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Der Text zum Text (siehe CEE IEH #71, S. 50-55)

Der folgende Text ist eine Erwiderung auf den Diskussionsbeitrag „Grenzen der Gemeinsamkeit“ (zur „Unterstützung nationaler Befreiungsbewegungen und (zum) schwierigen Verhältnis deutscher Linke zu Israel“) im letzten Heft.

Wurzeln wider der Gemeinsamkeiten

      „Es genügt, daß wir [Juden] eine gesellschaftliche Gruppe von Menschen bilden, die sich mehr oder weniger deutlich von der übrigen Menschheit abhebt und deren Realität von niemandem bezweifelt wird.“
      Albert Einstein

Da stellt sich uns ein schier verzweifelter Mensch vor. Er sitzt am Tisch, grübelnd den Kopf in die Hand gestützt: Er kann sich nicht entscheiden. Auf dieses Problem treffen jeden Tag Heerscharen von Einkaufenden, doch ihm ist es ernster. Sein Gewissen wiegt – hin und her –, schale Gedanken über Gerechtigkeit und demokratische Errungenschaften drücken sein Gemüt; was ist schlimmer: Israel oder Palästina? Dann, – letztendlich schnell – es fällt ihm wie Schuppen von den Augen. Seine Genossen im Geiste haben es ihm vorgeturnt. Sind nicht die Völker dieser Erde letztendlich Waschpulver? Wie soll man sich entscheiden, wenn – wir wissen es – in bunten Verpackungen zu guter Letzt das gleiche Pulver steckt. Ulle nickt versöhnlich und notiert: Beide haben ihre guten und schlechten Seiten. Die Juden sind verfolgt und kriegten ihren Staat, die Palästinenser sind verfolgt und kriegen ihren Staat. Diese Lektion gelernt, gesellt sich ein Freund dazu: Ein Hobbypsychologe, der sich um die „hysterischen“ seiner Schäfchen sorgt, die es irgendwie noch nicht beisammen haben, daß das europäische Judentum vernichtet wurde und die die Sensibilität aufbringen, an die Decke zu gehen, wenn „Israel NO“ gerufen wird. Sein Beitrag: Wenn Antizionisten Israel ins Meer treiben wollen, hat das nichts mit Antisemitismus gemein – hier spricht nur der über den Tisch gezogene Besitzer eines Flecken Landes, welches er gerne wiederhaben möchte.(1) Nun zu zweit am Tisch, auf eben diesem: die Waschpulver-Lösung. Einig sind sich die beiden Freunde. Die Verpackung muß weg. Alle Menschen sind gleich.
In dieser Denkform präsentiert sich der Theoretiker. Der Theoretiker gibt sich alle Mühe. Er sammelt Zeitungsschnipsel und Theoriebausteine, während erstere als Bastelanleitung fungieren, bildet aus zweiteren sich die Welt. Der Staat und die Nation und das Kapital und ihre Steckverbindungen: die „Ideologie-Konstrukte“(2). Der Theoretiker wird von der Praxis getrieben, gescheit zieht er aus seinen Theorien die Strategien für: Politik. Und je klarer der Stern der Theorie leuchtet, desto schöner ist die Politik. Das ist die Geburt der antinationalen Antifa. Sie hat „die blinde Liebe zum Volk“ zu ihrem „Verhandlungsgegenstand“ gemacht, „fragwürdig“ geworden ist der „positive Bezug auf nationale Befreiungsbewegungen“ und – jetzt ist alles gut – „die Kritik des Kapitalismus“ ist nicht „aus den Augen verloren“. Da stehen sie, die lupenrein politisch Identischen, schwingen die Keule der Integren, die Objektivität. Sie stützt die Politik wie das Mehl das Brot. Und auch dieser Abb., 2.1k Keulenschwung ist, wie alle Gewalt, nur eine Abart des Herrschenden(3). Bemüht schlägt sie unters Wertgesetz, was sie beurteilen will, macht gleich, sät Gerechtigkeit, sät Antirassismus. Objektivität, das ist „distanzierendes Nachdenken“ und Gleichmacherei. Sie ist nur als Herrschende zu haben, als „vernünftige“ nur subjektiv zu spüren, nur versöhnt als „Vielheit des Verschiedenen“(4) erahnbar. „Nachdenken“, welches sich „distanziert“, verabschiedet sich notwendig von Kritik. Es trachtet nach Nachvollziehbarkeit und ist dem Wahnsinn des bürgerlichen Denkens verpflichtet. Es trainiert sich darauf, das Irrationale denkbar zu machen, es zu Bausteinen zu verarbeiten. Es will den Wert denken, jenes, welches unterschiedene Dinge zu Gleichen macht – bar jeder Vernunft(5). Das Denken des Verrückten ist objektiv, wenn es herrscht - das hätte die Linke aus der Kritik der „falschen Nationalsozialismus-Analyse“ lernen können. Eben dieses Prinzip ist es, welches in der Demokratie nachlebt – jenseits der Empirie – und potentiell bedrohlicher ist, als wenn es sich gegen sie wendet.

Verrückt – das ist die Realität auf dieser Welt, verrückt ist unser Denken. Verrückt unsere Wahrnehmung – wahnsinnig ist jegliches Operieren mit ihr, wenn sie versäumt, auf ihre verrückte Entstehungslogik zu reflektieren. Wenn sie es nicht versäumt, heißt dieses verzweifelte Unterfangen Kritik: die Vernunft – als negative Wahrheit – aus dieser Irrenanstalt, in der wir leben, zu bergen und ihr Aufmerksamkeit zu verschaffen. Kritik ist weder Theorie noch Praxis, die Politik ist ihr fremd.
Wir haben also weder Fähigkeit noch Wunsch, uns unbefangen zum Nahost-Konflikt zu äußern.
Die Bemühungen der Antisemitismus-Forschung orientieren sich zumeist an den Tätern. Die Opfer in die Analyse mit einzubeziehen, klingt auf den ersten Blick zynisch und unmenschlich. Zu stark ist der Eindruck, man wolle ihnen einen Teil der Schuld andrehen. Wir denken aber, daß es unmenschlich ist, zu sagen, die Opfer der nationalsozialistischen Barbarei seien beliebig austauschbar. Die Deutschen hatten ihre – freilich zutiefst unmenschlichen und fanatischen – Gründe, gerade die Juden als Opfer sich auszusuchen. Diese These gilt nicht nur für die deutschen Verbrechen an den Juden zur Zeit der Shoa, sondern für die gesamte Geschichte der Judenverfolgung. Die Juden sind also durchaus etwas besonderes. Sie wurden nicht ohne Grund aus den Kollektiven ausgeschlossen und als das Böse verteufelt. Der Grund dieser Verteufelungen bestand darin, daß die Juden von diesen Gemeinschaften als Verkünder der Wahrheit empfunden und mit dieser selbst identifiziert wurden.
Es handelt sich um die in der mosaischen Religion ausgedrückte Wahrheit. Eva und Adam gelten der Genesis zufolge als aus dem Paradies vertriebene. So bringt die mosaische Religion die Kluft zwischen Mensch und Natur auf den Punkt. Allen illusionären Hoffnungen auf eine Einheit des Menschen mit sich selbst (mit „seiner Natur“) erteilt sie eine fundamentale Absage. Das Element des Nicht-Identischen ist ihr zentrales Thema. Mit dieser Erkenntnis ziehen sie den Haß der Welt auf sich.
Das Kollektiv der Identischen zeugt von dem Bedürfnis der Menschen in der Natur aufgehoben zu sein. Inneres Ziel des identischen Denkens ist es, die eigene Menschwerdung zu verleugnen – den Kampf um die Autonomie aufzugeben, sich danach sehnend, als Kind im Mutterleib zu ruhen. Die Uneinlösbarkeit dieser Illusion löst den Zorn aus – der Lügner verdrängt die Wahrheit – die Juden werden dafür gehaßt und verfolgt.
Das Alte Testament als zentrale Quelle der jüdischen Religion kann als kritisches Grundlagenwerk betrachtet werden. Als einzige Religion lehnt es die Möglichkeit eines Lebens im Einklang mit der Natur und sich selbst vor „Ankunft des Messias“ ab. Alle Hoffnungen auf paradiesische Zustände werden mit einem >>Bilderverbot<< belegt. Die Hoffnung auf irgendein Leben nach dem Tod spielt demzufolge auch eine eher bescheidene Rolle in der jüdischen Religiösität. Sie ist eine radikal diesseitsbezogene Religion. Ihre zentralen Inhalte sind die Trennung des Menschen als denkendes und handelndes Wesen von der Natur, das Ringen um einen vernünftigen Umgang der Menschen miteinander und die Utopie der Möglichkeit einer von den Zwängen befreiten Gesellschaft, welche die Juden als Hoffnung auf Ankunft des Messias in religiöser Form denken. In der Vision von der Ankunft des Messias ist also die Vision einer befreiten Gesellschaft aufgehoben. Für die Christen hingegen ist mit der abstrusen „heiligen Dreifaltigkeit“ und mit der Verehrung Jesu als Messias die Befreiung bereits vollzogen. Ein Christ wähnt sich bereits in einer befreiten Welt, da er meint, Jesus sei für ihn am Kreuz gestorben.
Die Rede von den Juden als „auserwähltem Volk“ meinte gerade das nicht, was (antisemitische) Kritiker ihr oft unterstellen. Laut biblischem Mythos erwählte Gott die Juden zum auserwählten Volk, damit sie die Kundschaft der zehn Gebote und das Hoffen auf die Ankunft des Messias in die Welt tragen. Auserwähltes Volk heißt: Auftrag, den Willen Gottes zu verwirklichen. Und dieser Wille wird bestimmt als: Auflösung aller Nationen, Völker, Staaten, Geschlechter vor Gott. Diese Vision ist das völlige Gegenteil vom deutschen Herrenmenschentum, mit dem diese biblischen Vision oft in völliger Unkenntnis verglichen wird. Dem „am deutschen Wesen wird die Welt genesen“ ging es stets um nichts als um Macht über andere Menschen. Genau das war niemals die Bedeutung der Rede von den Juden als erwähltem Volk. Auftrag der Juden ist also laut Bibel, die Botschaft der Auflösung der Völker und Rassen vor Gott, die Errichtung eines Reiches der Freiheit, die Überwindung der barbarischen Zwänge der Natur (und also der Gesellschaft).
Die Brisanz der jüdischen Religion bestand darin, daß sie dem einzelnen die Möglichkeit nicht zusprach, kraft eigenen Willens die Erlösung zu erlangen, was ein Christ oder Buddhist oder Muslim etwa durch besonders festen Glauben, strenge Lebensführung, Meditation etc. individuell zu erreichen können meint. Das Judentum ist also im Ansatz als eine kritische Religion zu verstehen.
Die Brisanz ergibt sich weiter aus der Sicht der jüdischen Religion auf die Welt, die als eine prinzipiell zweigeteilte vorgestellt wird. Auf der einen Seite die von den Zwängen der Natur und Gesellschaft beherrschte diesseitige Welt, die es zu vestehen und in der es zu handeln gilt, ohne sich illusionären Hoffnungen hinzugeben. Unarten wie „positives Denken“ widersprechen somit der jüdischen Religion zutiefst. Auf der anderen Seite sind sich die Juden darüber im Klaren, daß diese von Zwängen und Brutalität gezeichnete Welt nicht bis auf unwiderrufliche Zeiten bestehen muß, sondern daß die Perspektive ihrer Aufhebung gedacht werden kann. Von diesem inneren dynamischen Widerspruch zehrt seit vielen Jahrhunderten die jüdische Philosophie und Theologie.

Hinzu kommen die Verfolgungen, denen die Juden in den Gemeinschaften, in denen sie lebten, ausgesetzt waren. In der jüdischen Geschichtsschreibung drückten sie das Leiden ihrer Verfolgungen aus und schufen damit eine Dokumentation des menschlichen Leidens in einer von Ausgrenzung und Unterdrückung gezeichneten Welt. Sie drückten in ihrem Denken das aus, was alle anderen Mythen verleugnen. Die Juden machten keinen Frieden mit den barbarischen Zuständen, weil ihnen ihre Umwelt niemals die Chance dazu gab.
In diesem Sinne hatten die Antisemiten „Recht“, wenn sie linkes, kritisches und revolutionäres Gedankengut als „jüdisch“ angriffen. Tatsächlich zehrte kritisches Denken stets aus den tiefen Einsichten der mosaischen Denkungsart. Alle grundlegenden Momente einer kritischen Theorie der Gesellschaft gehen auf sie zurück: von einer antinational-kosmopolitischen Perspektive über die radikale Analyse des Bestehenden bis zur Einsicht in das menschliche Leben als einen Leidensprozeß.
Philosemitismus ist der Vorwurf, der uns hier fast unvermeidlich treffen wird. Philosemitismus hieße aber eben wirklich unreflektiert alles jüdische zu lieben und dabei von den Juden zu fordern, bessere Menschen als andere zu sein. Genau das aber wollen wir nicht. Wir beziehen uns lediglich auf die Quellen jüdischer Religion und den daraus erwachsenden philosophischen Konzeptionen. Daraus Erwartungen bezüglich des Verhaltens jüdischer Menschen oder gar des Staates Israel zu schmieden, liegt uns fern.
Völlig anders Ulle: obwohl er wissen müßte, daß jeder bürgerlich-kapitalistische Staat aufgrund der kapitalistischen Vergesellschaftungsform rassistische Denkweisen hervorbringen muß, klagt er speziell Israel als rassistischen Staat bzw. als „eine Art Apartheitsregime“ an. Damit vertritt er jene Art von Philosemitismus, die in gefährliche Nähe zum Antisemitismus zu geraten droht. Die Enttäuschung darüber, die „Juden hätten aus ihrer Geschichte nichts gelernt“, ist vorprogrammiert und üblich. Der Umschlag in ein Strafbedürfnis ist weitverbreitet, und in der deutschen Linken seit dem 6-Tage-Krieg präsent. Vom Staat Israel, den er wohl mit Argusaugen betrachtet, verlangt Ulle, besser zu sein, als andere kapitalistische Staaten.
Abb., 2.4k An dieser Stelle muß darüber reflektiert werden, daß Israel als einziger Staat der Welt tatsächlich das Recht hätte, einen Staat nur für das eigene Volk zu begründen. Israel ist nicht nur die Konsequenz aus der Shoa (allein das würde freilich reichen), sondern das Ergebnis der Geschichte des gesamten Antisemitismus und Antijudaismus. Weil Juden nirgends längere Zeit geduldet wurden, weil alle Bildungsprozesse von Nationen stets zur Ausgrenzung von Juden geführt haben, entstand der zwingende Gedanke, einen Staat nur für Juden zu schaffen. Daß der jüdische Staat trotzdem von Anbeginn an ein friedvolles Zusammenleben mit den Arabern anvisierte, sollte ihm hoch angerechnet werden, anstatt permanent auf die realen Probleme des Zusammenlebens zwischen Juden und Arabern zu verweisen, welche wir ganz und gar nicht leugnen wollen. Im Übrigen veranstaltete Israel unter Shimon Peres im Westjordanland die einzigen freien Wahlen, die jemals auf arabischem Gebiet abgehalten wurden.
Logischerweise vollzog sich auch in Israel der Prozeß einer Nationsbildung mit all ihren gefährlichen Folgeerscheinungen: dem nationalistischen Wahn, der Jagd auf Sündenböcke, der Begründung und Ausgrenzung von „Fremden“ und „Bürgern zweiter Klasse“. In diesem Sinne ist Israel ein Staat wie jeder andere – ein Nationalstaat, der sich verwalten muß, der seine Gründungsmythen, seinen Sicherheitswahn(6) und seine Feinde braucht.

Aber all das ist bei Israel eben doch auch etwas anderes. Israel ist gleichzeitig ein Staat wie jeder andere und dabei doch ein besonderer. Besonders ist er als potentielle Heimat von Juden und somit als einziger Nationalstaat der Welt, der wirklich über ein eindeutiges Existenzrecht verfügt. Besonders ist der Staat Israel auch als ein Stück vorweggenommene menschliche Utopie einer befreiten Gesellschaft. Der Zionismus ist nicht nur jene „bürgerliche Ideologie“, als die er von Ulle attackiert wird. Schon gar nicht ist er „per se etwas rechtes“. Zionismus ist der Beweis dafür, daß eine humanistische Denkweise Praxis werden konnte. Freilich mit allen Widersprüchlichkeiten, die sich innerhalb einer nicht-befreiten Welt ergeben. Israel steht dafür, daß es den Juden gelang, sich vor der Jahrhunderte währenden „Rache der Völker“ einen Schutzraum in einem eigenen Staat zu verschaffen. Daß Israel damit gezwungen war, selbst ein geschlossenes Volk zu bilden, um als Nationalstaat zu funktionieren, sollte man gerade nicht Israel, sondern den Völkern aller Länder mitsamt ihren Antisemitismen vorwerfen. Auf den realen Problemen, die der Staat Israel heute in seinem Zusammenleben mit seinen Nachbarn und Minderheiten hat, herumzureiten, ist zynisch. Die aggressive Politik Israels ist zumindest in stärkerem Maße nachvollziehbar, als bei allen anderen Staaten der Welt. Jene wurden nicht begründet, um einer Menschengruppe, die gerade wegen des nationalen Wahns weltweit verfolgt wurde, einen Schutz vor dem Nationalismus der Völker zu gewähren(7).
Israel ist somit gleichzeitig notgedrungen ein Staat des jüdischen Volkes und gerade der Schutzraum der Juden vor den Nationen, die, gerade um Nationen sein zu können, antisemitisch sind(8) und damit das bloße physische Existenzrecht von Juden in Frage stellen. Die „religiöse“ Vision Israel ist erfüllt, wenn es überhaupt keine Nationen mehr gibt, sondern eine befreite Gesellschaft. Solange diese aber nicht absehbar ist, muß auf einen starken und sicheren „weltlichen“ Staat Israel gedrungen werden.

Uns liegt nichts daran, das Leid von arabischen Palästinensern in den Flüchtlingslagern zu verschweigen. Dieses Problem resultiert aus den konkreten Problemen, die der Staat Israel heute hat und irgendwie pragmatisch lösen muß – z.B. in Form der Anerkennung eines palästinensischen Staates. Das aber sollte kein Grund für Linke sein, sich auch nur in irgendeiner Weise mit einem arabischen Nationalismus zu solidarisieren. Ein palästinensischer Staat mag angesichts realer Konflikte unvermeidbar sein – ein linkes Anliegen ist er hingegen niemals.
Betonen möchten wir, daß es überhaupt bedenklich ist, eine befreite Gesellschaft mit der Auflösung des israelischen Staates zu identifizieren (nach dem Motto: jetzt gilt es noch, Israel zu verteidigen als das kleinere Übel, später ist auch dieser Staat dran). So eine Art zu denken, reflektiert nicht auf die spezifisch jüdischen Wurzeln des linken Denkens. Es war gerade das Anliegen der frühen zionistisch-kommunistischen Siedler eine kosmopolitische Gesellschaft zu begründen. Von diesen frühen Siedlern und der theoretischen Tradition, die ihnen vorausging (z.B. dem anarchistischer Theoretiker Gustav Landauer) war erkannt worden, daß die Emanzipation der Juden vom Antisemitismus perspektivisch nur als Auflösung der Völker und als Begründung neuer kosmopolitischer Gemeinwesen funktionieren kann.

Eine kritische Linke und ein radikaler Antifaschismus sollten sich daher stets positiv auf die jüdischen Gründe ihres eigenen Denkens beziehen. Das bedeutet etwa, daß Linke nicht nur dem rechten Vorwurf „Vaterlandsverräter“ zu sein, damit entgegentreten sollten, daß sie sich als Antideutsche und Antinationale gerade dazu bekennen sollten, Feinde der Nation zu sein, sondern sie auch auch den Vorwurf „jüdisch“ zu sein, durchaus ernstnehmen sollten.
Als „jüdisches Prinzip“ verteufelt wurde von den Nationalisten stets das Zeigen von Schwäche(9).Gerade aus diesem Grunde ging der völkisch-biologistische Antisemitismus stets mit der Propagierung männlich-patriarchalen Denkens zusammen. Es galt: als unmenschlicher, harter, deutscher Mann zu leben. Eine Versöhnung mit den jüdisch-kritischen Grundlagen linken Denkens würde also damit einhergehen, mit dem Darstellen und Propagieren von körperlicher Stärke, roher Körperlichkeit und dem Zeigen brachialer Macht zu brechen.
Gefordert ist der Bezug auf subtile Formen des Widerstandes: kritisch-subversives Denken, mühselige begriffliche Anstrengung der kritischen Durchdringung der Gesellschaft, Bewußtmachung des eigenen Leidens, der eigene Schwäche. Die Praxis linker Kritik wäre nicht das von Ulle eingeklagte „differenzierte Nachdenken“, sondern ein Anschmiegen der Kritik ans Objekt. Und eben das ist die Voraussetzung, die Kritik überhaupt erst zur Entfaltung bringt.
Martin, Till

Abbbildungsverzeichnis
Abb.1 Der Staat, Abb.2 Das Kapital

Fußnoten
(1) Das dies nicht geht, ist in erster Linie nur dem "brutalen Vorgehen und Morden der israelischen Armee" zu verdanken. Solidarisierungen mit ihr finden wir - wir begründen es später - gut.
(2) Wer konstruiert? Die Geschichte wird erst nach der Revolution von den Menschen gemacht. Die Ideologie resultiert aus den gesellschaftlichen Verhältnissen und ihren Denkformen.
(3) Schon in der Einleitung zu "Grenzen der Gemeinsamkeiten" heißt es: "Neuer Streit in der Leipziger Politszene". So spricht es eben auch die LVZ.
(4) Adornos Negative Dialektik ist hier so zentral, wie unverständlich.
(5) Der verwendete emphatische Begriff sei hier der bürgl. Unvernunft, die oben beschrieben wird, entgegengestellt.
(6) Obwohl auf der Hand liegt, daß die Angst, die den Sicherheitswahn hervorbringt, in Israel auf deutlich realen Beinen steht.
(7) Auch wenn alle neuen Mini-Staaten mit Schutz des eigenen Volkes argumentieren, klar muß für kritische Linke sein, daß die Dynamik und ihre Entstehungsgründe völlig andere sind.
(8) Nicht notwendig konkret, aber prinzipiell.
(9) Weil sie eben genau wußten - auch wenn es ihnen nicht bewußt war - welche Stärke es in sich birgt



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last modified: 28.3.2007