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Die Relevanz der Freudschen Psychoanalyse

… für eine materialistische Kritik des patriarchalen Geschlechterverhältnisses.
Verschriftlichung eines Vortrags, gehalten in Göttingen am 14.12.2007

      „Die analytische Theorie denunziert die Unfreiheit und Erniedrigung der Menschen in der unfreien Gesellschaft ähnlich wie die materialistische Kritik einen von der Wirtschaft blind beherrschten Zustand. Aber unter ihrem mit dem Tode verschworenen Medizinerblick gerinnt die Unfreiheit zur anthropologischen Invariante ...“
      Th. W. Adorno: Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie, S. 62
Einleitung/Problemaufriss

Weshalb ist die Psychoanalyse für die Gesellschaftskritik relevant? Kritische Gesellschaftstheorie changiert zwischen zwei Polen, dem Subjektiven und dem Objektiven. Das Subjekt einerseits und die verobjektivierten, verselbständigten gesellschaftlichen Verhältnisse andererseits sind real getrennt. Materialistische Gesellschaftskritik muss beide in ihrer Unversöhntheit und in ihrem Verhältnis zueinander begreifen. Kritik der politischen Ökonomie, wie Marx sie in seinem Spätwerk betreibt, 1. Mai-Plakat, 24.1k geht dem dialektischen Verhältnis von Individuum und Gesellschaft nach. Sie versucht die Rolle des Individuums beim Konstitutionsprozess der Gesellschaft zu fassen. Psychologie, verstanden als die Frage, wie diese Gesellschaft in das Individuum hineinragt, war jedoch nicht Marxens Thema. Die Freudsche Psychoanalyse bietet sich hier an, weil sie die einzige Psychologie ist, „die im Ernst den subjektiven Bedingungen der objektiven Irrationalität nachforscht“(1).
Aber die Psychoanalyse ist als Ideologie aufzufassen. Sie als Instrument zu begreifen, mittels ihrer Methoden die Subjekte in der warenproduzierenden Gesellschaft zu analysieren, wäre selber affirmativ und unkritisch. Denn Freud ist mehr als ein scharfsinniger Beobachter der bürgerlichen Welt; er interpretiert sie auch. In seiner Deutung gerinnt die Unfreiheit zur anthropologischen Invariante. Er erklärt gesellschaftlich bedingte psychische Züge der Menschen zu natürlichen Wesensarten. Durch diese Anthropologisierung verfestigen, verhärten sich diese Züge und werden der Veränderung unzugänglich. Ebenso hypostasiert er das patriarchale, hierarchische Geschlechterverhältnis(2). Auch oder gerade für Freuds Aussagen zum weiblichen Geschlechtscharakter gilt: er ist kein objektiver Beobachter. Seine eigene Verfangenheit in patriarchalen Geschlechterstrukturen behinderte ihn in der Aufklärung des psychischen Schicksals der Frau. Renate Schlesier nennt dies eine halbierte Aufklärung(3). Eine halbierte Aufklärung ist keine halbe sondern eine falsche, weil sie alte durch neue Mythen ersetzt. Freud schuf den immer noch populären Mythos von der kastrierten Frau, der Frau ohne eigenem Geschlecht, der Frau mit dem Minus-Geschlecht. Dieser Mythos bedarf weiterer Aufdeckung. Ihn zum Gegenstand einer erneuten Analyse werden lassen, kann die Aufklärung weitertreiben. Entscheidend ist dabei, dass Freud nicht einfach objektiv Beobachtungen aufschrieb, sondern dass die von ihm geprägte Psychoanalyse selbst aktives Moment im Patriarchat ist und daher die in ihr verborgene Wahrheit erst herausdestilliert werden muss.
Die Psychoanalyse bietet in ihrer orthodoxen Konzeption, also der Freuds, bezüglich des bestehenden Geschlechterverhältnisses und der gesellschaftlichen Vermitteltheit von Körpern grundlegende Einsichten. Es handelt sich bei Freuds Kastrationsvorstellung um eine zu Wirklichkeit geronnene Phantasie. In der feministischen Auseinandersetzung wurde der Kastrationskomplex als Symptom gedeutet; zum einen als psychisches, das die soziale Stellung der Frau oder das Mehr an Macht des Mannes ausdrückt. Zum anderen als ein psychosomatisches: der abgeschnittene Penis symbolisiert das verstümmelte und entsexualisierte Verhältnis zwischen den Geschlechtern (Schlesier) und für die von beiden Geschlechtern zu leistende Triebunterdrückung (Hagemann-White)(4). Gerade die beiden letztgenannten Deutungen des Penisneid-Mythos’ begreifen die Psychoanalyse als durch und durch zweideutigen Ausdruck einer exquisiten, so sonst nicht auffindbaren Wahrheit. Die Psychoanalyse wird damit zu einem scharfen Instrument zur Kritik des Patriarchats zugespitzt. Will man diese in ihr verborgene Kraft entfalten, so darf man die Methoden und Inhalte der Psychoanalyse jedoch nicht schlicht instrumentell anwenden. Vielmehr ist sie einer sie auflösenden Kritik preiszugeben. Die psychoanalytische Lehre ist also ihrerseits als erstarrte und versteinerte zu verflüssigen, indem man ihre eigenen Instrumente auf sie anwendet. „Nicht schreit die Psychoanalyse ihre psychoanalytische Wahrheit als die gesellschaftliche Wahrheit heraus – bzw. insofern sie genau das tut, ist sie nicht besser als jede beliebige Psychologie –, in ihr ist vielmehr eine Wahrheit virulent, die in dem von ihr selbst repräsentierten entstellten, symptomatischen Zusammenhang allererst entziffert werden muss.“(5).

Zum Verhältnis von Individuum und Gesellschaft

In der warenproduzierenden Gesellschaft erscheinen die menschlichen Beziehungen als Beziehungen von Dingen, als Beziehungen zwischen Waren. Während Marx das Verhältnis der Waren zueinander als eines von Subjekten beschreibt, bezeichnet er die menschlichen Beziehungen als verdinglichte. Nicht die Menschen agieren, sondern ihre Produkte. Deren Beziehung tritt an die Stelle eigener Beziehungen zueinander. „Sosehr nun das Ganze dieser Bewegung als gesellschaftlicher Prozess erscheint und sosehr die einzelnen Momente dieser Bewegung vom bewussten Willen und besondern Zwecken der Individuen ausgehn, sosehr erscheint die Totalität des Prozesses als ein objektiver Zusammenhang, der naturwüchsig entsteht; zwar aus dem Aufeinanderwirken der bewussten Individuen hervorgeht, aber weder in ihrem Bewusstsein liegt noch als Ganzes unter sie subsumiert wird. Ihr eignes Aufeinanderstoßen produziert ihnen eine über ihnen stehende, fremde Macht; ihre Wechselwirkung als von ihnen unabhängigen Prozess und Gewalt ... Die gesellschaftliche Beziehung der Individuen aufeinander als verselbständigte Macht über den Individuen, werde sie nun vorgestellt als Naturmacht, Zufall oder in sonst beliebiger Form, ist notwendiges Resultat dessen, dass der Ausgangspunkt nicht das freie gesellschaftliche Individuum ist.“(6) So schaffen die Individuen eine Gesellschaft, in der die verdinglichten Verhältnisse als natürlich erscheinen. Das schlägt sich in verschleiernden Denkweisen nieder: der Mensch sei von Natur aus ein instinktgesteuertes Wesen, die Frau von Natur aus eher passiv ... Solche Aussagen sind adäquate ideologische Verarbeitungen einer Gesellschaft, die systematisch nichts bzw. nur in verschleierter Form über ihre eigene historische Gewordenheit und ihre Voraussetzungen weiß.
Die Verselbständigung der objektiven Bewegungsgesetze gegenüber dem Subjekt ist sowohl Schein als auch Realität. Sie sind beide Teil eines Ganzen. Es sind die Subjekte, welche die Gesellschaft durch ihre Handlungen konstituieren. Doch gestalten sie diese damit keineswegs bewusst. Sie werden vielmehr zu Anhängseln des objektiven Vergesellschaftungsprozesses. Gesellschaftskritik, die sich nur mit dem die Individuen determinierenden Objektiven auseinandersetzt, muss falsch werden. Das liegt daran, dass dieses Objektive nicht ohne die denkenden und handelnden Menschen existiert, die es ständig neu konstituieren. Es bleibt ein Verhältnis von Menschen, es ist ihr Zusammenleben – das sie allerdings nicht gestalten, sondern das sich die Menschen untertan macht. Das Innere des Subjekts geht dabei nicht im Objektiven auf. Obwohl es vom Objektiven gewissermaßen bestimmt wird, weist es keine Identität mit Gesellschaft auf. Dabei geht es nicht lediglich um die Form des Subjekts. Vielmehr muss sein Innenleben ein zentrales Thema von Gesellschaftskritik sein.
Keiner vor und nach Freud wagte es, entgegen den Hoffnungen und Postulaten der Aufklärung, es so deutlich zu sagen: Sie ist am Subjekt gescheitert – es ist nicht Herr im eigenen Hause, der eigenen Psyche, die sich der Kontrolle entzieht. Im Gegenteil: Von deren übermäßig großem Unbewussten, den dem Verstand unzugänglichen Bereichen, wird das Subjekt bestimmt, ohne dass es dies selbst weiß – ohne dass es dies aus freiem Willen heraus ändern könnte. Dabei ist zunächst zu klären, was Aufklärung überhaupt meint und welche Rolle das Subjekt in ihr spielt. Die Aufklärung schuf eine ganz bestimmte Form, in der sich die Individuen befinden, die Subjektform. In dieser sind sie gerade nicht frei von Angst und Getriebenheit. Vielmehr ist das Resultat der gescheiterten Aufklärung ein Subjekt, das sich ständig mit Gewalt zusammenhalten, vor dem Auseinanderbrechen bewahren muss.

Die gescheiterte Aufklärung(7)

Was ist Aufklärung? Wir haben es hierbei mit einem, wenn nicht dem zentralen Problem materialistischer Gesellschaftskritik zu tun. Die Aufklärung „verkörperte“ in den Worten ihrer Propagandisten „in ihrem Kerngedanken den Anspruch auf Mündigkeit des Individuums“(8). Sie agitierte für ideelle und gesellschaftliche Selbstbestimmung, für Autonomie statt Heteronomie, für eine vernünftige Einrichtung der Welt und die Befreiung von allen subjektiv nicht nachvollziehbaren Autoritäten und Zwängen. Eine bekannte Bestimmung der Aufklärung stammt von Kant und lautet: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“, selbstverschuldet, weil man zu faul oder zu feige zum Selber-Denken ist, unmündig, weil man sich seines Verstandes nicht ohne Leitung eines anderen bedienen kann(9). Mendelssohn bestimmt die Aufklärung als vernünftige Erkenntnis, d. h. als theoretische Fertigkeiten, als das Nachdenken über Angelegenheiten des menschlichen Lebens gemäß ihrer Wichtigkeit und ihrem Einfluss auf die Menschen(10). Die Auseinandersetzung mit der Aufklärung bringt uns ins Zentrum der Fragen, die Gesellschaftskritik betreffen; es geht ja hierbei um die vernünftige Einrichtung der Welt, um eine Gesellschaft, in der niemand länger grundlos leiden muss, und um die volle Entfaltung menschlicher Individualität. Aufklärung stellt daher mehr als eine bestimmte Epoche in der Philosophie oder Literatur dar; sie zielt ihrer Intention gemäß auf nichts weniger als auf vernünftiges Denken und Handeln in einer menschlich eingerichteten Welt. Sie betrifft den Umgang mit anderen Menschen und das Verhältnis zur Natur. Damit zielt sie auf die Frage nach dem Wesen und der Entfaltung der Gesellschaft; sie forderte Naturbeherrschung, um von den Individuen die Angst zu nehmen.
Aber dieser Weg, die Angst zu binden, ist gescheitert. Denn wie Horkheimer und Adorno schreiben: „Die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils“ – der Prozess der Aufklärung führte gerade nicht zu einem glücklichen Leben ohne Angst sondern zum Gegenteil davon. Die Aufklärung war von Anbeginn mit ihrem Gegenteil verschlungen. Sie wollte die Menschen durch Herrschaft von Angst befreien. Dabei zielte sie auf die Unterwerfung der Natur, auf patriarchale Herrschaft über Frauen, sie folgte der Logik des Gleichsetzens und Gleichmachens von Dingen wie Menschen und formierte mit Gewalt das moderne Selbst, das Ich: Die ängstigende Natur wurde im Zuge menschlicher Geschichte unterjocht und unterworfen. Laut Horkheimer und Adorno verhält sich die Aufklärung zur Natur, zu Menschen und zu Gegenständen wie der Diktator zu den Menschen. Er kennt sie nur, insofern er sie beherrscht. Um diese Herrschaft zu bewerkstelligen, mussten Menschen über sich selbst Gewalt ausüben, sich selbst mühsam zu Arbeit und Unterwerfung der Triebe zwingen. Dazu trat gesellschaftliche Herrschaft auf den Plan. Die Gewalt, die einzelnen durch die Gesellschaft angetan wurde, wurde ihnen stets durch das Kollektiv angetan. Unter gesellschaftlicher Herrschaft entstand das moderne Ich, das mit sich selbst identische Selbst, das sich und andere beherrscht, die Natur bearbeitet.
Die Herrschaft über die Natur und die Herrschaft von Menschen über Menschen verband sich innerhalb der menschlichen Gattung zur patriarchalen Herrschaft von Männern über Frauen. Ihnen werden die Tätigkeiten der Reproduktion zugewiesen, sie haben für Natur und Vergänglichkeit zu stehen, die man an sich und anderen überwinden will. Sie bekommen all jene psychischen Eigenschaften zugewiesen, die denen entgegengesetzt sind, die das männliche Selbst für sich einklagt, aber nur um den Preis der Degradierung von Frauen für sich reklamieren kann.(11) Frauen gelten daher unter der Regie der Aufklärung als abhängig und werden zu Abhängigen gemacht. Eine Gesellschaft, die sich über den Wert vermittelt, setzt strukturell alle Gesellschaftsteilnehmer in die gleiche Situation, ein vereinzeltes Wesen zu sein, das auf sich zurückgeworfen mit anderen Gleichen verkehrt. Bestimmte Bereiche der kapitalistischen Gesellschaft werden aber davon nicht erfasst bzw. können damit nicht kritisiert werden: So das asymmetrische und hierarchische Geschlechterverhältnis. Ohne die unbezahlte, wertlose Arbeit der Frauen im Privaten kann sich selbst heute die Gesellschaft nicht biologisch und materiell reproduzieren. Männer und Frauen partizipieren nicht gleichermaßen am gesellschaftlichen Reichtum.
Die Unterwerfung wird durch Identitätslogik bewerkstelligt. Menschen ebenso wie Dinge werden gleichgemacht, eingeteilt, klassifiziert und kategorisiert, um sie besser kontrollieren zu können. Diese Kategorisierung wird real an ihnen vollzogen. Hier ist auf den Zusammenhang der Aufklärung zur kapitalistischen Warengesellschaft zu verweisen, die die Aufklärung zur vollen Entfaltung bringt. Ganz und gar nicht zufällig ist die Epoche der Aufklärung gleichzeitig auch die Zeit, in der sich in Westeuropa die Verwertung des Werts durchsetzt, das Kapital seinen Siegeszug durch die Welt antritt. Dennoch sind beide keineswegs identisch.
Kants „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“, gerade als selbstverschuldeter deklariert, beinhaltet stets die Unterwerfung unter gesellschaftlichen Zwang, den Selbstvollzug gesellschaftlicher Gesetze, die sich unbeherrscht vollziehen. „Das System, das der Aufklärung im Sinne liegt, ist die Gestalt der Erkenntnis, die mit den Tatsachen am besten fertig wird, das Subjekt am wirksamsten bei der Naturbeherrschung unterstützt. Seine Prinzipien sind die der Selbsterhaltung. Unmündigkeit erweist sich als das Unvermögen, sich selbst zu erhalten. Der Bürger ... ist das logische Subjekt der Aufklärung“.(12) Folgerichtig werden die Unaufgeklärten dann der ausdrücklich „selbstverschuldeten“ Unmündigkeit geziehen und nicht etwa diese Unmündigkeit einer falschen Einrichtung der Gesellschaft angerechnet: „selbstverschuldet, weil man zu faul oder zu feige zum Selber-Denken ist“ (Kant, Was ist Aufklärung?).
Der Prozess der Aufklärung setzte sich also mit großer Gewalt über die Köpfe der Menschen hinweg durch. Genau das, was ihnen die Angst nehmen sollte, unterwarf sie nun seinerseits. Dieser gewaltvolle Prozess, den die Menschen selbst hervorbringen,verselbständigt sich von ihnen. Die gesellschaftlichen Verhältnisse nehmen die Form von Natur an: sie erscheinen als undurchdringlich, und dieser Schein sorgt dafür, dass sie tatsächlich nicht durchdrungen werden.
Der marxsche Imperativ der letztlich darauf abzielt, eine Welt einzurichten, in der alle Menschen ohne Angst leben können, gilt ungebrochen solange diese unmenschlichen Verhältnisse unüberwunden sind. Die in der Aufklärung angelegten regressiven Momente müssen kritisch aufgedeckt und überwunden werden. Ein „Eingedenken der Natur im Subjekt“ (Horkheimer/Adorno) muss zu einem Bruch mit Patriarchat und Identitätslogik und zur Versöhnung mit der Natur führen. Es geht dabei um einen Materialismus, der sich als eine Rettung des Nichtidentischen begreift, der uns ein Verhältnis zu den Dingen finden lässt, das ihnen angemessen ist. Auf diese Weise kann der Gedanke einer Welt ohne Angst für alle Menschen in voll entfalteter Individualität vielleicht noch verwirklicht werden. In diesem Sinne gilt es der Aufklärung zu begegnen, wie es Ilse Bindseil für den Umgang mit der Psychoanalyse vorschlägt: Sie ist einer sie auflösenden Kritik preiszugeben (Dies., als Subjekttheorie).

Zum Verhältnis von Aufklärung und Subjektkonstitution in der Freudschen Psychoanalyse

Freud ist ein Aufklärer in dem Sinne, dass er den Menschen von Zerrissenheit, die er als erster diagnostiziert, befreien möchte, und zwar mit einer explizit aufklärerischen Therapiemethode, dem Gespräch (welches die Hypnose ablöste). Dabei kann Freud, wie die gesamte Aufklärung, der in ihr angelegten Dialektik nicht entfliehen. In der Praxis zielt die Therapiemethode nicht auf die Veränderung der leidenmachenden Verhältnisse sondern auf eine individuelle Lösung; Ziel ist ein geglättetes, reibungsloses Funktionieren des Individuums in der Form des Subjekts.
Ein positiver Begriff vom Subjekt wäre einer von einem mündigen, bewusst agierenden vernünftigen Wesen. Aber gerade ein solches lässt sich in Freuds Texten nicht finden. Statt dessen sieht man sich mit Subjekten konfrontiert, die aus der gesellschaftlich (und nicht individuell) erzeugten selbstverschuldeten Unmündigkeit(13) nicht herausfinden, sich dieser häufig nicht einmal bewusst werden. Subjekte werden zum Objekt der sich verselbständigenden Gesellschaft, die sie selbst konstituieren, statt sie bewusst und kontrolliert so zu gestalten, dass die Bedürfnisse aller gestillt werden (wie es der derzeitige Stand der Produktivkräfte erlauben würde). So sind sie ohnmächtiger Teil einer Gesellschaft, deren Produktion um einer niemals vollendeten Mehrgeldproduktion willen läuft. Die Psychoanalyse verdeutlicht, dass das Subjekt unmündig ist. Sie zeigt auf, dass es in seinem Denken, Fühlen, Wollen und Handeln durch ihm unbewusste psychische Prozesse bestimmt wird. Aus dem Subjekt wird ein Objekt – Objekt des verselbständigten Vergesellschaftungsprozesses, in dem es entweder untergehen oder mitspielen kann. Die Gesellschaft wird zum scheinbaren Subjekt. Um ganz genau das zu pointieren, führte Marx den Begriff des automatischen Subjekts ein. Dieses ist der sich auf sich selbst beziehende Wert, um dessentwillen die gesamte Güterproduktion läuft.
Freud beschreibt den Aufbau des Ichs in der Kindheit als einen leidvollen Prozess. Dessen Ziel ist eine Persönlichkeit, die ihre Bedürfnisse jederzeit zu kontrollieren weiß und sie hintenanstellen kann. Es wird gelernt, sexuelle Energie sublimierend auf die Erzeugung von Kultur umzulenken. In diesem Verständnis ist selbst die Sexualität eine Sublimierung, da die Libido unter dem Primat des Genitaltriebs strukturiert wird. Der Preis, den das Ich dafür zu zahlen hat, ist hoch: weite Teile seiner Psyche entziehen sich dem Zugriff, sie werden ins Unbewusste verschoben. Diese unbewussten psychischen Bereiche beeinflussen die Wahrnehmung der Realität. Mehr noch, sie determinieren sowohl die Wahrnehmung als auch das Denken(14).
Ebensowenig wie die gesellschaftliche Objektivität kann das Ich seine individuelle Psyche durchdringen. Sie bleibt undurchsichtig. Subjektivität hat im Kapitalismus das Ziel, dem verselbständigten Prozess der Kapitalverwertung zu dienen. Subjektivität bedeutet Selbstverdinglichung. Dies wiederum heißt, bei Strafe des Untergangs im Falle des Nichtfunktionierens, sich zum nützlichen Element der Gesellschaft, zum brauchbaren Objekt des automatischen Subjekts zu stutzen. Aber die Individuen gehen in ihren gesellschaftlichen Funktionen nicht auf. Sie leiden, sind disharmonisch und widersprüchlich. Die Wege der Verarbeitung dieser Spannung zwischen Individuum und Subjekt sind oft brutal, zerstörerisch und wenden sich gegen vermeintlich oder real Schwächere. Aber diese Spannung lässt sich auch emanzipatorisch zum Betreiben von Kritik, die auf eine befreite Gesellschaft zielt, nutzen.
Die Psychoanalyse Freuds folgt dem aufklärerischen Anspruch, das Ich vom Leiden an seiner Zerrissenheit zu heilen: Wo Es war, soll bewusstes, vernünftiges Ich werden. Schon an diesem Ausspruch Freuds (Wo Es war, soll Ich werden.(15)) wird deutlich, dass er der Dialektik der Aufklärung in selber Weise verhaftet ist wie Kant und ihr ebensowenig entrinnt. Nicht nur die Zerrissenheit würde beendet; durch den Ausbau des Ichs, ohne dessen gesamte Struktur zu verändern (und dieses setzte gesellschaftliche Umwälzung voraus!), würde die Herrschaft über die eigene Natur des Menschen verabsolutiert. Die Versöhnung mit ihr rückte in noch weitere Ferne. Dennoch finden sich emanzipatorische Momente: Nämlich dort, wo Freud das Leiden am Subjektsein denunziert und nicht als notwendig für die Kulturbildung legitimiert oder als natürlichen Wesenszug des Menschen darstellt (vgl. bsp. Freud, Das Unbehagen in der Kultur).

Die Weiblichkeit bei Freud – Kritik der Anthropologie

Nicht nur bezüglich des Subjekts wird Freud zum Anwalt der Gesellschaft, in der die Menschen, die er zu heilen versucht, leben. Für Freud sind Kastrationskomplex, Ödipuskomplex und Penisneid Teil der Entwicklung jedes Mädchens zur Frau. Schicksalhaft entfaltet sich die Weiblichkeit als Folge des „anatomischen Geschlechtsunterschieds“. Die Bewältigung jedoch ist subjektives Schicksal. Freud begreift den aus dieser Entwicklungsabfolge resultierenden weiblichen Geschlechtscharakter wiederum als natürlich. Indem Freud Schicksal als Natur missversteht, sitzt er einer Verschleierung auf: Der gesellschaftliche Charakter des Dinglichen, in diesem Fall Körperlich-Menschlichen, wird nicht erkannt. Für Freud ist Körperlichkeit kaum gesellschaftlich verortet, er vertritt ein ahistorisches Menschenbild. Der natürliche Körper scheint für ihn ‚an sich‘ gegeben zu sein.
Jedoch ist Natur und so auch der menschliche Körper immer schon gesellschaftlich und historisch vermittelt: „stets erfahren die Menschen eine ‚geschichtliche Natur’ und eine ‚natürliche Geschichte’“(16). Das heißt, dass das Naturverständnis (das umfasst auch das subjektive Körperempfinden) immer schon gesellschaftlich vermittelt ist, dass es in einem bestimmten objektiven Rahmen stattfindet, welcher der subjektiven Wahrnehmung eine Richtung weist.(17)
Die moderne patriarchale Gesellschaft wiederum vergisst ihre geschichtliche Entwicklung. Sie setzt sich als ewig und unveränderlich, somit als natürlich. Gesellschaft wird bei Freud nicht explizit thematisiert, sondern sie wird als gegeben vorausgesetzt. Dieser Blindheit gegenüber der gesellschaftlichen Bedingtheit und den objektiven gesellschaftlichen Prozessen ist wohl seine Neigung zur Anthropologisierung geschuldet, d. h. dazu, die in der psychoanalytischen Therapie aufgefundenen psychischen Strukturen (Trieb, Ich, Es und Überich usw.) und Inhalte (Inzesttabu) als natürlich zu setzen. Sie wurden von Freud als dem Wesen des Menschen zugehörig erklärt. So geht er davon aus, dass sich der anatomische Geschlechtsunterschied von Mann und Frau psychisch niederschlagen müsse(18). Psychologische Entwicklungen werden von Freud als Folge anatomischer Gegebenheiten interpretiert. In diesem Kontext wurde ihm häufig richtigerweise die biologische Erklärung sozialer Sachverhalte vorgeworfen (vgl. Fromm, Horney usw.). Die gesellschaftliche Minderwertung und Geringschätzung der Frau sowie die Überlegenheit des Mannes ergeben sich laut Freud aus der ‘vollzogenen oder bloß angedrohten’ Kastration, die für ihn eine solche anatomische Gegebenheit darstellt. Für Freud ist Weiblichkeit letztendlich biologisch festgelegt. Es muss aber eine bestimmte Abfolge psychosozialer Prozesse erfolgen, damit sie sich auch entfalten kann. Freud untermauert gesellschaftlich erzeugte Geschlechterzuschreibungen, indem er sie als anatomisch angelegt begreift.
Der starke Hang des Begründers der Psychoanalyse, das gesellschaftliche Schicksal der Frau zu naturalisieren, wurde häufig von Feministinnen angegriffen. Beispielsweise reagierte die bekannte Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich-Nielsen auf biologische Erklärungen Freuds mit der Richtigstellung seiner anatomischen Voraussetzungen mittels aktueller naturwissenschaftlicher Erkenntnisse. Auf deren Grundlage widerlegt sie die von Freud als Folge der Anatomie verstandene Entwicklungsnotwendigkeit der Frau, sich von der Männlichkeit zur Weiblichkeit wenden zu müssen. Da die Frau mit einer „primären Weiblichkeit“(19) (schon das Embryo in seinen ersten Lebenswochen sei weiblich) zur Welt komme, stelle sich für sie nicht die Aufgabe, ihr Geschlecht wechseln zu müssen. Den Penisneid erwirbt das Mädchen dennoch, aber nicht aufgrund eines minderwertigen Organs, sondern weil es sozialisationsbedingt keine inneren Repräsentationen von seinem Geschlechtsorgan aufbauen konnte. Eltern und andere nahe Bezugspersonen als Vertreter der Gesellschaft, behindern in dieser Sozialisationsauffassung die Entfaltung der angeborenen und vollständigen Weiblichkeit. So kommt das Mädchen zum Penisneid aufgrund prüder Erziehung und beobachteter größerer Freiheiten des Jungen. Diese führt sie auf sein Geschlechtsorgan zurück und beneidet ihn darum. Getragen wird diese Kritik an Freud von einem Gesellschaftsverständnis, nach dem diese sich über einen als natürlich gedachten Menschen stülpt und auf ihn lediglich äußerlich einwirkt.
Aber das Mädchen erfährt die gesellschaftliche Stellung der Frau nicht direkt, sondern körperlich vermittelt im Prozess der Sexualunterdrückung. Erst als Erwachsene kann sie die bis dahin nur subjektiv verschleiert erfahrenen, aber dennoch objektiven patriarchalen Strukturen reflektieren, also gedanklich durchdringen. Bloße soziologische Erklärungen psychoanalytischer Erkenntnisse verdecken die unbewussten Vorgänge: Der Freudsche Satz: „Irgendeinmal macht das kleine Mädchen die Entdeckung seiner organischen Minderwertigkeit“(20), lässt sich nicht (darauf weist die Feministin Carol Hagemann-White hin) einfach in die Aussage der Feministin Kate Millett: „Das kleine Mädchen macht die Entdeckung seiner gesellschaftlichen Unterdrückung“(21), verschönernd umdeuten. Denn selbst die erwachsene Frau erlebt ihre gesellschaftliche Minderstellung und Unterdrückung meist unaufgedeckt. Die patriarchale Gesellschaft erscheint als natürlicher, zeitloser und geschichtsloser „Schicksalszusammenhang“ (Adorno). Daher fühlt das kleine Mädchen, dass ihr genau das fehlt, was einen vollwertigen Menschen ausmachen würde. „Die in einer Gesellschaft herrschenden Verhältnisse werden von den in sie hineingeborenen Menschen als Strukturen des menschlichen Lebens erfahren und nur spät und mühsam relativiert.“(22) Für den einzelnen ist die Struktur vorgegeben; dass er an ihr ungewusst mitstrickt, ist für ihn nicht direkt erfahrbar. Indem das Mädchen sich als geschlechtslos begreift, erkennt es die Schicksalhaftigkeit seiner gesellschaftlichen Stellung. So sicher es ist, dass ihr nie ein Penis wachsen wird, so sicher ist auch, dass sie die inferiore Stellung in der patriarchalen Gesellschaft nicht hinter sich lassen kann.
Was Hagemann-White gewissermaßen auf dem Boden der Psychoanalyse vorbereitet, das Ernstnehmen und Gegen-den-Strich-Bürsten des Freudschen Penisneidtheorems, führt die feministische Religionswissenschaftlerin und Freudkritikerin Renate Schlesier auf gesellschaftstheoretischen Boden fort. Gesellschaftlichkeit begreift sie nicht als etwas dem einzelnen Fremdes und Übergestülptes, sondern als eine vermittelte Gesellschaftlichkeit, die sich im Individuum selbst, in seinen „Trieben und Triebschicksalen“ (Freud) anzeigt. Schlesier versteht den zum Phallus gewordenen Penis als Verdinglichung verstümmelter Sexualität nicht nur der Frau, sondern gerade auch des Mannes. Sie begreift den Phallus (den abgeschnittenen Penis) als Fetisch, der ein Verhältnis sichtbar macht, das sonst nicht greifbar ist. Am Körper beider Geschlechter wird ihr entsexualisiertes Verhältnis in verdinglichter Form dargestellt(23). Freud beschreibt somit die weibliche Entwicklung als eine der Desexualisierung, die er als notwendig legitimiert, da sich die Kultur (d.h. Gesellschaft) über Triebumleitung und Triebunterdrückung stabilisiert und überhaupt erst herstellt.
Freuds Texte zur Weiblichkeit verschleiern den ebenfalls von harten Brüchen gezeichneten Werdegang des polymorph-perversen Jungen zum triebsublimierenden Mann. Er beschreibt eine Entwicklung der Trieb- und Bedürfnisunterdrückung, die für beide Geschlechter normal und gesund wäre. Er affirmiert diesen Zustand und die Zumutungen dieses Umgangs mit Körperlichkeit und Sexualität als kulturelle Errungenschaften. Damit ist Freud per se kein Kritiker der psychischen oder gesellschaftlichen Verhältnisse, die er vorfindet, denn Kritik hat die Einsicht, dass es sich bei dem zu kritisierenden Gegenstand um den Ausdruck eines gesellschaftlichen Verhältnisses handelt – nicht um Natur. Erst dadurch werden sie veränderbar. „Freud ist nicht vorzuwerfen, dass er das konkret Gesellschaftliche vernachlässige, sondern dass er sich allzuleicht beim gesellschaftlichen Ursprung jener Abstraktheit beruhigt, bei der Starrheit des Unbewussten, die er mit der Unbestechlichkeit des Naturforschers erkennt. Die Verarmung durch endlose Tradition des Negativen hatte er als eine anthropologische Bestimmung hypostasiert. Geschichtliches wird invariant, Seelisches dafür zur historischen Begebenheit. Beim Übergang von den psychologischen Imagines zur geschichtlichen Realität vergisst er die von ihm selbst entdeckte Modifikation alles Realen im Unbewussten und schließt darum irrig auf faktische Begebenheiten wie den Vatermord durch die Urhorde(24). Der Kurzschluss zwischen Unbewusstem und Realität verleiht der Psychoanalyse ihre apokryphen Züge.“(25)
Eine Theorie vom Subjekt wird erst zur Kritik, wenn der Mensch als ein gesellschaftlich und historisch bedingtes Wesen verstanden wird. Bernard Görlich wirft Freud vor, seine eigenen Einsichten unterschätzt und sich darum „der Aufgabe, das Vermittlungsproblem individueller und gesellschaftlicher Strukturen genauer zu fassen, entzogen“(26) zu haben. Die Folge davon ist „Psychologismus“ – Freud schloss von den „vorgefundenen psychischen Konstellationen des Einzelindividuums reduktionistisch auf überindividuelle Sachverhalte ... Damit droht die dem praktischen psychoanalytischen Vorgehen aufgenötigte Anerkennung der Bedeutung sozialer Faktoren aus dem Blick zu geraten, ja, werden diese Einsichten verstellt durch den groß angelegten Entwurf eines scheinbar vollständigen Erklärungsangebots, eben des Zusammenspiels biologischer Grundkonstanten, der Auseinandersetzung antagonistischer Natur-,Prinzipien’, die mit realer Geschichte und konkreter Gesellschaft kaum mehr vermittelbar erscheinen.“(27) Mit seiner Erklärung der „Minderwertigkeit“ der Frau über den anatomischen Mangel verstellte Freud sich und anderen den Blick auf die gesellschaftlichen Ursachen der inferioren Stellung der Frau. Das Verhältnis zwischen Kultur und Natur gestaltet sich für Freud so, dass die Kultur auf der Natur ruht, sozusagen aus ihr herauswächst. Dennoch gelingt es ihm, die Leiden der Menschen an der Triebunterdrückung zu diagnostizieren, nur sind seine Mystifizierungen dieses Leidensprozesses im geschichtlichen und kulturellen Kontext zu entschleiern: „Wir haben es ... niemals mit Sinneserlebnissen ,überhaupt’ zu tun, sondern stets nur mit solchen, die uns im praktischen Kontakt mit Natur und Gesellschaft zuteil werden.“(28) Freud suchte nach Tatsachen; dem ist entgegenzuhalten, dass diese immer gesellschaftlich vermittelt sind.
Freud zementiert gesellschaftlich erzeugte Geschlechterzuschreibungen als anatomisch angelegte. Seinem aufklärerischen Anspruch, das Ich vom Es freizusetzen, und das Subjekt vom Getriebenwerden durch unbewusste Prozesse zu befreien, wird er dadurch nicht gerecht. Für die Gesellschaftskritik ergibt sich so die Notwendigkeit, aber auch die Möglichkeit, seine Methode auf seine inhaltlichen Vorgaben anzuwenden und derart die Aufklärung mit dem Ziel, die Menschen von ihrer Abhängigkeit und Getriebenheit zu befreien, weiterzutreiben.

Schlussfolgerungen

Freud ist am Subjekt gescheitert. Zum einen erkannte er, dass die Aufklärung im Subjekt gescheitert ist, dass das Subjekt heute kein erlöstes, sondern ein gequältes ist. Er beschrieb die Widersprüchlichkeit des Subjekts, sein Leiden am NICHT-HERR-IM-EIGENEN-HAUSE-SEIN, er beschrieb seine Zerrissenheit und das Leiden, das durch die Aneignung des Geschlechtscharakters und der Triebunterdrückung hervorgerufen wird. Gescheitert ist er dort, wo er positive Entwicklungsziele vorgibt (gesunde passive Weiblichkeit), und dort, wo er gesellschaftlich erzeugtes Leiden, z. B. an der Triebunterdrückung als Kulturschöpfung, affirmiert.
So ist der Penisneid als Symbolisierung der verhinderten tatsächlichen Beziehung zwischen beiden Geschlechtern zu deuten. Gleichsam schwebt er über ihrem Verhältnis. Er verbildlicht die Entsexualisierung, die beide Geschlechter in ihrer Entwicklung erfahren. Auch Männlichkeit ist vor diesem Hintergrund als Resultat der Triebunterdrückung zu begreifen. Hagemann-White appelliert, Freuds Psychoanalyse ernst zu nehmen und deren Potential für Gesellschaftskritik zu nutzen: mit ihrer Hilfe lässt sich die Geschichte der unterdrückten Bedürfnisse aufdecken (Dies, Frauenbewegung und Psychoanalyse).
Was also ist die Wahrheit, die mit der Psychoanalyse zu entziffern ist, bzw. welche Wahrheit verschleiert die Psychoanalyse? Freuds Darstellung der Kastration symbolisiert das verstümmelte Sexualleben der Menschen. Die patriarchale Gesellschaftsform drückt sich sowohl in der Geschlechtlichkeit des einzelnen Menschen als auch im Verhältnis zwischen den Geschlechtern aus. Dabei sind die Menschen nicht einfach Opfer ihrer Verhältnisse, sondern sie sind es selbst, die diese patriarchalen Verhältnisse konstituieren und immer neu reproduzieren. Gesellschaft als ein dialektisches Vermittlungsverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft verstanden, greift nicht nur auf die Individuen zu, sondern diese stellen Gesellschaft indirekt, vermittelt her. Damit erscheint gesellschaftlich Konstituiertes als natürlich und tritt den Individuen verschleiert entgegen. Sie gehen ihren eigenen Interessen nach, stellen dabei ihren gesellschaftlichen Vermittlungszusammenhang her und können dies nur philosophisch reflektieren. Im unmittelbaren Vollzug bleibt das Fetischverhältnis undurchschaut. Gesellschaft wird so als eine Vermittlungsbewegung zwischen den Individuen begriffen. Diese Vermittlungsbewegung bekommt aufgrund der Verselbständigung Gewalt über die einzelnen. Kate Millett hat hier teilweise recht(29). Allerdings entschwindet ihr, dass es das Denken und Handeln der Individuen ist, das als verselbständigtes Herrschaft über sie gewinnt. Der Penis der Kastrationsphantasie steht für ein von den einzelnen nicht selber gestaltetes Geschlechterverhältnis. Dieses tritt als scheinbar natürlich Gegebenes den Individuen entgegen und wird dennoch immer wieder selbst von ihnen konstituiert. In diesem Kontext wirft Renate Schlesier Freud vor, die weibliche Geschlechtlichkeit als natürlichen Unterschied verklärt zu haben. Er ließ die Möglichkeiten der Durchdringung, die ihm die psychoanalytische Methode bot, ungenutzt und trug statt dessen zur weitergehenden Verschleierung bei; der „gewachsene Fels“, auf den er in der Analyse stieß, ist eine zu einem Ding erstarrte gesellschaftliche Vermittlung. Die Psychoanalyse erweist sich so als Ideologie, insofern sie nach Marx und Lukács ein zugleich notwendiges und doch auch falsches Bewusstsein ist: sie bringt in der Form intellektueller Verarbeitung gesellschaftlicher und psychischer Zusammenhänge und Sachverhalte in verschleierter Form eine Wahrheit ans Licht: dass die fetischistische Gesellschaft als ein verschleiertes und verdinglichtes Patriarchat begriffen, kritisiert und abgeschafft werden muss. Diese Kritik leisten zu können – darin besteht die „kritische Relevanz der Psychoanalyse“.

Micha Böhme

Literatur

Adorno, W. Theodor (1951), Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie, Gesammelte Schriften Band 8, Soziologische Schriften Band 1, Frankfurt am Main, 1997, S. 42-85
Bindseil, Ilse (1979), Psychoanalyse als Subjekttheorie, erstmals erschienen in: Kurnitzky, Horst (Hg.), Notizbuch 1 [Psychoanalyse und Theorie der Gesellschaft], Berlin, 1979, Internet: www.isf-freiburg.org/beitraege/Bindseil_Psychoanalyse.htm
Freud, Sigmund (1905), Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, herausgegeben von Alexander Mitscherlich; Angela Richards; James Strachey, Sigmund Freud, Studienausgabe Band V, Sexualleben, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 2000, S. 47-145
Freud, Sigmund (1912), Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens, Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens II, Sigmund Freud Studienausgabe Band V, Frankfurt am Main, 2000, S. 199-209
Freud, Sigmund (1915), Triebe und Triebschicksale, Sigmund Freud Studienausgabe Band III, Psychologie des Unbewussten, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 2000, S. 81-102
Freud, Sigmund (1918), Das Tabu der Virginität, Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens III, Sigmund Freud Studienausgabe Band V, Frankfurt am Main, 2000, S. 213-228
Freud, Sigmund (1923), Die infantile Genitalorganisation (Eine Einschaltung in die Sexualtheorie), Sigmund Freud Studienausgabe Band V, Frankfurt am Main, 2000, S. 237-241
Freud, Sigmund (1924), Der Untergang des Ödipuskomplexes, herausgegeben von Alexander Mitscherlich; Angela Richards; James Strachey, Sigmund Freud, Studienausgabe Band V, Sigmund Freud Studienausgabe Band V, Frankfurt am Main, 2000, S. 245-251
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Freud, Sigmund (1931), Über die weibliche Sexualität, Sigmund Freud Studienausgabe Band V, Frankfurt am Main, 2000, S. 275-292
Freud, Sigmund (1933), Die Weiblichkeit, 33. Vorlesung, Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Sigmund Freud Studienausgabe Band V, Frankfurt am Main, 2000, S. 544-565
Freud, Sigmund (1933), Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit, 31. Vorlesung der Neuen Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Sigmund Freud Studienausgabe Band I, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse Und Neue Folge, Frankfurt am Main, 2000, S. 496-516
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Hagemann-White, Carol (1979), Frauenbewegung und Psychoanalyse, in: dies., Frauenbewegung und Psychoanalyse, Basel, Frankfurt am Main, 1986, S. 7-92
Horkheimer, Max/ Adorno, Theodor W. (1947), Dialektik der Aufklärung, Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main, 1972
Kant, Immanuel (1784), Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Bahr, Ehrhard (Hg.), Was ist Aufklärung? Thesen und Definitionen, Stuttgart, 1998, S. 9-17
Kirchhoff, Christine, Anmerkungen zum Verhältnis von Gesellschaftskritik und Psychoanalyse, in: initiative not a lovesong (Hg.): subjekt. gesellschaft – perspektiven kritischer psychologie, Münster, 2002, S. 111-124
Laplanche, J.; Pontalis, J.-B. (1967), Das Vokabular der Psychoanalyse, Band 1 und 2, Frankfurt am Main, 1977
Marx, Karl (1969), Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, Rohentwurf, Berlin, 1974
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Schlesier, Renate (1981), Mythos und Weiblichkeit bei Sigmund Freud: zum Problem von Entmythologisierung und Remythologisierung in der psychoanalytischen Theorie, erstmals erschienen bei der Europäischen Verlagsanstalt, Frankfurt am Main unter dem Titel Konstruktionen der Weiblichkeit bei Sigmund Freud, Frankfurt am Main, 1990
Scholz, Roswitha: Identitätslogik und Kapitalismuskritik, In: Streifzüge 3/ 2001
Schmidt, Alfred (1973), Praxis, in: ders, Kritische Theorie, Humanismus, Aufklärung, Philosophische Arbeiten 1969-1979, Stuttgart, 1981, S. 110-164

Anmerkungen

(1) Adorno, Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie, S. 42

(2) Ich gehe davon aus, dass die warenproduzierende Gesellschaft das vorher bestehende Patriarchat in sich aufgehoben hat. Es lebt in modifizierter Form fort. Dabei ist es mit dem Kapitalismus derart verquickt, dass dieser nicht ohne das Patriarchat bestehen kann. Er wird von dem asymmetrischen, hierarchischen Geschlechterverhältnis getragen: Die geschlechtsspezifischen Zuschreibungen von Charakteren gewährleisten die Unterdrückung und Kontrolle von Bedürfnissen und Trieben, deren Befriedigung den Bestand des warenproduzierenden Patriarchats gefährden. Die bürgerliche Emanzipation der Frau konnte an der systemerhaltenden Triebunterdrückung grundlegend nichts ändern.

(3) Vgl. Renate Schlesieres empfehlenswerte Analyse: Mythos und Weiblichkeit bei Sigmund Freud

(4) Vgl. Schlesier, Mythos und Weiblichkeit bei Sigmund Freud, sowie Hagemann-White, Frauenbewegung und Psychoanalyse

(5) Bindseil, Psychoanalyse als Subjekttheorie, S. 1

(6) Marx, Grundrisse, S. 111

(7) Ich danke Martin D. für seine Mitarbeit an diesem Abschnitt.

(8) Stichwort Aufklärung, Metzler-Philosophielexikon

(9) Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?

(10) Mendelsohn, Über die Frage: Was heißt aufklären?

(11) Also Autonomie, Selbstbestimmung an allererster Stelle.

(12) Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, Exkurs II: Juliette oder Aufklärung und Moral, S. 90

(13) Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?

(14) Hierzu entwickelte Freud in der „Traumdeutung“ die Begriffe der Wahrnehmungs- und Denkidentität bzw. später den des Primär- und Sekundärprozesses. Vgl. Freud, Sigmund (1900), Die Traumdeutung, Studienausgabe S. 535F, 539FF,

(15) Freud, Neue Folge, 31. Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit, S. 514

(16) Schmidt, Praxis, S. 125, Zitate im Zitat: Marx; Engels, Die Deutsche Ideologie, MEW Bd. 3, S. 44

(17) Vgl. dazu beispielsweise die Arbeiten von Barbara Duden oder Thomas Laqueur

(18) In seinem Text mit dem aussagekräftigen Titel: Einige psychische Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschieds schreibt er dazu: „Die Differenz in diesem Stück der Sexualentwicklung [Phallische Phase] beim Mann und Weib ist eine begreifliche Folge der anatomischen Verschiedenheit der Genitalien und der damit verknüpften psychischen Situation, sie entspricht dem Unterschied von vollzogener und bloß angedrohter Kastration.“ S. 264f

(19) Mitscherlich-Nielsen, Psychoanalyse und weibliche Sexualität, S. 78

(20) Freud in „Über die weibliche Sexualität“, zitiert nach Hagemann-White, Frauenbewegung und Psychoanalyse, S. 34

(21) Millett, Sexus und Herrschaft, S. 180, zitiert nach Hagemann-White, Frauenbewegung und Psychoanalyse, S. 34

(22) Ebd., S. 34

(23) „Erst im – traumatisch erfahrenen und zur „Zertrümmerung“ des Ödipuskomplexes bemühten – Kastrationskomplex wird der Penis zum „Phallus“, der die ‘Zerrissenheit’ des Geschlechterverhältnisses nicht innerhalb dieses Verhältnisses selbst, sondern sowohl am Körper des Mannes wie an dem der Frau signalisiert und an der ‘Ungleichheit’ der Genitalien beider Geschlechter die abgewehrte ‘Geschlechterspannung’ demonstriert. Dieser ‘Fetischcharakter’ des Phallus ist in Freuds psychoanalytischer Theorie undurchschaut.“ (Schlesier, Mythos und Weiblichkeit bei Sigmund Freud, S. 168)

(24) Gemeint ist hier, dass Freud in Psychoanalysen auf den unbewussten Wunsch den Vater zu ermorden, stieß und daraus folgerte es müsse in der menschlichen Vorzeit tatsächlich einmal ein solches Verbrechen durch den Sohn am Vater gegeben haben – Adorno teilt hier Freuds Deutung der Wunschphantasie ‘Vatermord’ als Urszene der Kulturbildung, nicht.

(25) Adorno, Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie, S. 61

(26) Görlich, Psychoanalyse, S. 809

(27) Ebd., S. 810

(28) Schmidt, Praxis, S. 142, Herv. entfernt M. B.

(29) Vgl. Millett, Sexus und Herrschaft, Abschnitt: Über Freud und den Unterschied zwischen den Geschlechtern

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last modified: 22.4.2008