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Plädoyer für die Systemfrage.

Mit ihrer Autobigraphie hat Inge Viett, ehemaliges Mitglied der Bewegung 2. Juni und der RAF ein eindrucksvolles Zeichen wider den Zeitgeist gesetzt, der den Kapitalismus als das Ende der Geschichte begreift und den Widerstand dagegen als Terrorismus diskreditiert.

Die Lebensgeschichte der Frau, der es zweimal gelang, aus dem Gefängnis zu entfliehen, die an der einzigsten erfolgreichen Befreiung von politischen Gefangenen in der BRD durch die Entführung von Peter Lorenz beteiligt war und die Anfang der 80’er Jahre nach dem Scheitern des bewaffneten Kampfes in den westlichen Metropolen Zuflucht in der DDR fand, ist nicht nur die Aufarbeitung des persönlichen Lebensweges, sie ist ein Stück Geschichte des Widerstandes gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit.
Es ist ein politisches Buch, aber nicht geschrieben aus missionarischem Eifer und ebenso ohne Pathos verfaßt, dazu weiß Inge Viett die gegenwärtigen politischen Verhältnisse realistisch genug einzuschätzen, sondern es ist vor allem als Teil einer Strategie zu verstehen, während des dritten Freiheitsentzugs (1990-1997), in den Justizvollzugsanstalten nicht an der „geistigen Isolation“ kaputt zu gehen, den Zwängen der scheinbar entpolitisierten Umwelt im Knast und der dadurch angestrebten Neutralisierung des Subjekts nicht nachzugeben: „Ich schreibe, um hinter den Mauern lebendig zu bleiben.“
In den 50er Jahren in einem Dorf in Schleswig-Holstein als Pflegekind aufgewachsen, indem das „Sieg Heil“ noch die gängige Begrüßungsform darstellte und der Dorfschullehrer regelmäßig über die „endliche Zerschlagung des Jüdisch-Kommunistischen Gebildes“ östlich der Elbe referierte, spürte Inge Viett die Kontinuität der nationalsozialistischen Ideologie. Dies und nicht die sozialpsychologischen Interpretationen ihrer elternlosen Kindheit, sind die maßgeblichen Anfänge einer dissidenten Sozialisation. Mit Nachdruck wehrt sie sich gegen die fortdauernde öffentliche Darbietung als „Heimkind“, in der die spätere Entwicklung als quasi-vorprogrammiert impliziert wird und legt die wirklichen Gründe für die radikale Opposition gegen das System dar: „Was uns in die Radikalität trieb, war die soziale Kälte einer herzlosen Kriegergeneration, die ihre beispiellosen Verbrechen leugnete oder verdrängte, die unfähig war, uns anderes als Besitzdenken und Anpassung zu lehren, die den Vietnamkrieg unterstützte, weil sie ohne Umschweife von der Vernichtungsstrategie gegen die „Jüdische Weltverschwörung“ zur Vernichtungsstrategie gegen die „Bolschewistische Verschwörung“ übergegangen war, eine Generation, die nichts dabei fand, daß ehemalige Massenmörder zu dekorierten Helden der Demokratie gekürt wurden.“
viet, 3.9k

Inge Viet, Nie war ich furchtloser
Erinnerungen an eine Jugend in Deutschland, den Aufbruch von 1968 und die bewaffneten Aktionen der »Bewegung 2. Juni« und der RAF sowie ein Leben in der DDR.
Gebunden mit SU. Edition Nautilus, 39,80 DM

Vorerst blieb Inge Viett aber nur die Flucht aus den beengten Zuständen der Provinz in die vom Charme der amerikanischen Besatzung wenigstens kulturell etwas aufgelockerte Atmosphäre der Großstadt. Mit Auflodern der Studentenbewegung, Ende der 60er, mit den Nachrichten von militanten Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg und den Anschlägen auf den Springer-Konzern, läßt sich auch Inge Viett aus ihrer „selbstbezogenen Trübnis“ ziehen. In Berlin-Kreuzberg lebt sie eine Zeitlang in den Freiräumen, die sich die Kultur-, Homo- und Künstlerbohemè jener Tage erschlossen hat und genießt die Zeit, in der durch die Thematisierung von sexueller Freiheit, kollektiven Lebensformen und der Ablehnung althergebrachter Autoritäten alles in Bewegung zu sein scheint. Doch dies reichte ihr bald nicht mehr aus. Sie erkannte, daß die Betonung des Lebensstils innerhalb der Bohemè im Symbolischen befangen blieb und bei seinen Protagonisten nicht über „das persönliche Wohlbefinden hinausführte“.
Inge Viett schloß sich der Bewegung 2. Juni und nach deren Auflösung der RAF an, um mit bewaffneten Aktionen die „Radikalisierung der Widersprüche“ voranzutreiben, um aus der Revolte die Revolution hervorgehen zu lassen. Nicht einmal zehn Jahre nach diesem Entschluß, wird ihr klar, daß die militante Praxis nicht von Erfolg gekrönt ist. Die bewaffneten Aktionen agitieren nicht die Massen, ganz im Gegenteil, diese wenden sich im Zuge der immer härter ausgetragenen Konfrontation zwischen Staat und RAF von der „revolutionären Avantgarde“ ab. Niemand außer einer kleinen Minderheit will in Westeuropa revolutionäre Veränderungen. Inge Viett entschließt sich daraufhin mit Hilfe des MfS in der DDR eine neue Existenz aufzubauen. Für sie bedeutet dies nicht die Aufgabe ihrer politischen Ideale, der Aufenthalt im Realsozialismus ist nicht die Flucht in die kleinbürgerliche Schrebergartenidylle, denn Viett begreift die DDR in erster Linie als „Versuch, den Sozialismus zu praktizieren und zu behaupten“. Unnötig zu betonen, daß ihr Verhältnis zu diesem Staat kein unkritisches ist. Mit dem Zusammenbruch der maroden DDR, stößt ihr Engagement für eine bessere Gesellschaft wieder an die Grenzen der politischen Realität. Ohne Illusionen sieht sie ihrer erneuten Verhaftung entgegen. Sie weiß, ein erneutes Untertauchen wäre diesmal nicht gleichbedeutend mit einer individuellen und politischen Perspektive. So bleibt Inge Viett nur die Möglichkeit ihre moralische und politische Integrität während des Verfahrens – als einzige, der in der DDR verhafteten ehemaligen Angehörigen der RAF, geht sie nicht auf die Kronzeugenregelung der Bundesanwaltschaft ein – und danach erneut gegen die allgegenwärtige Repression des Knastalltags zu behaupten.
Daß Inge Viett heute den bewaffneten Kampf unter den gegenwärtigen Bedingungen als unrealistisches Konzept für revolutionäre Veränderungen einschätzt, ändert nichts an der Tatsache, daß die gesamte Autobiographie als Plädoyer dafür, auch weiterhin die Systemfrage zu stellen, gelesen werden muß. ulle

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last modified: 28.3.2007