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lost in identity.

Zum Begriff der Differenz in der Popkultur

    Die inhaltliche Verschiebung von popkultureller Unterschiedlichkeit, vom einstigen ‘Recht auf Differenz’ als Widerstandsform hin zu ethnischer Segmentierung und Beanspruchung als Kampfbegriff der Neuen Rechten, zeigt nicht nur, daß Kontexte neu überdacht werden müssen, sondern auch, wie schmal der Grat zwischen emanzipatorischer Rezeption und knallhartem Relativismus eigentlich ist.
    Nicht zuletzt die sogenannte Reggae-Debatte, in der es sich um die realen und scheinbaren Spezifika jamaikanischer Kultur drehte, und deren kulturalistischer Unterton ein ums andere Mal die Grenzen der Annäherung an einen notwendigen Streit überschritt, hatte diesen faden Nachgeschmack und schreit förmlich nach der Notwendigkeit einer Standortkorrektur.
    Anhand der Essentials einer Debatte, die vor einigen Jahren im poplinken Dunstkreis vehement geführt wurde, sowie der Darstellung einiger theoretischen Bezugsgrößen, sollen im Folgenden die verschlungenen Wege eines Umgangs mit Differenz und die daraus resultierenden Möglichkeiten und Nicht-Möglichkeiten aufgezeigt werden.

Krieg dem Ganzen.

Es gab Zeiten, da gingen Freundschaften zu Bruch, hatte man die falsche Platte zum falschen Zeitpunkt im Schrank, da spielten Details, Codes und der Standard der Unverwechselbarkeit eine Rolle, an die heute nicht mehr im entferntesten zu denken ist. In diesen Zeiten war Abgrenzung als non plus ultra praktisch gelebter Pop- und Subkultur die fest fundamentierte Basis oppositionellen Denkens. Die Einsicht, nichts zu sein, brachte somit Ende der 70er, insbesondere innerhalb der ‘Neuen sozialen Bewegungen’, der afroamerikanischen Communities und der ‘Queer Groups’, eine Sache in Schwung, die geprägt war von dem neuen und positiven Denken der Differenz. Im Sinne von ‘ich bin nicht mainstream’ oder ‘ich bin stolz, schwul/schwarz zu sein’ entstanden, einen Verzweiflungsakt gleich, konstituitive Modelle, Tribes und Gemeinschaften, die das Recht auf Differenz als Einforderung formulierten. Diese positive Stilisierung von marginalisierter Identität, als Widersetzung gegen die Gleichmacherei, wurde somit eine der wichtigsten und prägenden Voraussetzungen von popkulturellem Widerstand, deren Selbstverständnis immer ein emanzipatorisches war.
aus konkret, 28.8k
„Es gibt Kollektive und Individuen, denen man das Recht auf Identität unbedingt verwehren muß“
Diese Euphorie von Abgrenzung und Aneignung präsentierte sich von Anfang an als politische Debatte, die spezifisch marginalisierten Positionen im Dreieck von „Rasse“, Klasse und Geschlecht den nötigen Raum freischaufelte, gleichzeitig versuchte, die Produktionsverhältnisse, Distributions- und Konsumtionsformen nicht als bloßes kapitalistisches Realitätwerden zu begreifen, sondern ebenso als politische Implikation umzuformulieren, in deren Anhang stets eine gewaltige Brise Widerstand mitschwang. Das Lyotard’sche Diktum vom „Krieg dem Ganzen, Rettung der Differenzen“ meint daher nicht ausschließlich die Diversifizierung und die Kämpfe der Minderheiten, sondern ebenso das Widerspruchsdenken zwischen Kapital und Arbeit, auch wenn letzteres in zunehmender Rezeption gerne vernachlässigt wurde.

Heiße Theorie.

Das der Universalismus der Aufklärung und der parallele Siegeszug des Imperialismus - also der Universalismus des Kapitals - ein Problem darstellt, haben so einige erkannt. Der Fluß von Kapital, Arbeitskräften und Krediten negiert alles Partikulare, Menschen und Sachen werden gleichgesetzt. Das Postulat von der Gleichheit der Menschen von Natur aus ist ein Witz, genauso wie die Idee der Menschenrechte, die die praktische Nutzanwendung des Rechts auf Freiheit als Menschenrecht des Privateigentums deklariert, also eigentlich ein Eigentumsrecht unter Vorspiegelung gleicher Tatsachen ist. Als theoretischer Affront, dessen sich auch die popkulturelle Rezeption in nicht unerheblichem Maße bedient, stachen und stechen insbesondere die postmodernen und postrukturalistischen Köpfe hervor. Während Foucaults mehr als ablehnende Haltung zum Menschenrechtsuniversalismus sicherlich ein Begriff ist, so sind insbesondere Deleuze, Lyotard und Derrida gerngelesene Klassiker, wenn es um Differenz und partikulare Interessenverwaltung geht. Letzterer prägte, wenngleich unvergleichbar nebulös, den Begriff der differance. Das Problem der differance, dessen Verfahren die Dekonstruktion darstellt, erklärt zwar nicht die Welt, auch wenn das oft behauptet wird, aber zumindest, warum die bisherigen Masterpläne in ihrer Absolutheit nicht hinhauen. „Das von der differance angezeigte paradoxe Denken soll lieb gewordene Gegebenheiten wie Wahrheit, Vernunft, Identität, Subjekt konsequent zurückholen in die Geschichte. Was es dazu braucht, ist eine radikale Konzeption der Sprache.“(1) Denn die Struktur klar unterscheidbarer Begriffe macht deren Ökonomie aus. In diesem Kontext, also neue Bedeutungen in Szene zu setzen, ohne frühere Zuschreibungen zu verwischen, versteht sich Derridas Differenzbegriff, der hier exemplarisch für die poststrukturalistische Variante steht. Identitäten konstituieren sich daher über die Spur einer Sache, die ihre Wurzeln in einer Bedeutung zurückläßt, während sie über das Signifikante zu einer anderen Bedeutung übergehen.
Im Fahrwasser dieses dekonstruktivistischen Ansatzes, also dem Abbau vermeintlicher Gewißheiten, erklärt der Cultural Studies-Theoretiker Stuart Hall, sowohl die Gefahren der Beliebigkeit involvierend, als auch die strukturellen Vorteile ins Feld führend, den Diskurs der kulturellen Identität.. Sein Schluß, nach dem es notwendig sei, eine rein taktische Form einer identitätsstiftenden Zuschreibung anzunehmen, fußt auf der Annahme, daß es ziemlich dumm wäre, in einer Welt der Identitäten selbst keine zu haben. Dieser aus strategisch-politischen Gründen angewandte Differenzbegriff glaubt also nicht wirklich an diese Zuschreibung, kann zwischen ‘being und becoming black/white/gay...’ unterscheiden – und plädiert daher nicht für eine unüberbrückbare und radikale Trennung, ist somit abgewandelt aber seelenverwandt mit der positionalen, konditionalen und konjunkturellen Anwendung Derridas(2).

Das Dilemma.

Anything goes? Daß das postmoderne Plädoyer für Pluralismus und Differenz seine Verwindungen hat, etwa wenn Rassismus differentialistisch erklärt wird, kommt in der heutigen Zeit gerne zum Tragen. Es hat sich nämlich einiges geändert und darin besteht das Problem: Die Existenz einer ‘Neuen Rechten’, die den Begriff ebenso für sich beansprucht wie einst die popkulturelle Opposition. Der Kampfbegriff der Differenz wandelt sich zur ethnizistischen Bastion, sei es gegen den bürgerlichen Universalismus, die ‘jüdische Weltverschwörung’ oder die Amerikanisierung der Popmusik und bringt somit das Dilemma der Subkultur mit sich, sich vom einstigen Paradigma abgrenzen, wenn nicht sogar scheibchenweise verabschieden zu müssen.
Grundsätzlich läßt sich also eine inhaltliche Umwandlung des Identitätsbegriff, von der positiven Stilisierung marginaler Identität über den Boom der ‘identity-politics’ hin zu radikalen (Selbst)Ethnisierungsprozessen konstatieren. Die Zunahme von Kollektivformeln und die Renaissance nationaler Identität stehen dabei ebenso hoch im Kurs, wie oftmals naturalistisch begründete
Kriterien, die zur Definition von ‘Ethnie’, Klasse und Geschlecht herangezogen werden. Letztlich schaffen die beschriebenen Zuschreibungen ihrerseits soziale
Legoland, 21.2k
„Differenz als Nachbildung der bürgerlichen
Gesellschaft in Form eines kleinen Legolandes
Fakten, die schlußendlich naturalistische Annahmen scheinbar bestätigen. Am Ende existieren dann Konstrukte wie ‘Rasse’ wirklich. Es bleibt daher oftmals nicht aus, daß sich die marginalisierten Opfer, sozusagen als Notgemeinschaft unter dem Label der Widerständigkeit, auf ein naturalistischen Schema von Identität zurückziehen bzw. dies so übergewichtig erscheint, daß der tribalistische Moment jeglichen progressiven Handlungsspielraum durch naive Blut und Boden-Rhetorik überdeckt. Die gesteigerte Sichtbarkeit von Sondermerkmalen wird somit so handlungsmächtig, daß sie letztlich in einem kulturalistischen Status Quo verharrt, aus dessen Fängen kein Entrinnen mehr möglich ist.
Günther Jacob verweist diesbezüglich auf die minderheitliche Nachbildung der bürgerlichen Gesellschaft in Form eines ‘Legolandes’, in dem der Stolz auf die eigene Besonderheit nur noch als Konformismus gedeutet werden kann.(3) Eine konformistische Tendenz deshalb, da sie dem naiven Tribalismus immanent ist, und insbesondere unter dem Hintergrund neuer weltweiter Kapital-Verhältnisse den bürgerlich-universalistischen Kräften zum Durchmarsch verhilft.(4)
Insofern liegt das Problem auf der Hand: Der Kampf der Marginalisierten um Repräsentation und ihr Abwehrmanöver hinsichtlich eines universellen Machtanspruchs hat auch zur Wiederentdeckung von Essenz – dem Insistieren auf die eigene Besonderheit – geführt.

Die Gretchenfrage – partikular oder universell?

Wenn Heinz Rudolf Kunze in der aktuellen Denyo 77-Single die „Weiterführung eines neuen deutschen Selbstbewußtseins im Hip Hop“(5) zu wissen meint, dann scheint klar, auf wen man die Knarre halten muß. Klar ist damit aber auch, daß mit solch geistigen Dünnschiß der einst positiv besetzte Begriff der Differenz gefallen scheint. Da kann ein Diedrich Diederichsen noch so ehrenwert darauf beharren, daß zwischen der Sichtbarkeit von Besonderheiten, die Diskriminierungsgrund waren und sind, und zwischen regionalistischen Volkstümeleien zu unterscheiden wäre – der geistige Diebstahl, die inhaltliche Verdrehung und die Ermangelung von Abgrenzungsmöglichkeiten wiegt schwerer denn je. Diederichsen plädiert dahingehend für eine Kritik der Identität, die leere Formalismen wie Partikularismus und Universalismus, mit denen man sich über die Orientierungslosigkeit wegzusetzen versucht, aufzugeben und anstelle dessen antestet, Urteile im kleinen, pragmatischen Rahmen zu fällen. Die Basis dieser Analyse ist in der Unumgänglichkeit zu sehen – es gibt einige Kollektive und Individuen, denen man das Recht auf Bewaffnung mit Identität zugestehen muß, und einige, denen man selbiges unbedingt verwehren sollte. Dabei verweist Diederichsen auf den positiv besetzbaren antiintegrationistischen Moment, der als Negation der bestehenden Verhältnisse den ‘emanzipatorischen Raum’ bewahrt.(6)
Daß jede Negation zwangsläufig auch eine Position herausbildet, die im pop- und subkulturellen Kontext entweder in zunehmenden Maße als reaktionärer Backclash, oder aber im Sinne partikularer Subsparten als warenförmige Erweiterung der Produktpalette für eine individualisierte Masse daherkommt, ist bekannt. Kritischer und angelehnt an das Adorno’sche Zitat, daß Identität „die falsche Versöhnung mit der unversöhnlichen Welt“ wäre, betrachtet deshalb Günther Jacob den Diskurs um Differenz und Identität: Er verweist u.a. auf die Basis aller kapitalistischer Gesellschaften und deren Bestimmung durch ökonomische Unterdrückung, und stellt dabei fest, daß die Idee der Identität ihr gesellschaftliches Ausgangsmodell – in der heutigen Realität natürlich viel komplexer - im Tauschprinzip hat, welches nicht-identische Einzelwesen grundsätzlich kommensurabel macht.(7) Ohne also den Differenzbegriff zu verteufeln, weist Jacob darauf hin, daß im Universalismus ein partikulares Interesse steckt, sowie das in der Politik der Differenz universelle Grundzüge verankert sind und stellt damit klar, das eine Kritik an partikularen Elementen nicht zwangsläufig zum Vertreter eines bürgerlichen Universalismus transformiert.
Diese Prämisse als Wink mit dem Zaunspfahl zu deuten, wäre insofern clever, da die beiden Absolutheiten – ‘es hilft nur Identität, wo Identität herrscht’ und ‘wer sich in Identität begibt, kommt darin um’ - in ihrer Positionierung nicht unbedingt haltbar sind, maximal als rhetorischer Totschläger taugen. Wenn Identität als Machtmittel gegen Macht eingesetzt werden soll, muß klar sein, das der Versuch, sich ‘subversiv’ und ‘antiessentialistisch’ auf Identität zu beziehen, einer Verhinderung der Kritik dieses Machtmittels gleichkommen könnte. Es sollte daher heißen; den Blick über die Differenzen hinaus schärfen, die naive und bewutseinslose Weise über Unterschiedlichkeiten zu reden, ablegen und darüber hinaus eine reflektiertere Form von Opposition gegen den bürgerlichen Universalismus formulieren. Günther Jacob bringt das klassisch auf den Punkt: „Es muß so etwas wie einen antirassistischen und antiimperialistischen Universalismus bei Anerkennung der Differenzen geben.“(8) Die Lösung liegt also auf der Hand, packen wir sie an.

Lars

Fußnoten
(1) Vgl.: Gräfe, Stefanie, Die Grenzen des Selbstverständlichen., in: Analyse und Kritik 443/ Oktober 2000. Bezüglich des ‘differance’ Verständnis von Derrida muß erwähnt werden, daß der Begriff regelwidrig mit ‘a’ geschrieben ist, was den Schwebezustand zwischen den beiden französischen Verben ‘verschieden sein’ und ‘aufschieben’ verdeutlichen soll.
(2) Hall, Stuart, Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2., Hamburg 1994, S. 22.
(3) D. Diederichsen/G. Jacob, Differenz und Reaktion., in: Konkret 02/94, S. 52.
(4) Vgl. Holert/Terkessidis, Mainstream der Minderheiten. Pop in der Kontrollgesellschaft. Berlin 1996.
(5) Neulich auf Viva Zwo.
(6) Diederichsen, Diedrich, Freiheit macht arm, Das Leben nach Rock’n’Roll. Köln 1993, S. 54.
(7) Jacob, Günther, Ich-Identität und nationale Identität., in: Wohlfahrtsausschüsse (Hrsg.), Etwas besseres als die Nation. Berlin 1994, S. 66.
(8) Jacob, Günther, Musik macht Differenz., in: Off Limits 10/95, S. 12.


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last modified: 28.3.2007