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Sebnitz – das Ende des bürgerlichen Antifaschismus?

Kommentar

„Wir sind in einer Situation, wo wieder zusammenwächst, was zusammengehört.“ rief am 10. November 1989 Willy Brandt vom Berliner Rathaus in die taumelnde Menschenmenge. 11 Jahre später warnt der sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf vor der Gefahr, „dass die Westdeutschen sich jetzt als die guten Menschen sehen und die Ostdeutschen als die schlechten – und auf diese Weise eine neue Mauer in Deutschland errichten.“ Doch was war vorgefallen, daß unser König der Sachsen so beleidigt die nationale Einheit in Frage stellte?
In der ostsächsischen Kleinstadt Sebnitz kam vor drei Jahren Joseph Abdulla ums Leben. Am 23.11.2000 titelte die Bild-Zeitung „Neonazis ertränken Kind. Und eine Stadt hat es totgeschwiegen.“, womit sie eine kurze, aber heftige Diskussion über diesen nicht gerade unwahrscheinlichen Fall lostrat. Alle haben der Stadt diese Ungeheuerlichkeit zugetraut. Oder zumindestens irgendeiner Stadt weit hinten im Osten. Sebnitz galt vielen als das Paradebeispiel des braunen Ostens, über den in letzter Zeit so viel berichtet und diskutiert wurde. Der Ruck hin zur Zivilgesellschaft, in der man eben nicht mehr wahllos auf MigrantInnen einprügelt, wurde auch ohne die Intervention von Links vehement eingefordert.
Eine Woche später wird die Version Mord durch Neonazis öffentlich revidiert, worauf die Diskussion einen anderen Fokus erhält. Kurt Biedenkopf stellt trotzig die These von dem Kollektivschuldvorwurf in den Raum und spricht von einer öffentlichen Hinrichtung seiner Kunstblumenstadt. Doch wer meint, durch die nachfolgende Diskussion um das Verhalten der Medien sei der bürgerliche Antifaschismus an seinem Ende angelangt, liegt gründlich daneben. Die Süddeutsche Zeitung kommentiert den Fall Sebnitz folgendermaßen: „... oft kann ein Streit auch befreiend wirken. Man darf nur nicht in beleidigter Selbstgerechtigkeit verharren, sondern muss beharrlich weiter aufeinander zugehen. Dann könnte zusammenwachsen, was bisher höchstens zusammenwuchert.“ Und zu diesem nationalen Schulterschluß gehört spätestens seit dem Antifasommer 2000 auch die Forderung nach einer grundlegenden Zivilisierung der Killing Fields in der Zone.(1)

Ein kurzer Rückblick
Mit der Wiedervereinigung startete die neue europäische Großmacht durch. Nach dem Solibeitrag, der de facto Abschaffung des Asylrechtes und der Abschottung der europäischen Außengrenzen setzte die mittlerweile rot-grüne Regierung im Herbst 1998 zum Endspurt an. Anfänglich noch leicht abgehangen von Martin Walser, der nicht mehr an Auschwitz erinnert werden wollte und dafür standing ovations der gesamten Elite der deutschen Gesellschaft erhielt, bekam rot-grün spätestens 1999 die Kurve. Mittels eines grandiosen humanitären Einsatzes auf dem Balkan gelang es u.a. deutschen Truppen, ein neues Auschwitz – diesmal in Serbien – zu verhindern und den serbischen Hitler Slobodan Milosevic zu Fall zu bringen. Neben der nun endgültig abgeschlossenen militärischen Etablierung haben die 68er damit Deutschland rehabilitiert. Auschwitz liegt heute im Kosovo und die geläuterten Deutschen verhindern jetzt Verbrechen, die bis dato als einmalig in der Geschichte galten. Die Walsersche Normalität war ein halbes Jahr später deutsche Normalität. Und wer dieser immer noch nicht traute, wurde durch die einzigartige humanitäre Geste an die noch lebenden ZwangsarbeiterInnen endgültig vom Gegenteil überzeugt. Nach diesem fulminanten Eintritt in die Hall of Fame der demokratischen Musterschüler ging es also mit einem Gleichstand auf die Zielgerade.

Finish
Und dort ist rot-grün auf den (Kampf)Hund gekommen. Nachdem die Vierbeinigen durch schärfere Verordnungen zur Flucht ins schweizerische Exil gezwungen wurden, sollten nun auch ihre zweibeinigen Gefährten nicht länger auf Milde hoffen können. Ausgelöst durch einen Splitterbombenanschlag in Düsseldorf setzte eine Diskussion um den Umgang mit „Rechtsextremismus“ ein, welche wir in dieser Intensität vorher nicht kannten. Und dabei handelte es sich mitnichten nur um ein Sommertheater, wie nicht wenige derjenigen behaupteten, die durch den bürgerlichen Antifaschismus in eine ernste Identitätskrise geraten sind. Ausgehend von den globalen wirtschaftlichen Veränderungen stand die politische Elite vor der Wahl, den Anschluß endgültig zu verlieren oder ihn aber mittels SpezialistInnen aus dem Ausland wenigstens vorerst zu bewahren. Die dafür kopierte Greencard aus den Vereinigten Staaten(2), die für die benötigten MigrantInnen eine befristete Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung ist, hatte jedoch aufgrund der schlechten Ausgangsbedingungen (begrenzter Aufenthalt ohne Familiennachzug, hoher Mindestverdienst) und dem nicht unerheblichen Risiko von rassistischen Übergriffen nicht den erhofften Erfolg. Die prügelnden faschistischen Horden sind mittlerweile selbst in Reiseführern Thema und somit zum Standortnachteil geworden, auf den die Zivilgesellschaft verzichten kann. Sie hat viel effektivere Mittel, um sich vor ungewollter Migration zu schützen.

Back to Sebnitz
Es erschien also nicht mehr unwahrscheinlich, daß Nazis am hellichten Tage und unter dem Schutz der Masse einen Jungen ermorden können. Der Widerruf dieser Version ändert nichts an dieser Tatsache, wie wenige Wochen später der Fall Bernsdorf zeigte. Dort hatte ein junger Vietnamese in Notwehr einen Nazi erstochen. Und die erste Reaktion vor Ort war die Befürchtung, daß „Skins einen Fidschi umgebracht (haben)“. Auch nach Sebnitz wird ein rassistischer Mord nicht sofort dementiert, sondern als im Rahmen des Möglichen liegend mitgedacht. Wenn sich die SebnitzerInnen jetzt als Opferkollektiv gebärden und nach Wiedergutmachung schreien, so ist das eher eine Provinzposse, als Ausdruck der gesellschaftlichen Meinung. Die Besonderheit von Sebnitz liegt in der nationalen Verbrüderung von Ost und West. Jetzt heißt es nicht mehr zivilisierter Westen vs. brauner Osten, sondern vereinigte deutsche Zivilgesellschaft vs. böse Nazis.

Und die radikale Linke?
Trotz des ernstzunehmenden Vorgehens der bürgerlichen AntifaschistInnen gegen die Nazis erledigt sich die linksradikale antifaschistische Kritik noch lange nicht, sondern bleibt notwendig wie eh und je. Sie darf sich jedoch nicht nur auf die Nazis konzentrieren, sondern muß die deutsche Gesellschaft und deren ideologische Grundwerte angreifen. Dabei sollte neben nationalen Besonderheiten auch die europäische Perspektive miteinbezogen werden, denn dort wird in Zukunft bei weitem mehr entschieden, als in den einzelnen Nationalstaaten.
Den linksradikalen antifaschistischen Politikansatz gilt es dabei aus mehreren Gründen zu verteidigen. Neben der reellen Bedrohung von MigrantInnen und alternativen Jugendlichen durch Nazis ist die deutsche Vergangenheit und ihre Spezifik, der eliminatorische Antisemitismus und die Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden im NS, ein wichtiger Ansatzpunkt für politische Theorie und Praxis in der heutigen Gesellschaft. Für die meisten Jugendlichen fängt mit Antifa alles an; die Notwendigkeit besteht darin, es nicht damit aufhören zu lassen. Dazu muß die Parole „Antifa ist der Kampf ums Ganze!“ jedoch theoretisch fundiert werden. Analysen wie die der rechten Alltagskultur sind gute Ansätze, um über Antifa eine radikale linke Gesellschaftskritik vermitteln zu können.
Diese theoretischen Erkenntnisse sollten dann auch weiterhin in praktische Politik umgemünzt werden. Jedoch nicht um der reinen Praxis willen oder aus blindem Aktionismus, sondern um unsere Positionen vermitteln zu können. Die Vermittlung linksradikaler Theorie anhand konkreter Widersprüche hat einiges an Ausstrahlungskraft zu bieten – besonders für Jugendliche, die immer noch wichtigste Adressaten für linksradikale Theorie und Praxis sind. Auch wenn bei politischer Praxis immer in die Gesellschaft hineingewirkt wird, gibt es dazu derzeit keine Alternative. Die AktivistInnen sollten sich dessen nur stets bewußt sein und im Einzelfall abwägen, inwiefern die Politik lediglich auf eine Verbesserung des Standortes Deutschlands hinausläuft oder aber über humanistische Forderungen hinausgeht und auf eine grundlegende Veränderung ausgerichtet ist.
kerstin

Fußnoten
(1)Exemplarisch die Zusammenfassung der taz: „Wir sind nicht sicher, ob die Fünfzig-Rechtsradikale-ermorden-einen-Jungen-Geschichte stimmt. Aber das ändert nichts. Es ist dem Osten zuzutrauen. Das war der Tenor der ersten Kommentare. Der der letzten Kommentare lautete: Es stimmt also nicht. Was ändert das? Es ist ihnen immer noch zuzutrauen.“
(2)die dort allerdings eine lebenslange Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung ist und nicht aus wirtschaftlichen Interessen vergeben wird, sondern dem Erhalt der multikulturellen Gesellschaft dient und verlost wird.


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last modified: 28.3.2007