderheit des Antisemitismus zu bestehen: er verbindet die Juden mit Macht, Reichtum, Luxus, Exzessen und wertet diese Verhaltens- bzw. Lebensweisen ab – häufig übrigens als angeblich „unnatürlich“, „verkünstelt“, „dekadent“, also „entartet“: Dabei wird eine jüdische Weltverschwörung halluziniert, welche alle anderen Menschen aussaugen würde, die Weltherrschaft erstrebe und um dieses Ziel zu erreichen, die Menschheit in Weltkriegen und Wirtschaftskrisen, mit Krankheiten oder Verbreitung von Korruption, Unmoral und Unsittlichkeit auszehre. Der Antisemitismus ist somit kein schlichter Sündenbockmechanismus, bei welchem etwas an sich Bedrohliches auf die Juden geschoben werden würde. Vielmehr muss erklärt werden, warum sich Antisemiten überhaupt einer alles zersetzenden Verschwörung ausgeliefert wähnen.

IV

Der Antisemitismus darf also weder mit herkömmlichen Vorurteilen, noch mit beliebiger Diskriminierung von Minderheiten und auch nicht mit diversen Sündenbockmechanismen in einen Topf geworfen werden. Der antisemitische Hass auf Juden ist nicht einfach ein Vorurteil unter anderen. Auch spielen die spezifischen Unterstellungen – der Weltherrschaft, des Zersetzens, des Aussaugens – dabei nicht die ihnen gebührende Rolle. Es wird des Weiteren nicht beachtet, dass der Antisemitismus in seiner zugespitzten Form alle Juden ermorden will und alles ausmerzen will, was ihm jüdisch vorkommt. All das lässt sich nicht unter der Rubrik Vorurteil, Diskriminierung oder Sündenbockmechanismus erfassen.
Aber auch mit Judenhass schlechthin darf der Antisemitismus nicht gleichgesetzt werden. Es sind erst ganz bestimmte Vorstellungen und Ziele, die den Judenhass zum Antisemitismus machen. Zwar sprechen viele Historiker von einem „mittelalterlichen“, „antiken“, „modernen“ oder gar „ewigen“ Antisemitismus. Aber der Antisemitismus als politische Bewegung, die in den Juden das Gegenprinzip zum eigenen, etwa zum „europäischen“ bzw. Wesen sieht, ist etwas historisch recht Neues. Diesen Fakt kann man sich wirklich nicht deutlich genug klar machen, wenn man verstehen will, worum es sich beim Antisemitismus überhaupt handelt. Das typisch Neue an dieser Bewegung und ihrer Denkweise war, dass sich ihre Abneigung gegen die Juden nicht an ihre Religion, sondern an ihre angeblichen Rasse, an so nebulöse Dinge wie ihr Blut oder ihren Charakter heftete: Die Juden gelten den Antisemiten als böse und durchtrieben; sie würden angeblich eine Weltverschwörung zwecks Zerstörung der so genannten „europäischen Kultur“ in die Wege leiten. „Der Jude“ sei also nicht nur intellektuell, psychisch, kulturell und moralisch ein völlig anderer Mensch als der „Arier“. Vielmehr würden die angeblich wesentlich produktiven, schaffenden, schöpferischen, mit Boden und Heimat verwurzelten Europäer permanent von den angeblich unproduktiven, raffenden, vergeistigten und umherschweifenden Juden ausgesaugt. Die Geschichte wird aus einem ewigen Kampf des Bösen gegen das Gute erklärt. Die Juden sind dabei die Schlechten und die mit ihrer Heimat verwurzelten Völker das Gute an sich. Alles, was als „un-arisch“ galt, „raffgieriger Kapitalismus“, Kosmopolitismus (also eine weltbürgerliche Denk- und Lebensweise, die kein Vaterland braucht), Kommunismus und Sozialismus, sexuelle Freizügigkeit, Philosophie, Psychoanalyse und die bürgerliche Emanzipation der Frau sind dieser „Weltanschauung“ als jüdisch verhasst. Diese Denkweise ist antisemitisch und unterscheidet sich vom sporadischen, rein religiös motivierten Judenhass des Mittelalters erheblich. Wir können das oben gesagte somit präzisieren: Hinter dem Hass auf Reichtum, Luxus und Macht und ihre Verbindung mit den Juden steht ein Weltbild, in welchem die Juden als raffend, umherschweifend und die anderen Völker als schaffend und Boden verbunden angesehen werden. Der Antisemitismus erachtet den Kampf gegen Juden daher oft als Notwendigkeit oder als seine Pflicht. Diese wäre ihm von der Natur aufgetragen worden. Auch Hitler meinte, er habe gar nichts gegen Juden. Es sei ihm vielmehr von der Natur aufgetragen worden, die Zerstörung des deutschen Volkes durch die Juden zu verhindern und zum „Sieg der arischen Rasse“ beizutragen.
Die alte Judenfeindschaft brachte es zu hasserfüllten aber sporadischen Pogromen und entwickelte auch damals schon durchgängig Bilder der Abwehr, der Abneigung und des Hasses gegen Juden, die über Jahrhunderte stabil blieben. Der Antisemitismus ist aber ein geschlossenes, systematisches Weltbild, in welchem die Juden das Gegenprinzip schlechthin darstellen. Gegen das angeblich Jüdische wird die bedingungslose Unterwerfung unter die Gemeinschaft, das Volk oder die Natur gestellt.

V

Man könnte vielleicht von Antisemitismus sprechen, wenn eine jüdische Gegenrasse behauptet wird. Aber auch Rassismus und Antisemitismus sind keineswegs identisch. Zweifellos unterschied sich der Antisemitismus unter anderem dadurch vom alten Judenhass, dass er zunächst rassistisch argumentierte: Die Juden waren ihm nicht mehr die feindliche Religionsgemeinschaft, sondern die feindliche Rasse: an die Stelle spontaner Pogrome rückten eugenische Züchtungsvisionen, die schließlich in wahnhaften und sich dennoch realisierenden Vernichtungsprogrammen gipfelten. Auch wenn der Vernichtungs-Antisemitismus der so genannten „deutschen Volksgemeinschaft“ kein logisches Folgeprodukt dieser Strömungen war, so zehrte er doch maßgeblich von deren Geiste. Die Nazis und ihre „willigen Vollstrecker“ unterschieden nach „Rassenmerkmalen“, „Stammbäumen“ und „Ariernachweisen“. Nach 1945 wurde der Nationalsozialismus dann auch von der UN als rassistisch bezeichnet und eine Zeit lang galten Begriffe wie Antisemitismus, Rassismus und Nationalsozialismus als Synonyme.
Dennoch darf der Antisemitismus nicht mit dem Rassismus identisch gesetzt werden. Die jeweils typischen Zuweisungen an die Opfer unterscheiden sich erheblich, ja sie sind geradezu gegensätzlich. Der klassische Rassismus, der so genannte koloniale Rassismus, ist als Legitimationsideologie der europäischen Kolonisation Amerikas, Afrikas und Asiens, der Ausplünderung der nicht-europäischen Ländereien, der Versklavung der dort lebenden Menschen entstanden. Er betrachtete seine Opfer als minderwertig. Beispielsweise Afrikaner, als „Neger“ beschimpft, galten als so eine Art Mensch-Tier-Zwischenwesen; die europäischen Kolonisatoren erachteten sie als besonders geeignet für manuelle Tätigkeiten; sie könnten aber nicht moralisch denken und fühlen. Sie wären nicht in der Lage, sich ihres Verstandes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen. Und das soll ja gerade zu das Wesensmerkmal des modernen, aufgeklärten Menschen schlechthin sein. Jene Angehörigen fremder Rassen benötigten also die Herrschaft des weißen Mannes. Würden sie nicht ständig gezüchtigt, so brächen die rohe und ungehobelte Natur, ihre wilden Triebe und ungebändigten Instinkte aus ihnen heraus. So könnten diese Menschen es gewissermaßen als einen großen Glücksfall betrachten, von den Europäern versklavt worden zu sein. Sie wären quasi von der Natur dazu bestimmt gewesen, da sie von ihr mit nur gering entwickelten geistigen Anlagen und dafür mit immenser körperlicher Kraft ausgestattet worden wären.
Juden gelten den Antisemiten hingegen nicht als Natur nah, sondern im Gegenteil: als besonders Natur fern, besonders schwächlich, „ausgetrocknet“, kraftlos, vergeistigt aber mit enormen intellektuellen Fähigkeiten ausgestattet. Des Juden Wesen sei es, feige und hinterlistig andere zu hintergehen. Aufgrund seines umherschweifenden, ungebundenen und wurzellosen Charakters verschwöre er sich gegen sie, um sie dann auszusaugen; Juden würden andere Völker ausplündern und zerstören, da sie selbst nicht schöpferisch wären, sie also nichts hervorbringen könnten. Sie müssten daher energisch bekämpft werden. Schlimmer noch: man hätte vor ihnen überhaupt erst Ruhe, wenn man sie aus der Welt geschafft hätte.
Der Antisemitismus kann sich damit vom Rassismus lösen und ein eigenständiges Ideologiesyndrom bilden. In dessen Zentrum steht der Wahn von einer allgemeinen Verschwörung einiger weniger mächtiger und reicher Personen, die die Geschicke der Welt lenken, alles untergraben und zerstören, damit sie selbst ein abgehobenes Leben in Saus und Braus führen könnten. Gegen dieses verkünstelte und luxurierende, andere angeblich aussaugende und zerstörende Leben dieser Wenigen wird ein scheinbar unverkünsteltes und natürliches Leben gestellt, welches zum angestrebten Ideal überhöht wird.

VI

Nach Auschwitz entstand ein völlig neuer Antisemitismus. Nicht nur in Deutschland äußerte er sich jetzt oft verklausuliert. Das Syndrom Antisemitismus zerfiel in einzelne Momente, die vorerst nicht miteinander kommunizierten, sich sogar heftig befehdeten: Linke und Liberale tendierten zu Schimpanse beim Mahl, 17.9k Israelhass und Antiamerikanismus. Unter Rechten und Konservativen verbreiteten sich Antikommunismus und Antiintellektualismus, teilweise auch Leugnung und Relativierung der Shoah. Einen offenen Bezug auf Juden gab es dabei oft überhaupt nicht mehr. Vielmehr wurde das, was man vorher den Juden zugeschoben hatte, jetzt anderen Personengruppen angeheftet: statt gegen die angebliche jüdische Weltherrschaft kämpfte man gegen die amerikanische, die nun ebenfalls angeblich ursprüngliche Kulturen zerstöre. Während sich viele Linke mit den Juden als Naziopfer solidarisierten, relativierten sie gleichzeitig die nationalsozialistischen Verbrechen durch ihre Gleichsetzung mit Aktionen der israelischen Armee. Auf der anderen Seite redeten jetzt Konservative von gesellschaftszersetzenden Intellektuellen oder beschwörten die Gefahr einer bolschewistischen Weltherrschaft, so wie sie zuvor von drohender Zersetzung durch den jüdischen Geist und von der Gefahr einer jüdischen Weltherrschaft gesprochen hatten.
Vor einem knappen Jahr führten einige Historiker und Politologen Debatten über eine eventuelle Änderung dieses Trends. Sie diskutierten die Frage, ob es einen „neuen Antisemitismus“ gäbe und attestierten steigende antisemitische Einstellungen, verbunden mit zunehmender Militanz. Es werden wieder verstärkt und erstmals über kleine Milieus hinaus Stimmungen laut, in welchen die bestehende Gesellschaftsordnung als Verschwörung verborgener Mächte, geführt von Juden, betrachtet wird. Stichworte wie „gewisse Kreise an der Ostküste“ bzw. „an der Wallstreet“ werden dabei als antisemitische Klischees aufgegriffen. Eine besondere Stellung nimmt dabei der Staat Israel ein, welcher zum Juden unter den Staaten avanciert. Bisweilen gelten selbst die USA als von israelischen Interessen geleitet.
Aus diesen ideologischen Gemengegelagen ergibt sich unter Umständen eine gefährliche Schnittmenge zwischen Linken, Rechten und auch Muslimen. So könnten die Ideologiefragmente, in die der Antisemitismus nach 1945 zerriss, jetzt wieder in Kommunikation miteinander treten. Transportiert und beschleunigt werden könnte dies mit einer Angst vor den Zumutungen weiterer Modernisierung und Globalisierung. Der Politologe Daniel Joah Goldhagen, bekannt geworden durch sein Buch „Hitlers willige Vollstrecker“ spricht in diesem Zusammenhang von einer neuen Symbolik des Antisemitismus. An die Stelle des Shakespeareschen Wucherers Shylock, lange Zeit Sinnbild für den reichen und allmächtigen Juden, tritt ein israelischer Rambo, der nichts im Sinn hätte, als arabische Palästinenser zu vertreiben und ihre Kinder zu ermorden. Der neue Antisemitismus löse sich von seinen ursprünglichen christlichen Quellen, vom Nationsbildungsprozess in den europäischen Staaten, vom Hass auf die Moderne und auch vom Rassismus sowie von sozialdarwinistischen Ideen völlig ab. Er drang in die Basis globaler Vorurteile ein, ist frei schwebend, hat sich an vielen Orten und Punkten festgemacht, träte in vielen Variationen und Subkulturen auf, ist dabei „gnadenlos internationalistisch“ und „für alle anziehend, welche die USA und die Globalisierung nicht mögen“. Es handelt sich beim neuen Antisemitismus um eine Verschwörungstheorie, welche alle Geschehnisse in der Gesellschaft auf die Machenschaften einiger weniger Reicher und Mächtiger, einiger „Global Players“ zurückführt. Die vielen Staaten und Nationen seien im Prinzip nur noch Marionetten einer internationalen Managerkaste.
Allerdings ist eine Kritik an der US-Politik oder der Globalisierung natürlich nicht per se antisemitisch, sondern im Gegenteil: sie ist dringend geboten. Allerdings müsste sie einen völlig anderen Weg einschlagen. Fakt ist, dass sich dieser Protest mit antisemitischen Motiven aufgeladen hat, dass somit die gegenwärtigen und drohenden gesellschaftlichen Katastrophen der Globalisierung des Kapitals vor einem tendenziell antisemitischen Raster interpretiert werden. Nicht mehr nur die zerstörerischen Seiten des Kapitalismus, sondern seine gesamte katastrophische Tendenz, die heute offenkundig wird, wird einem jüdischen Prinzip untergeschoben. Damit braut sich das Potential für weitere Katastrophen zusammen. Werden für die zunehmenden Bedrohungen und Verheerungen der Globalisierung einzelne bestimmte Personen verantwortlich erklärt, dann kann sich das in mörderischen Exzessen entladen, die sich auch immer wieder neu anstacheln könnten, sofern ihr gesellschaftlicher Grund unangetastet bliebe.
Der Antisemitismus hat sich vom Rassismus weitgehend gelöst. Er muss als besonderes ideologisches Syndrom mit eigenem Gefahrengehalt betrachtet werden. Von der Behauptung einer jüdischen Gegenrasse ist er inzwischen bei einem jüdischen Gegenprinzip schlechthin angekommen und hat sich dabei völlig von einer biologisch-rassistischen und sozial-darwinistischen Argumentation gelöst. Im Prinzip kennt der Antisemitismus von heute nur noch unterdrückte Völker, die eigentlich nur ehrlich schaffen und arbeiten wollen. An die Stelle der einst rassistisch-biologisch bestimmten arischen Völker treten jetzt alle Völker schlechthin. Auf der anderen Seite stünde eine globale Managerkaste, die sich im Luxus suhle und die im Interesse Israels, der Juden oder auch der USA gegen die natürlichen, schlichten und einfachen Völkerschaften agiere und diese von innen quasi zerrütten würde, um sie dann besser aussaugen zu können.

VII

Ich habe an zahlreichen Stellen verdeutlicht, was der Antisemitismus nicht ist. Er ist kein Vorurteil, kein Sonderfall der Diskriminierung von Minderheiten und keine Sündenbockstrategie. Ebenso ist er vom Judenhass schlechthin deutlich zu unterscheiden und Antisemitismus ist auch mehr als ein besonderer Rassismus. Zwar weist er mit diesen Diskriminierungsformen durchaus Gemeinsamkeiten auf, geht aber in ihnen nicht auf. Er ist kein bloßes Vorurteil, weil er ein bestimmtes Weltbild umfaßt. Ihn kennzeichnet eine manichäische Denkweise, in der die Juden die Rolle des Bösen, die Rolle der Kinder der Finsternis spielen. Die jeweiligen antisemitischen Unterstellungen haben nichts mit Juden zu tun aber dafür viel mit den Antisemiten selbst. Daher handelt es sich also durchaus auch um Vorurteile. Aber deshalb ist der Antisemitismus nicht selbst ein solches. Aufgrund dieses Weltbildes wurden die Juden weltweit verdächtigt, wurden sie im zweiten Weltkrieg bis in die letzten Winkel von ihren antisemitischen Peinigern verfolgt. Dies ist nicht mit den unliebsamen Umgangsweisen mit einer Minderheit vergleichbar. Vielmehr wollen sich die Antisemiten in den Juden vom Weltübel schlechthin befreien und setzen einer angeblich jüdischen Welt ihre Schreckensvision von einer Gemeinschaft entgegen, die frei von allem wäre, was ihnen als jüdisch erscheint.
Gerade die Eigenschaften, die den Antisemitismus an einen Sündenbockmechanismus erinnern lassen, weisen über eine solche Erklärungsweise gerade hinaus. Sündenböcke wären die Juden nicht für einzelne Personen und auch nicht für eine gesellschaftliche Klasse, sondern vielmehr für die destruktiven Eigenschaften der Warengesellschaft. Was diese an Zerstörungs- und Krisenpotential hervor treibt, wird vom gesellschaftlichen Alltagsverstand und dessen theoretischen Abkömmlingen den Juden angelastet und in ein antisemitisches Denkmodell eingebunden. Gesellschaftliche Katastrophen werden dann als Folge einer jüdischen Verschwörung erklärt. Die Juden avancieren in diesem Weltbild zum feindlichen Gegenprinzip schlechthin. Daher werden im Antisemitismus nicht bloß die Juden gehasst, sondern alles, was irgendwie jüdisch anmutet, alles, was ihm als schwach, dekadent, verkünstelt erscheint. Sein Wesenszug besteht eben in der Konstruktion eines polaren Weltbildes, in welchem die eine Seite als abgrundtief verabscheuenswert angesehen wird.
Eine klare Definition des Antisemitismus bin ich hier wohlweislich schuldig geblieben. Die Definition ist eine Form der Unterordnung dessen, was man zu erfassen trachtet, unter einen klaren und abgedichteten Begriff. Sie besteht darin, da knallhart zu sagen, dies und das ist eben genau dies und das und nicht jenes. Eine solche Vorgehensweise wird gesellschaftlichen Sachverhalten nicht gerecht. Diese sind keine festen Erscheinungen, die sich klar definieren ließen, sondern Resultate eines nicht mehr sichtbaren Prozesses; man sieht gesellschaftlichen Sachverhalten ihre Gewordenheit nicht an, hält sie daher für ewig und unwandelbar. Sie sind Ergebnisse widersprüchlicher Tendenzen. Klare und feste Definitionen verewigen gerade den gesellschaftlichen Zwang, da sie die Gewordenheit des Resultats nicht aufdecken sondern nochmals zementieren.
Der Antisemitismus ist nun gerade eine Revolte gegen dieses „alles einem Begriff unterwerfen“; allerdings keine fehlgeleitete und irgendwie zu kurz greifende, sondern eine, die das Einzelne eigentlich unter dem Mantel der Natürlichkeit und Ursprünglichkeit einem noch viel krasseren und vor allem direkten Zugriff aussetzen will. Der Einzelne, der in diesem Denken falschen Halt sucht, wird letztendlich gerade um diesen gebracht und eben doch ein ums andere Mal betrogen, was freilich seinen Hass und seine Tendenz zu antisemitischen Schreckenskonzepten und deren Umsetzung nur noch mehr anstachelt. Im schlimmsten Fall werden seine Horrorvisionen erfüllt. Allerdings lösen sich damit nicht die Probleme, die den Antisemiten zu seinem Hass anstacheln. Im Namen des Einfachen und Natürlichen wird unter der Ägide des Antisemitismus gerade noch mal die Herrschaft des Begriffes und des Abstrakten durchgepeitscht. Allerdings im nunmehr ursprünglichen und natürlichen, also unhinterfragt entgegenzunehmenden Gewande. Der Antisemitismus votiert gerade fürs angeblich Begriffslose, Natürliche, Konkrete, Unmittelbare, Nicht-Intellektuelle, Unverkünstelte, Gefühlvolle und Boden verhaftete. Dabei agiert er gegen das, was er für „jüdisch“ hält, also gegen den Begriff, das Abstrakte, Vergeistigte, Gekünstelte, Weltbürgerliche, Intellektuelle. Er greift damit genau die Bedrohung auf, welche von der Moderne fürs einzelne Individuum ausgeht. Aber er will den Druck nicht mildern, sondern ihn vielmehr durch einen direkten und unvermittelten ersetzen. Man könnte ihn als Revolte der Natürlichkeit gegen das abstrakte Denken und die abstrakte Gesellschaft bezeichnen, in der in den Augen der Natürlichkeitsapostel alles Heilige zur Ware wird und nur um des Profits willen geschieht, in der nichts zählt als die eiskalte Kalkulation des Gewinnens. Dieser wird nun im Antisemitismus ein ganz spezielles Bild von Natürlichkeit positiv entgegengestellt. Es läuft auf eine bedingungs- und kritiklose Unterwerfung unters angeblich Konkrete, also unter Natur, Volk, Tradition, Familie etc. hinaus. Auf den Punkt gebracht: die Juden stehen fürs Abstrakte einer Gesellschaft, die sich über die Produktion und den Austausch von Waren, also marxisch gesprochen: über den Wert vermittelt. Dies macht nun in einem strengen Sinne die Besonderheit des Antisemitismus aus. Die Gesellschaft darf dabei aber nicht homogen aus diesem Wert als einheitlichem, ungebrochenem Prinzip einfach abgeleitet werden. Dabei verlöre man aus den Augen, dass die Juden eben auch als einzelne Menschen, auch und gerade aus handgreiflichem Hass oder aus eisiger Überzeugung umgebracht wurden. Man muss mit im Blick haben, dass der Hass sich in einzelnen Menschen niederschlug und an einzelnen verübt wurde. Eine diesen Umstand nicht bedenkende Theorie des Antisemitismus fällt letztlich auf eine etwas erweiterte Sündenbocktheorie zurück und endet in seiner Verharmlosung.
Eine Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus muss diese Problematik grundsätzlich angehen. Er ist auf seinen gesellschaftlichen Begriff zu bringen. Man muss sich ihm begrifflich annähern, aber er darf dabei nicht eingeebnet werden, da die Kritik ihn sonst nicht träfe. Gerade angesichts des unvorstellbaren Grauens von Auschwitz kann man nicht einfach lapidar sagen, worum es sich dabei handelte. Dies würde von einer Kälte zeugen, die dieses Grauen überhaupt erst ermöglichte und es damit erneut entschuldigen und verharmlosen. Das erfasst geglaubte zergeht einem quasi unter den Händen, wenn der Begriff gewissermaßen „zuschnappt“. Allerdings würde ein Verzicht aufs begriffliche Denken gleichfalls dazu führen, den Antisemitismus keiner Kritik mehr aussetzen zu können. Dies käme einer Auslieferung und Kapitulation vor ihm gleich. Zwar konnte ich hier nicht eindeutig klären, was der Antisemitismus überhaupt ist. Allerdings vermochte ich vielleicht Vorsicht und Wachsamkeit zu vermitteln gegenüber Versuchen, ihn vorschnell unterzuordnen und damit gebannt zu glauben, indem man ihn einem gängigen Vorurteil, einer normalen Sündenbockstrategie oder einem Rassismus unter anderen gleichsetzt. Das hier von mir entfaltete Bestreben versucht, dem Antisemitismus in seinen Motiven näher zu kommen und die mit ihm verbundenen Denkmodelle in Frage zu stellen.

Martin D.
Schimpansen-Gesellschaft, 35.7k



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last modified: 28.3.2007