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Die jungen Männer, die anders sind: Interview mit Tocotronic.


Mittwoch, der 30.10.2002, 20.15 Uhr. Vor mir sitzen die drei jungen Männer, die mich mit ihren alltagsgebundenen, melancholischen und nachdenklichen Texten über die Pubertät getragen haben. Jetzt bin ich raus aus meiner Pubertät und darf Fragen stellen. Toll. Ladies und Gentleman, exklusiv und erstmals im Conne Island Newsflyer: Ein Interview mit Tocotronic. Bitte schön.

Tocotronic, 18.0k Flo: Ja. Ihr habt nach dreijähriger Abstinenz euer 6. Album veröffentlicht. Meiner Meinung nach habt ihr damit an die vorherige Platte angeknüpft, was Text und auch die musikalische Form betrifft. So erscheint es mir, dass eure Texte abstrakter geworden sind, nicht mehr so fassbar. Vielleicht könnt ihr dazu was sagen?

Dirk: Also textlich gab es erst mal den Wunsch, wegzugehen von diesen sehr alltagsgebundenen Dingen und so. Weil man das einfach schon gemacht und weil es sehr unbefriedigend gewesen wäre, wenn man das noch einmal gemacht hätte. Man interessiert sich mit der Zeit auch für andere Facetten des Lebens. Wir wollten nicht so dienstleisterisch wirken, also dass man versucht, das zu schreiben, was das Publikum hören will. ... ja mit dem Sound ist das eigentlich ganz ähnlich gewesen.

Jan: Man ist ja auch immer in der Situation, dass man im Nachhinein Sachen erklären muss, die einfach in einem Prozess entstehen und wofür man dann manchmal gar keine Erklärung für hat.

Arne: Wir sind dann auch ohne große Konzepte ins Studio gegangen und haben dort viel ausprobiert.

Flo: Wie ist das mit Tobias Levin? Der ist jetzt euer neuer Produzent und Keyboarder, oder wie?

Jan: Nee, wir haben das schon nachgelesen im CEE IEH, das ist also falsch recherchiert. Der ist neuer Produzent und hat auf dem Album Keyboard und auch Gitarren eingespielt... für Konzerte ist unser neuer Keyboarder Rick Mc.Fail. ... der hat bei uns früher mal T-Shirts verkauft... ist jetzt also karrieremäßig aufgestiegen.

Flo: Was mich persönlich interessiert ist, wie die Texte bei euch entstehen. Also früher eben sehr alltagsgebunden und bei der neuen Scheibe kommen sie mir sehr abstrakt vor.

Dirk: Mmh, also abstrakt würde ich nicht sagen, weil ich mir unter abstrakt eher etwas mondrianhaftes vorstelle, etwas sehr Kantiges und Eckiges. Aber vielleicht sehe ich das jetzt zu sehr in diesem Kunstzusammenhang?
Wenn, dann sind die Texte eher beeinflusst von so Schreibweisen, wie man sie im Surrealismus kennt. Das war jetzt auch keine Bastelarbeit, dass man so Sachen ausschneidet und wieder neu zusammen fügt, wichtig war bei der neuen Sache eher so der Schreibfluss... z.B. Hi Freaks, wo es um so ne Wortmelodie oder Alliteration geht.

Flo: Nach sechs Alben, die sich, ich sag mal, alle gut verkauft haben, seid ihr jetzt mehr Rockstars und zählt das was für euch?

Arne: Na ja, dadurch, dass man mehr im Studio ist und sich in so ein Isolationswissen begibt, fühlt man sich mehr wie jeder andere, der früh zur Arbeit geht und abends wieder nach Hause kommt.

Jan: und also Rockstar? Ich glaube, dass wir hier in Zusammenhängen leben, in denen das nicht möglich ist, Rockstar zu sein.

Flo: Ihr spielt an verschiedenen Orten, mit den verschiedensten Lokalitäten. Wie seht ihr das Conne Island?

Jan: Das ist schon ein besonderer Ort, weil das Conne Island einfach auch so einen gewissen politischen Background hat und auch in solchen Zusammenhängen entstanden ist.

Dirk: Es gibt auch immer die Bemühungen, solche Auftrittsorte zu finden, was nicht leicht ist. Es gibt halt wenig.

Jan: Ja, das ist schwierig, in Hamburg gibt es noch die rote Flora... es ist auch wichtig, solche Orte weiterhin zu unterstützen, da so etwas ja immer irgendwie bedroht ist.

Flo: Thema politisches Engagement: ihr seit auf so einem Sampler, der ausschließlich für deutsche Acts da ist. Wieso?

Jan: Das ist schon mal falsch. Z. B sind Goldenboy und Miss Kittin auch vertreten.

Arne: Das ist, find ich, ein ziemliches Konstrukt. Dieser „neue Heimat“-Begriff steht hier wohl eher für ein „neue deutsche Welle Revival“.

Jan: Aber trotzdem, die Kritik ist nicht ganz ungerechtfertigt. Es war ja schon immer umstritten. Man kann das so sehen, aber ich weiß nicht, ob man da immer gleich so einen Nationalismusvorwurf draus machen kann.

Dirk. Es ging da wohl eher um so einen gemeinsamen Nenner der Musik, also halt flächig und elektronisch. Wir sind da auch immer sehr aufmerksam, wenn wir so etwas raussuchen.

Jan: Mir ist das auf gut deutsch auch scheissegal. Man hat sich genug Stress damit gemacht und... na ja, die Sache mit dem Vivapreis kennt auch jeder, also ich denke, dass der Name vielleicht eher unglücklich gewählt wurde. Ich meine, wir haben da schon oft eindeutige Statements abgelassen...

Dirk: Die Leute, die den Sampler gemacht haben, sind jetzt auch nicht so politisch geschult oder so. Die dachten halt, mensch, das ist doch ganz flächig, das passt zusammen... keine böse Absicht.

Flo: Ihr singt ausschließlich deutsch. Welche Motivation steckt bei euch dahinter?

Dirk: Als wir angefangen haben, war es für mich sehr unselbstverständlich, deutsch zu singen, weil ich immer mit amerikanischer oder englischer Musik aufgewachsen bin. Insofern war es ein Gegenstück. Es schützt andererseits auch vor so einer Beliebigkeit, was man sagt, da man im deutschen ja immer aufpassen muss, was man sagt, da sonst immer irgendwelche Assoziationen hervorgerufen werden, die dann nicht gut sind.

Jan: na ja gut, fick die Radioquote.

Flo: Auch wenn’s euch nervt: Der Begriff Hamburger Schule, wie steht ihr dazu?

Dirk: Da nervt eigentlich mehr die Verwendung dafür. Ursprünglich sollte es so ein witziger Anschluss an die Frankfurter Schule sein, also eine Anlehnung an Adorno und Horkheimer. Texte, die halt diskursiv sind.

Jan: Zuerst verschwand der Witz, dann wurde das sehr ernst genommen und dann war es gleich ein Musikstil. Das eigentliche ging dann verloren. Der Mikrokosmos wurde dann aufgebrochen, da man auch Kontakte in andere Städte hatte.

Flo: Wie habt ihr den 11. September aufgenommen? Habt ihr auf der Couch gesessen und die Revolution herbei zelebriert?

Dirk: Gotteswillen, wenn man da geil bei wird, gehört man in die Klapse.

Jan: Das erschreckt einen natürlich wahnsinnig. Und auch Reaktionen von Leuten haben mich erschreckt, wo dann Stimmen laut wurden und meinten, das geschieht den Amis jetzt aber recht. Also nee. Und dass das jetzt antizionistisch ist, ist auch klar. Es fordert einen selber auch heraus, dass man sich fragt, ob dieses Schema denn noch funktioniert, also die unterdrückte dritte Welt. Es ist auf jeden Fall schwierig, dort einen wirklich emanzipatorischen Standpunkt zu entwickeln. Man fängt sich an zu fragen, das, was man Jahre lang hingenommen hat, also die ganze PLO-Geschichte, ob man sich da genug hinterfragt hat. Deshalb finde ich es auch gut, dass das Conne Island sich dazu auch positioniert.

So ihr Lieben, fürs erste war es das mit Interviews von diversen Bands. Vielleicht treffe ich mich im nächsten Jahr mal mit Blumfeld, um zu fragen, wie man sich denn so fühlt als milchgesichtiger Außenseiter.
Bis dahin, schreibt Florian


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last modified: 28.3.2007