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Gräber als Ersatz.


Adolf Diamant "Geschändete jüdische Friedhöfe in Deutschland 1945 bis 1999", Verlag für Berlin-Brandenburg, Potsdam: 2000
Oft lagen sie miteinander im Streit, der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland Heinz Galinski und das Vorstandsmitglied Ignatz Bubis. Galinski sei immer rückwärtsblickend, während er, Bubis, aber über die Zukunft sprechen wolle, über eine Zukunft für Juden in Deutschland. Jahre später, Galinskis Platz hatte nach seinem Tod der ehemalige Kontrahent eingenommen, erklärt der, er habe fast nichts erreicht. So sagte Ignatz Bubis, der Überlebende von Auschwitz: "Heute bin ich Galinski näher, auch was das Verbittertsein betrifft."
Als er kurz darauf stirbt, sind sich führende Vertreter der jüdischen Gemeinschaft einige: Ja, es sei pessimistisch, aber die Worte sollten nicht überbewertet werden, sondern für jüdisches Leben in Deutschland interpretiert werden. Auch Paul Spiegel, der Nachfolger Bubis' im Amt, sprach so. Doch nur knapp ein Jahr später, Anfang Oktober diesen Jahres, stellte er in ungewöhnlicher Direktheit einen perspektivischen Verbleib von Juden in Deutschland in Frage. Auch wenn er die Fragestellung später relativierte, war ihm doch das Entsetzen über die antisemitischen Anschläge der letzten Wochen anzumerken. Der letzte in der Nacht zum 10. Jahrestag der deutschen Einheit. Und der gastgebende Ministerpräsident hielt dies nicht der Erwähnung wert...
Auch das Ende August 2000 erschienene Buch Adolf Diamants "Geschändete jüdische Friedhöfe in Deutschland 1945 bis 1999" ist nicht angetan, eine positive Bilanz für die Zeit seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges bis heute zu ziehen. Über 1000 Friedhofsschändungen gab es seither.
Im Sinne von Adorno/Horkheimer ist ja die Schändung eines jüdischen Friedhofs kein Auswuchs des Antisemitismus, es ist der Antisemitismus selbst. So wie es keiner Juden zur Begründung des Hasses auf sie bedarf, dessen primitive Form kann durch deren Anwesenheit sogar gestört werden, da sich hier das Vorurteil am konkreten Subjekt messen müsste. Sollte die Schändung eines Grabes nicht der reine Antisemitismus sein, so wäre die Schändung des Grabes von Bertolt Brecht mit der Aufschrift "Saujud" vor einem Jahrzehnt ebenfalls keiner, da der Dichter aus keiner jüdischen Familie kam. Im Gegensatz zu seiner Frau Helene Weigel, deren daneben liegendes Grab die Täter aber nicht beachteten.
Im Gegensatz zu Adorno/Horkheimer sieht das Bundesinnenministerium in beschädigten Gräber nicht selbstverständlich einen Beleg für Antisemitismus, weshalb die zu Dreiviertel unaufgeklärten Fälle keinen Eingang in die Statistik finden. Diese unterschiedlichen Grundverständnisse sind aber nur ein Grund für die unvollständige Datenbasis. Während in den Nachkriegsjahren kaum Auflistungen geführt wurden, werden viele Übergriffe umgehend beseitigt, um Aufsehen zu vermeiden, und nicht angezeigt. Was das Gebiet der SBZ/DDR anbelangt, gehen die Zahlen gleichfalls weit auseinander. Für die 200 jüdischen Friedhöfe, im Westen 1300, geht Helmut Eschwege bis 1990 von etwa 100, Lothar Mertens von 26 Schändungen aus.
Deutlich ist die Statistik, was die Entwicklung angeht. Ab den 50er Jahren stieg die Durchschnittszahl der Schändungen pro Jahrzehnt von 9,2, über 11,4, 19,1 auf 16,7 bis Ende 1989 an. Der Durchschnitt der 90er Jahre lag dann bei 40,2 antisemitischen Straftaten pro Jahr.
Die jüdischen Friedhöfe, schreibt Julius H. Schoeps, "scheinen besonders für Täter aus der rechtsradikalen Szene magische Anziehungskraft, eine Art Fetischcharakter zu besitzen. Da in der Bundesrepublik kaum noch Juden leben, gegen die man handgreiflich werden könnte, tobt man sich an den Steinen aus – quasi als 'Judenersatz'." Für diese Auffassung spricht, dass es gerade zu Ostern und um den 9./10. November zu vermehrten Aktivitäten kommt.
So unvollständig das vorgelegte Material zwangsläufig sein muss, ergeben sich für weiterführende Arbeiten eine Reihe von Fragestellungen. So nach den sozialen Daten der Täter, wie Alter, Bildungsgrad und Geschlecht. Was sind die konkreten Anlässe, nachweisbar etwa nach der Ausstrahlung der Serie "Holocaust" oder der "Hitlerwelle" in den 70er Jahren, auf welche sich die Schändungen häufen. Gibt es in diesen Zeiten Parallelen zum Anstieg anderer antisemitischer Straftaten. Wie korrespondiert dieser Antisemitismus mit der generellen Abneigung gegen das Andere, das Fremde, dem Rassismus. Wo liegen die Gründe für das massive Ansteigen der Übergriffe seit Beginn der 90er Jahre, was sind die Stabilisatoren dieses quantitativ hohen Niveaus. Und: Welchen Einfluss haben Sprachregelungen gesellschaftlicher Repräsentanten, wie im Jugoslawien-Krieg, als Teile von Gegnern und Befürwortern "Auschwitz" sagten, wenn sie die Zustände auf dem Balkan meinten.
Die Daten sind erschreckend. Erschreckend aber ist auch, was sie nicht enthalten. Kein jüdisches Altenheim, kein Kindergarten, die ohne Umzäunung und ausgeklügeltes Sicherheitssystem auskämen. Personenschutz nicht nur für Repräsentanten der Gemeinde. Anonyme – allerdings längst nicht mehr ausschließlich – Bedrohung per Post oder Telefon.
Es geht nicht darum, ob man es will, dass Juden in Deutschland leben, worum es geht, ist der Angriff auf die Würde von Menschen, der nicht zugelassen werden darf. Religion ist eine Frage der eigenen Entscheidung, Klezmer ist eine Frage des Geschmacks – hier geht es aber um das elementarste Menschenrecht und das ist nicht verhandelbar. Und das man diese Banalität so ausdrücklich sagen muss, zeigt das ganze Elend der gegenwärtigen Situation.

Gunnar Schubert


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last modified: 28.3.2007