home | aktuell | archiv | newsflyer | radio | kontakt
[71][<<][>>]

Grenzen der Gemeinsamkeit.

Neuer Streit in der Leipziger Politzszene: Nachdem die „Vereinigung der Palästinenser in Leipzig“ mit dem Verteilen und Verlesen eines antizionistischen Flugblattes auf der Demo gegen „Überwachungsgesellschaft und Sicherheitswahn“ auf ihre Sicht des Nahost-Konfliktes aufmerksam gemacht hatten, ist aus konkretem Anlaß die Diskussion um die Unterstützung nationaler Befreiungsbewegungen und das schwierige Verhältnis deutscher Linker zu Israel neu entbrannt.
Ein Diskussionsbeitrag von Ulle.

I. Überraschung

Nicht wenige TeilnehmerInnen der Demo gegen Überwachungsgesellschaft und Sicherheitswahn dürften darüber erstaunt gewesen sein, als sie der „Vereinigung der Palästinenser in Leipzig“ gewahr wurden. Nicht weil sie durch den im Vergleich zu anderen Blöcken höchsten pro-Kopf-Fahnenanteil und überproportional viel Stimmungsmache auffielen, eher wohl, weil politisch artikulierende MigrantInnen hierzulande eine Ausnahme sind. Dies gilt insbesondere für den Osten Deutschlands.
Das potentielle Ansinnen insbesondere der Antifa mit Gruppen aus dem MigrantInnespektrum zusammenzuarbeiten, bleibt aber nicht nur wegen der rassistischen Zustände, die eine Selbstorganisation von Flüchtlingen immer schwieriger macht, oft nur Lippenbekenntnis, sondern dies liegt auch an der programmatischen Desorientierung der Linken nach 1989. Über Generationen hinweg wurde Linken in der BRD das Internationalismusgebot ansozialisiert. Dies bedeutete im Groben, daß alle sich irgendwie als „links“ selbsteinschätzenden Bewegungen dieser Welt, egal ob sie für die Einführung von grundlegenden Bürgerrechten, einen zur Ethnie passenden Nationalstaat oder für die Weltrevolution kämpften, als Teil eines gemeinsamen politischen Projekts angesehen wurden und ihnen deshalb nicht nur Aufmerksamkeit, sondern auch unkritische Solidarität sicher war. Nach dem die sozialistische Systemalternative das Zeitliche gesegnet hatte, machte es für Befreiungsbewegungen, die jahrelang auf deren Unterstützung gebaut hatten, zumindest praktisch keinen Sinn mehr, die linken Ideale vor sich herzutragen. Ein Großteil der politischen Forderungen, z.B. nach nationaler Selbstbestimmung kam auch ohne linke Rhetorik aus. So ließ sich über die letzten Jahre bei der baskischen ETA, der nordirischen IRA, der kurdischen PKK und auch bei der palästinensischen PLO beobachten, wie ethnische und religiöse Argumentationen linke Inhalte verdrängten. Dies wiederum machte für die Linke in den Zentren der hochentwickelten Industrieländern den positiven Bezug auf nationale Befreiungsbewegungen politisch fragwürdig. Begünstigt von der generellen Schwäche der Linken setzte eine kritische Auseinandersetzung ein, die in Städten wie Leipzig, wo es keinerlei Tradition eines westlinken Internationalismus gab, auf fruchtbaren Boden fiel. Dies war einerseits ein glücklicher Umstand, denn anstatt entgegen allen politischen Realitäten an einer illusionären Revolutionsromantik festzuhalten, konzentrierte man sich nun auf die Leichen im eigenen Keller. Nicht nur die Neuformierung einer selbstbewußten und machthungrigen deutschen Nation stand jetzt stärker im Focus linker Thematisierung, auch die eigenen Fehler konnten in dieser spezifischen Situation (der Schwäche) aufgearbeitet werden. So wurden nach und nach die blinde Liebe zum Volk, die den Rassismus der Massen nicht sah, die falsche Nationalsozialismusanalyse, die den eliminatorischen Antisemitismus der Deutschen nicht fassen konnte und am Ende dieser Kette auch der Antisemitismus in der deutschen Linken zum Verhandlungsgegenstand. In der Leipziger Szene hatten die in den vergangenen 10 Jahren kritisierten Positionen wie gesagt von vorneheierin einen schlechten Stand. Sie konnten sich im Gegensatz zu einigen westdeutschen „Metropolen“ nicht in den politischen Strukturen (Gruppen, Wohnprojekten, Infoläden) festsetzen. Damit ist zu erklären, warum hier die Linke, oder vielleicht genauer, die Antifa von einer traditionskritischen Meinungsbildung geprägt wird. Was im Großen und Ganzen zu begrüßen ist, birgt andererseits doch ein Manko in sich. Dies meint nicht, daß eine antinationale, „postautonome“ Antifa die Kritik des Kapitalismus aus den Augen verloren hat, die jüngste Entwicklung spricht hier eine andere Sprache. Es geht vielmehr - zumindest ganz konkret vor Ort - um den selbstbezogenen Blickwinkel der hiesigen linken Gruppen. Zwar ist es schlauer, die eigenen linken Utopien nicht mehr wahllos den nationalen Emanzipationsbewegungen der sog. „Dritten Welt“ aufzubürden, aber dies sollte kein Grund sein, nicht mit den VertreterInnen, die sich weiterhin als links verstehen und hier als MigrantInnen selbstorgansierte Politik machen, die Diskussion zu suchen. Daraus wächst kein neues strategisches Konzept für die Linke dieser Welt, es läßt sich aber feststellen, welche Grundpositionen überhaupt noch geteilt werden und welche thematischen Gemeinsamkeiten existieren.
Um auf den Punkt zu kommen: Bei der Kritik an Aktionen politischer MigrantInnen sollte bedacht werden, was kritrisiert wird. Auch wenn zu vermuten ist, daß bei der Diskussion mit Palästinensern, die gegen die Politik Israels protestieren, das Streitpotential sehr hoch ist, ja sich die Diskussion mit einiger Wahrscheinlichkeit auf vermintem Gelände abspielt, muß der politische Inhalt Ziel der Kritik sein und nicht schon die Tatsache, daß sich eine Gruppe, von der sonst eher weniger zu hören ist, jetzt lautstark politisch artikuliert. Wer die Form, das Aufreten, „... daß da Palästinenser/Araber/Fundamentalisten demonstrieren ...“ etc. unangenehm findet, sollte bedenken, daß sich hier schnell das Gefühl mit dem Vorurteilsrepertoire der deutschen Volksgemeinschaft gemein macht und daß es zum rassistischen Allgemeingut hierzulande gehört, MigrantInnnen keine politische Stimme zu geben bzw. nicht als politische Subjekte wahrzunehmen. Dies ist aber andererseits kein Freibrief für alle möglichen politischen Argumentationen. Es gibt keinen bzw. es sollte keinen „Ausländerbonus“ bei der Äußerung abzulehnender politischer Inhalte geben. Es gibt spezifische, zum Beispiel aus historischen Gründen voneinander abweichende Sichtweisen. Es gibt aber auch deutliche Grenzen gemeinsamer Politik. Diese lassen sich nur in inhaltlichen Auseinandersetzungen finden. Eine Demonstration ist dafür ein denkbar ungeeigneter Ort. Hier kann zwar hervorragend symbolisiert aber kaum argumentiert werden. So neigt die politische Präsentation von Inhalten auf Demos zur Bestätigung von Vorurteilen.
Die Überraschung, teilweise zunächst nur vorurteilsbehaftete Abneigung gegenüber den Palästinensern auf der Demo am 14.10. wäre geringer ausgefallen, hätte es vorher eine gemeinsame Standortbestimmung gegeben. Daß es dazu nicht kam, liegt nicht ausschließlich an der örtlichen Antifa, sondern auch an der Schwäche antirassistischer Gruppen und politischer MigrantInnen-Organisationen vor Ort.

II. Grenzen der Gemeinsamkeit

Was ist nun eigentlich passiert? Die „Vereinigung der Palästinenser in Leipzig“, eine nach Selbstauskunft linke Gruppierung der palästinensichen Community der Stadt, hat sich an der Demo gegen Überwachungsgesellschaft und Sicherheitswahn beteiligt, um gegen die israelische Politik im derzeit eskalierten Nahostkonflikt zu protestieren. Als erstes fielen wohl die zahlreichen Fahnen auf. „PLO-Fahnen“ nannte
Plakat I, 5.0k

Jahrelang linke politische Praxis: Unkritische Solidarität mit nationalen Befreiungsbewegungen....

Plakat II, 22.4k

...bis hin zu Boykottauforderungen, deren Parallelen zur nationalsozialisitschen Politik unübersehbar sind.

man sie früher des öfteren, heute können sie als symbolischer Ausdruck eines in der Gründung befindlichen palästinensichen Staates gelten. Natürlich wäre es falsch gedacht, hier eine ungebrochene Analogie zu einem schwarz-rot-goldenem Fahnenmeer zu entwerfen. Ohne spezialisierter Kenner der politischen Situation im Nahen Osten zu sein, vermute ich, daß die Fahnen ebenso als allgemeines Symbol des Widerstandes gelten. Und der ist nicht ungerechtfertigt. Die Palästinenser stilisieren sich nicht nur aufgrund historischer Mythen zu einem Volk, welches heute unterdrückt wird, sondern werden durch die Ausgrenzungspolitik Israels, die teilweise rassistische Züge trägt, aber auch durch die Flüchtlingspolitik der arabischen Nachbarstaaten als „die Palästinenser“ unterdrückt. Selbst ethnische Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft werden als Bürger zweiter Klasse angesehen. Schlimmer trifft es die BewohnerInnen des Gaza-Streifens und des Westjordanlandes, die in der Mehrheit unter regiden Aufenthaltsbeschränkungen, Kontrollen, schikanöser Wasserzuteilung, Arbeitslosigkeit, politischer Repression zu leiden haben etc. Daß sie also die Nationenform als vereinenden politischen Rahmen akzeptieren und mehr oder weniger alle den selbstbestimmten Staat als ein gemeinsames Hauptziel der Politik anstreben und dabei von realen Klassen- und Schichtenunterschieden, sozialen Forderungen, antipatriarchaler Emanzipation und religiösen Unterschieden absehen, ist zumindest nachvollziehbar. Links ist der Kampf für den eigenen Nationalstaat allerdings nicht.
Im Gegensatz zu den Fahnen war das Skandieren der Demo-Parole „Israel No - PLO“ richtig Scheiße. Sicher, die Entrüstung über die vielen toten Palästinenser, die bei den Auseinandersetzungen um’s Leben kamen, ist verständlich. Ein Grund, das Existenzrecht Israels abzulehenen, ist es nicht. Schon die aktuell-politischen Hintergründe der derzeitigen Eskalation gehen nicht ohne weiteres auf das Konto der Israelis. Ganz im Gegenteil. Keine Regierung vorher hat gegenüber den Palästinensern solche Zugeständnisse gemacht wie die von Ehud Barak. Festmachen läßt sich dies in aller erster Linie an dem Angebot, Jerusalem als Hauptstadt sowohl eines zukünftigen palästinensichen Staates als auch von Israel zu teilen. Es war Arafat, der in Camp David die Fortsetzung des Friedensprozeßes scheitern ließ. Nichtsdestotrotz war es eine Provokation, als Ariel Scharon, der Oppositionsführer des rechtsgerichteten Likud, die Aksa-Moschee auf dem Tempelberg besuchte. Zwar steht sie nach geltendem Recht auf israelischem Staatsgebiet, aber der von einem großen Medien- und Polizeiaufgebot begleitete Besuch eines bekennenden Friedensprozeßgegeners mußte Gegenreaktionen hervorrufen. Daß sie so wütend ausfielen, liegt einerseits an einem jahrelang aufgestautem Frustrationspotenial, aber eben auch an den Scharfmachern auf palästinensicher Seite. Und die werfen keinesfalls ausschließlich mit Steinen. Sowohl Arafats Polizei als auch bewaffnete Teile der Fatah, dem militanten Flügel der PLO, und natürlich die Mitglieder der Hamas schießen scharf. Zweifelsohne würden sie, wenn sie die Gelegenheit dazu hätten, auch noch mehr israelische Soldaten lynchen. Daß die heraufbeschworenen Gegenreaktionen der israelischen Armee trotzdem dazu in keinem Verhältnis stehen, ist die einzige aktuelle Kritik, die man gegewärtig an Israel gelten lassen sollte.
Zur Legitimation der oben benannten Demo-Parole reicht sie nicht. Bei aller Betroffenheit der Palästinenser, so müssen auch sie mit ihren politischen Forderungen der Tatsache Rechnung tragen, daß Israel der Staat der Holocaust-Überlebenden ist. Die Forderungen, daß Israel verschwinden soll, löst automatisch historische Assoziationen aus. Daß die positive Anspielung auf den deutschen Versuch, die Juden zu vernichten durchaus bei vielen Palästinensern sowie in vielen anderen arabischen Staaten anzutreffen ist, davon wissen selbst ansonsten ahnungslose MittelmeertouristInnen am Ende ihrer Trips nach Ägypten, Tunesien, ... ein Lied zu singen. Und wie bitteschön, soll eine solche Parole in Deutschland rezipiert werden? Es hieß, die BürgerInnen, die am Rande die Demo beobachtet haben, hätten sehr wohlwollend auf die palästinensischen Sprechchöre reagiert. Ich weiß es nicht, ich habe es nicht selber gesehen. Aber vorstellbar find’ ich es allemal. Was sonst können Bürgrinnen und Bürger im Land der Täter, in dem zwei Drittel sich einen Schlußstrich unter die Diskussion um die Judenverfolgung wünschen, an einer linksradikalen Demo gut finden, außer der Forderung, daß der „Judenstaat“, der schon qua Existenz immer an den Vernichtungsversuch erinnert, zu verschwinden hat?
Eine Linke, die in Deutschland das Verschwinden von Israel herbeischreit, ist keine mehr. Bevor Deutschland und das Deutschsein nicht abgeschafft sind, ist die Existenz des Staates Israel als Konsequenz der Geschichte zu verteidigen. Auch eine palästinensische Linke muß sich mit dieser Situation auseinandersetzen. Und sie hat es in der Vergangenheit auch schon getan. So hat die PLO vor einigen Jahren das Existenzrecht des Staates Israel aufgrund dessen historischer Entstehungsgeschichte und als Voraussetzung für die Partnerschaft beim beginnenden Friedensprozeß anerkannt – zumindest auf dem Papier und für die Weltöffentlichkeit.
Für die „Vereinigung der Palästinenser in Leipzig“ scheint daraus keine differenziertere Sichtweise zu folgen. Vom besagten Sprechchor abgesehen, zeigt auch ihr Flugblatt eine Ignoranz gegenüber der Geschichte und gegenüber den Rezeptionsbedingungen für die hieruzulande artikulierte Kritik an israelischer Politik. Israel, daß sind auf ihrem Flugblatt die „zionistischen Eroberer“. Daß der Zionismus als bürgerliche Ideologie mit dem Ziel eines jüdischen Nationalstaates einen großen Anteil an der Staatsgründung von 1948 und auch an der schon vorher in Gang gesetzten Vertreibung der Palästinenser aus dem britischen Mandatsgebiet hatte, ist zweifellos richtig. Ohne den Holocaust läßt sich der Erfolg des Zionismus jedoch nicht verstehen. Zionismus ist im übrigen nicht per se etwas rechtes, quasi-faschistisches. Sowohl Rechte als auch Kommunisten und Sozialisten machten sich vor und besonders nach 1945 die Idee zu eigen, einen jüdischen Staat zu gründen. Bis heute hat sich an diesem Pluralismus nichts geändert.
Trotzdem hat man auch heute noch in Diskussionen über Israel hin und wieder den Eindruck, erklären zu müssen, daß Israel kein faschistischer Staat ist. Das Flugblatt der „Vereinigung der Palästinenser in Leipzig“ haut in dieselbe Kerbe: „Wer kaltblütig Kinder vor den Augen der Welt ermordet, was ist der anders als ein Faschist, ein Verbrecher, ein Rassist.“ Auch wenn es aus der Wut geschrieben ist, bleibt es falsch. Das Vorgehen der israelischen Armee ist oft unverhältnismäßig, die Politik Israels gegenüber den Palästinensern kann als eine Art Apartheidsregime abgelehnt werden – ohne Frage. Aber in Israel herrscht, auch wenn man es seit Jahren herbeizupolemisieren versucht, einfach kein Faschismus. Der Vorwurf, von seinen Urhebern als moralischer Verstärker ins Feld geführt, geht nicht nur an den politischen Realitäten vorbei, er relativiert die historischen Verbrechen des Faschismus und ist und bleibt in Deutschland ein dankbar aufgenommenes Entlastungsargument. Er steht hier in der Tradition einer „...(links-) deutsche(n) Sehnsucht nach (...) Entlastung von der Haftung für die eigenen nationalhistorischen Hypotheken....“, so Martin W. Kloke im Standardwerk „Israel und die deutsche Linke“. Sicher gibt es den Unterschied, aus welcher lebensgeschichtlichen Perspektive die israelische Palästina-Politik mit faschistischen Verbrechen gleichgesetzt wird. Doch das „Verständnis“ für die historische Unsensibilität rechtfertigt noch lange nicht ihren Inhalt.
Der Faschismusvorwurf bleibt nicht er einzige Grund zur Aufregung, den das Flugblatt der Palästinenser bietet. Gefühlstriefend stilisiert sich die verfassende Gruppe, mitsamt allen Palästinesern zu unschuldigen Opfern einer ausschließlich israelischen Eskalationspolitik. Sie sind es, die „... den Frieden und die Gerechtigkeit (lieben) (...) und (...) mit dem Finger auf die wahren Verbrecher zeigen ...“. Nicht nur das Bild der Palästinenser, die nach dem Lynchen israelischer Soldaten in Ramalah stolz und wahnhhaft ihre im Blut der Opfer gebadeten Hände präsentieren, spricht gegen diese reinwaschende Verallgemeinerung. Wenn dies das Verständnis von ihrem „Recht auf Selbstverteidigung mit allen Mitteln“ ist – schon die Formulierung klingt im Kontext der jüngsten Geschichte des Nahostkonflikts wie die ankündigende Legitimierung von Selbstmordattentaten –, so können sie sich eine linke Solidarität heute hoffentlich abschminken. Und erfolgreich wäre die einst von den Antinationalen intendierte Auseinandersetzung um den Zwangscharakter von Volk und Nation, wenn die Passage des Flugblattes, in welcher der „Wille der Völker“ beschworen wird, nicht romantische Hingabe, sondern distanzierendes Nachdenken produziert.

III. Israel oder Palästina?

Eine Positionierung im Nahostkonflikt ist nicht zum Nulltarif zu haben. Besonders die historischen Implikationen sollten einen Zwang zum verantwortungsvollen Sprechen nachsichziehen. Die positive Bezugnahme eines Sprechers der Antifa/M auf den Redebeitrag der Palästinenser, welcher zu großen Teilen dem Flugblatt entsprach, ist deshalb – gelinde gesagt – unbedacht. Zwar war der Beitrag nicht antisemitisch, wie es ein anderer Kommentar aus dem Lautsprecherwagen nahelegte; ein Grund zur Freude oder zur Solidarität war er aber bei weitem nicht. Man kann nur hoffen, daß die Soli-Erklärung der besagten Antifa der wunschgesteuerten Halluzination entsprang, daß mit der Anwesenheit einer palästinensischen Abordnung die weltgeschichtliche Bedeutung der Linken ein Fitzelchen zunimmt. Da Verlangen schon mal den Blick trüben kann, soll nicht weiter darauf rumgehackt werden.
Anzuerkennen ist, daß es mittlerweile in vielen linken Gruppen ein sensibilisiertes Verständnis für linken Antizionismus und Antisemitismus gibt, zumal es auch heute noch einen Bodensatz von linken Antisemiten gibt. Dies wurde auch auf der Demo sichtbar, als OrdnerInnen der Demoleitung als „Judenfreunde“ in negativer Absicht bezeichnet wurden. Sicher existiert gegenwärtig so etwas wie die übertriebene gegensätzliche Position einer prozionistischen Haltung. Sie liebt unreflektiert alles „jüdische“ und verbietet sich selbst die Kritik an jeglicher israelischer Politik. Auch sie ist wie der antizionistsiche Vorläufer ein Ausdruck für die Suche nach einer lupenreinen politischen Identität. Solange es in Deutschland noch einen grassierenden Antisemitismus gibt, bleibt sie das kleinere Übel. Um es konkret zu machen: Es ist nicht besonders „progressiv“, ein T-Shirt der israelischen Armee zu tragen, für einen deutschen Judenfeind bleibt es eine der wirkungsvollsten Provokationen. Aus diesem Grund sollte man sich über solche Ausformungen der linken Suche nach einer moralisch eindeutigen Position nicht über alle Maßen ereifern. Zumal wenn man bedenkt, daß seit 1967 bis zum Golfkrieg die Mehrheit der deutschen Linken Israel als „Sperrspitze des Imperialismus“ verdammte. Unter Ignorierung der besonderen historischen Umstände der Staatsgründung wurden beim antizionistischen Engagement jahrelang Stereotype, wie die des geldgierigen und streitsüchtigen Juden reproduziert. Heute, wo die bedeutenden Fehlleistungen dokumentiert und mehrfach Gegenstand linker Thematisierung sind, ist klar, daß die derzeitigen prozionistischen Haltungen, sowohl in ihrer Bedeutung als auch in ihrem Ausmaß in keinem Verhältnis dazu stehen. Im Gegensatz zur antizionistsichen Ausrichtung der Linken nach 1967, insbesondere der Autonomen in den 80er Jahren, sind sie kein Programm. Sie richten sich unter anderem auch nicht gegen einen palästinensischen Staat oder gegen die Palästinenser an sich. Demzufolge ständen sie auch keiner Diskussion um die politischen Gemeinsamkeiten zwischen deutschen und palästinensichen Linken im Wege. Falls diese überhaupt gewünscht wird.


home | aktuell | archiv | newsflyer | radio | kontakt |
[71][<<][>>][top]

last modified: 28.3.2007