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Sag nicht, Du hättest nichts gewußt

Was war eigentlich 1993 die Ursache für den beliebten Brauch der Lichterkette? Was war die Ursache für spontane Demonstrationen nach Solingen?
Es waren die Brandanschläge von Faschisten. Nicht die Tatsache das Menschen starben, sorgten für die allgemeine Empörung. Für Empörung sorgte, daß junge Menschen die Angelegenheit in die eigene Hand nahmen und ohne sich um das staatliche Gewaltmonopol zu kümmern, einfach handelten. Dem wurde Abhilfe geschaffen! Das Asylrecht wurde praktisch abgeschafft. Der Staat übernahm das Geschäft der jugendlichen Mordbrenner. Er stattete es mit einer Bürokratie, Gerichtsentscheiden und Amtssiegeln aus und stellte so Ruhe her. Die Lichterketten sind weg, spontane Demonstration wegen toter Asylbewerberinnen finden nicht statt, das Ausland lehnt sich beruhigt zurück.
Im Sommer 1994 hielt die Bundesrepublik nach Angaben der einzelnen Länderbehörden 3440 Menschen gefangen. Inhaftiert in Justizvollzugsanstalten wie andere Verurteilte auch oder in speziellen Sonderabteilungen der Gefängnisse, oft auch in Containern im Anstaltsgelände. Inhaftiert in eigens eingerichteten Sondergefängnissen oder gehalten im Polizeigewahrsam. Haftgründe sind abgelehnte Anträge auf Asyl, aber auch Anträge bei denen entschieden wurde, daß ihre Ablehnung wahrscheinlich ist. Der Rechtsstaat findet nicht mehr statt. Diese Praxis fordert Opfer. Selbstmordversuche sind immer häufiger die Konsequenz aus einer Situation, die für die Flüchtlinge entwürdigend und hoffnungslos ist. Häufig nicht einmal ausreichend darüber informiert, was und warum es passiert, wählen viele den Freitod. Son Ha Hoang, Kwaku Agyei, Daniel Lopez, Emmanuel Ehi, Emmanuel Thomas Tout, Zhou Zhe Gun sind nur stellvertretende Namen für Menschen, die in der "freien Welt" in den Tod getrieben wurden. Die Behörden hier haben geschafft, was die Regimes aus denen diese Menschen geflohen waren nicht schafften. Sie haben ihnen jede Hoffnung genommen.
Die Anzahl der Todesopfer steht der der Brandanschläge in nichts nach. Wurde bei den Menschen, die sich 1993 aus dem Fenster stürzten, weil ihnen ein Tod in den Flammen drohte zurecht von Mord gesprochen, sprechen die Behörden bei Sprüngen aus ihren Fenstern von Selbstmord. Das den Springenden Folter und Tod schon auf den Flughäfen drohen, auf die sie von Frankfurt aus direkt geflogen werden, belegt nicht nur Kuldeep Singhs Schicksal, der im Airport von Neu-Delhi zu Tode geprügelt wurde, nachdem sein Antrag auf Asyl als "offensichtlich unbegründet" abgelehnt wurde. Ein Versehen heißt es behördlicherseits. Aber nicht nur die Vielzahl solcher "Versehen" läßt die Abschiebemaschinerie als mörderisch erscheinen. In und um Altenburg, in Jena und Gera hatten insgesamt 49 Flüchtlinge aus Armenien Kirchenasyl gesucht, um ihrer Abschiebung zu entgehen. Am 8. November verließen die letzten die kirchlichen Räume. Das Innenministerium Thüringens hatte zuvor Folgeanträge zugelassen, da dem Auswärtigen Amt neue Erkenntnisse zur Lage in Armenien gekommen waren. Sieben Wochen nachdem, die Abschiebung verfügt worden war. Wäre die Kontroverse Staat - Kirche nicht gewesen, wobei das Innenministerium schon mit Räumung drohte, hätten die 49 Menschen wohl einfach Pech gehabt, daß sie sieben Wochen zu zeitig geflohen waren. So als hätten die Flüchtlinge alle eine zweite Chance zur Flucht, entscheiden die Behörden im Zweifel gegen sie. Wer nicht bis ins kleinste Detail, bei der ersten Befragung versteht sich, darlegen kann, wie das Auswärtige Amt die Lage einschätzt, wer nicht alle Namen kennt, die das Auswärtige Amt im entsprechenden Fall für wichtig hält, wird abgeschoben.
Für die Behörden sind nur die Statistiken wichtig, die beweisen: weniger Flüchtlinge, weniger positive Bescheide, schnellere Abschiebung. Der Bundesgrenzschutz sichert derweil die Grenzen mit Nachtsichtgeräten und allerlei anderem technischen Gerät. Erfolgsmeldungen vom Aufgriff "illegaler Grenzgänger" sind an der Tagesordnung, von der Rettung verzweifelter Menschen, die beim Durchschwimmen von Oder und Neiße vor dem Ertrinken bewahrt wurden, kein Wort. Das ist auch nicht die Aufgabe der Grenztruppen der BRD. Sicherung der Staatsgrenze heißt ihr Auftrag, die Opfer bleiben ungezählt.
Nur wenige, spektakuläre Protestaktionen dringen an die Öffentlichkeit. Beispielsweise die Revolte von mit Abschiebung bedrohten Häftlingen in Kassel, der am 25.7.94 die GSG 9 ein Ende setzte. Bisher erwarb sich die GSG 9 ihren zweifelhaften Ruhm als mordende Antiterroreinheit, der Status, der den grundlos Gefangenen zuerkannt wird, ist somit wohl auch klar. Auch die in der Leipziger JVA Kästnerstraße festgehaltenen Asylgesetzopfer, die am 13.10.94 revoltierten, wurden von den hundert Sicherheitsbeamten sicher nicht mit Samthandschuhen angefaßt. Auch der Hungerstreik von 60 in Berlin auf Abschiebung wartenden Menschen, die für die Freilassung von 30 seit über drei Monaten gefangen gehaltenen kurdischen und palästinensischen Menschen protestieren, war nicht erfolgreich. Eine sogenannte "Sicherungshaft" kann für sechs Monate angeordnet und um ein Jahr verlängert werden, "wenn der Ausländer versucht, seine Abschiebung zu verhindern". Die in Berlin übliche Regelung, daß eine Haft über den Zeitraum von drei Monaten hinaus, nicht zulässig ist, wenn die Abschiebung aus Gründen, die nicht im "Verschulden" der von Abschiebung Bedrohten liegt, wird, wie am Beispiel der 30 Festgehaltenen deutlich wird, die vom Libanon keine Einreiseerlaubnis erhalten, nicht angewandt. Einziger Erfolg des Hungerstreiks: Staatssekretär Armin Jäger (CDU) sieht ein, daß auch für "längere Zeit dort Befindliche" die Haftanstalt geeignet sein sollte und verweist auf eine geplante Haftanstalt in Köpenick mit fürstlichen 6(!) Quadratmetern für jeden Insassen.
Bei soviel Zynismus drängen sich Parallelen zu den Praktiken im faschistischen Deutschland auf. Wer wird in 20 Jahren den Mut haben, zuzugeben dies alles unter dem Weihnachtsbaum gewußt zu haben, aber einfach nicht, das Gefühl gehabt zu haben, dagegen sei etwas zu tun geboten. Vielmehr wird es wohl heißen: "Davon haben wir doch nichts gewußt!" Wer macht sich schon Gedanken darüber, warum bis in weit in linke Kreise Hinein seit ein paar Jahren die Nationalität von StraftäterInnen eine große Rolle zu spielen scheint: "Zwanzig Jugoslawen haben ...", "Die wahrscheinlich rumänischen Täter ...", "Die Täter, wahrscheinlich Kubaner, ..." Wen interessiert eigentlich, was neben dem eigenen Leben passiert? Damals wie heute reicht der Schein der Legalität aus, zu garantieren, daß niemand seine Stimme erhebt. Verbrechen die im Namen des Staates begangen werden interessieren wieder nicht. Natürlich war von 33-45 alles schlimmer. Aber die Alternative zum Holocaust, war in den Diskussionen der faschistischen Machthaber, die Aussiedlung der jüdischen Menschen. Die Menschen, denen heute zugeschrieben wird, "das Problem" zu sein, droht nicht der Tod in einem Vernichtungslager. Ihnen droht "nur" Internierung und Abschiebung. Zwar geht es dabei auch nicht um ihr Leben, aber damit, daß der Staat sie nicht selbst vernichtet, hat er auch schon ausreichend die Parallelen verwischt. Das dahinter dieselbe Logik steht, das die Beamten und schwarzen Sheriffs der privaten Sicherheitsunternehmen wieder alle nur ihren Dienst tun, egal ob andere dabei verrecken, das die Öffentlichkeit wieder tolerierend schweigt, das es immer noch darum geht die Mißliebigen loszuwerden, das sich die Menschen kein Stück geändert haben, wer will das sehen?

Proteste gegen den "Asylkompromiß" regen sich sacht. Die Evangelische Kirche in Deutschland fordert Nachbesserungen, im ZDF-Magazin "Kennzeichen D" wird eine kritische Reportage zur Umsetzung der neuen Asylgesetze auf Kosten der Menschenrechte geendet. Aber in der Linken ist Ruhe eingekehrt. An bestehenden Gesetzen wird nicht mehr gerüttelt. Dabei stehen die Chancen günstig, mit einer breiten Öffentlichkeit, die Lage zu verbessern, Asyl- und Abschiebepraxis grundlegend in Frage und Magirius mit seiner Kerze vor die JVA Kästnerstraße zu stellen. Nicht nur in Leipzig müssen die Bewegten und Betroffenen zum Handeln erst noch gedrängt werden. Wer dies aber nicht probiert, hat den entscheidenden Schritt verschlafen, er ein Kippen des rassistischen Konsensİ ermöglicht! Nicht nur die Aufgabe von Flüchtlingshilfe und Antifa, eine Aufgabe für alle.
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last modified: 28.3.2007