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Mit dieser neuen Rubrik wollen wir im CEE IEH wieder ein regelmäßiges Erscheinen von Grundlagentexten gewährleisten. Der Form nach erwarten euch hier kurze und einführende Beiträge, die sich – hoffentlich nicht ganz so lexikonhaft, wie der Name der Rubrik vermuten lässt – mit fundamentalen Themen linker Politik auseinandersetzen. Wie immer würden wir uns über Zuschriften freuen. Viel Spaß bei N wie Natur.
ABC, 3.9k

Was ist Natur?


Die Frage, was Natur ist, scheint auf den ersten Blick zunächst uninteressant zu sein, da fast alle eine Vorstellung davon haben, was das sei. Was könne an ihr schon so besonders sein, dass es lohnt eine Auseinandersetzung mit diesem Gegenstand zu suchen? Aus einer gesellschaftskritischen Perspektive jedoch, die die Befreiung des Menschen von den bestehenden Verhältnisse unversöhnlich einfordert, handelt es sich bei dem philosophischen Begriff Natur um ein nicht zu unterschätzendes Phänomen, das in diesem einführenden Artikel untersucht werden soll. Folgende Fragen sollen dabei als Leitfaden dienen. Bspw. die, warum die (nach)bürgerliche Gesellschaft trotz ihrer widerwärtigen Unmenschlichkeiten als natürlich angesehen wird; welche Rolle kommt den so genannten Natur-, Sozial-, und Wirtschaftswissenschaften etc. zu, wenn sie diese Anschauung mit (experimentellen) Methoden theoretisch fundieren sowie Studien über ihre jeweiligen Gegenstände anfertigen; kann eine unveränderliche und vernünftige Natur des Menschen als anthropologische Konstante angenommen werden; kann es ein „harmonisches Zusammenleben“ der Menschen mit der Natur geben, wenn jene, utopisch gesprochen, in das „Reich der Freiheit“ (Marx) eintreten?

Gartendeko Ziege, 134.4k

Im Alltagsverstand wird Natur meist mit all jenen Dingen und Abläufen identifiziert, die nicht durch den Menschen geschaffen wurden bzw. nicht durch den Menschen kontrolliert werden können. So seien bspw. der „unberührte Wald“ im Naturschutzgebiet, die „von keiner Menschenseele wahrgenommenen Eisschollen in der Antarktis“ bloße Natur; das Gravitationsgesetz der Erde (Newton), die Ausbreitung des Lichts mit einer universellen Geschwindigkeit (Lichtgeschwindigkeit) etc. Gesetze der Natur, die in ihrem Wirken durch den Menschen zwar ursächlich analysiert, nicht aber in ihren stetigen Abläufen verändert werden könnten, da diese ewig, also unveränderlich seien. Andererseits gäbe es vielerlei von den Menschen hervorgebrachte Praktiken und Institutionen, die ebenso als natürlich angesehen werden, wie der Tausch(1), die (Lohn)Arbeit, egoistisches Handeln, Staaten usw. usf. Auch hier wird Ewigkeit angenommen, was konsequent gedacht, früher oder später auf ein Ende des menschlichen Zusammenlebens hinauslaufen würde, wenn es sie nicht mehr gäbe. Es war immer so – natürlich, es ist heute so – natürlich, und es wird immer so sein – natürlich(2). Das, was unter Natur verstanden wird, ist also auf fast alle Bereiche des Lebens ausgedehnt, sie scheint überall zu sein und wird als selbstverständlich angenommen. Diese Überlegungen stützen auch die (logisch-positivistischen) Wissenschaften, die alle in ihren (Teil)Bereichen einen je eigenen Begriff von Natur verwenden, ohne den sie nicht auskommen würden. Allgemein gesagt, definieren sie Natur dabei als das uns umgebende Äußere, das von den Menschen unabhängig Existierende, deren einzelnen Erscheinungsformen nur noch in ihren Gesetzmäßigkeiten begrifflich erfasst, kategorisiert und aus praktischer Sicht experimentell nachgewiesen werden müssten. Indem die Natur und ihre Prozesse so zum Gegenstand genommen und bis ins kleinste Detail erforscht werden, kommt es zu einer scheinbar folgerichtigen Aufstellung von Axiomen, Definitionen, Formeln und wahrscheinlichen Aussagen, die auf den ersten Blick für klar und plausibel gehalten werden. So wird die Natürlichkeit gerader Linien in der Mathematik angenommen; die Natürlichkeit der Schwere von Körpern in der Physik; die Natürlichkeit der menschlichen Seele als rein erfahrungsbedingte Komponente des physischen Körpers in der Biologie etc. Dabei wird auf eine Differenzierung des Naturbegriffs verzichtet, auch dann, wenn sich die Wissenschaften versuchen als Natur- und Sozialwissenschaften gegeneinander abzugrenzen. Denn auch in anderen Teilbereichen ist ein Begriff Natur anzutreffen: So gehen die Wirtschaftswissenschaften von der Natürlichkeit der Akkumulation von Kapital und der Ausübung von (Lohn)Arbeit aus; die Soziologie behauptet die Natürlichkeit staatlicher und Normen schaffender Institutionen etc. Aufgrund der Allgegenwart von Natur im Alltagsverstand sowie in den Wissenschaften, die auf die Begründung von Naturgesetzen aus sind, indem sie um alles Besondere und sinnlich Wahrnehmbare allgemeine Kategorien spinnen, es in der Folge in Formeln pressen, Experimente veranstalten und Studien durchführen, um ihre Theorien und Hypothesen zu überprüfen und sie zu beweisen, wird Natur nicht mehr als Begrifflichkeit und sich den Menschen gegenüber als real, sich nach ihren eigenen Gesetzen Vollziehendes hinterfragt. Sie war, sie ist und sie wird immer sein. Durch solcherlei „Begründungen“ übt der Mensch Herrschaft über sich selbst aus; der Mensch gilt nur als Vollstrecker der natürlichen Prozesse, er kann sich deren Macht nicht entziehen. Sie sind als Gesetze vom Menschen gesetzt. Diesen dogmatischen Feststellungen wird kaum mehr widersprochen, weil Zweifel daran im alltäglichen Leben und den Wissenschaften Unmut und Entsetzen hervorruft. Herrschaftliches Denken, das autoritär über Gedanken, die gedacht, und Handlungen, die ausgeübt werden dürfen, entscheidet, gilt es gesellschaftskritisch gegen sich selbst zu wenden, was letztlich die Abschaffung mit einschließt.
In ihren Anfängen war die Wissenschaft von Natur eng mit der Philosophie und damit ganz wesentlich mit der Differenzierung des Begriffs verknüpft. Nach Aristoteles (384-322 v.u.Z.) heißt Natur in seiner Bedeutung die Entstehung des Wachsenden, sie ist der Stoff, woraus das Wachsende erwächst, dasjenige, wovon bei einem jeden (natürlichen) Dinge die erste Bewegung ausgeht. Die Frage nach dem Ursprung hat in der Geschichte der Philosophie eine lange Tradition und ist unweigerlich mit den Fragen nach der Entstehung der Welt, der Entstehung des Menschen, des Göttlichen usw. verknüpft. Die geschichtliche Bewegung des Begriffs schließt sein Verhältnis zur Wirklichkeit mit ein, was bedeutet, dass Menschen sich zur Natur immer in gewisser Weise verhalten, sie durch ihr Handeln und Denken geprägt haben – und damit sich selbst(3). Wortgeschichtlich stammt Natur lateinisch von natura (Natur, natürliche Beschaffenheit, Wesen, Eigenart, Gestalt, Eigenschaft, Naturgesetz, Element, Kreatur, Geschlecht etc.) und nasci (geboren werden); griechisch von physis (natürliche Beschaffenheit, Körperbeschaffenheit) ab. Diese verschiedenen Bedeutungen müssten nun im Einzelnen und in ihrer Relation zueinander betrachtet werden, woraus philosophisches Denken sich speist. Bspw. ist die Bedeutung des Geborenwerdens ganz wesentlich für die Abgrenzung des Menschen von der Natur: Ein Mensch wurde vor Tausenden von Jahren geboren, indem er der Natur entsprang. Seitdem wird er immer wieder geboren, wenn er als Embryon den Mutterleib verlässt, wenn er aus dem pränatalen Zustand in die Welt geworfen wird(4). Hieraus speist sich der (traditionelle) Dualismus von Natur und Kultur, von Körper und Geist, von Individuum und Gesellschaft, von Naturbeherrschung und Naturverfallenheit oder von Aufklärung und Gegenaufklärung(5) etc. Indem der Mensch anfing sich als natürlich-übernatürliches Wesen herzustellen, indem aus der Verbindung von rein biologischen Geschlechtszellen etwas erwuchs, was sich dem Körper als Geistiges entgrenzen konnte und dadurch, entgegen der Annahme der Naturwissenschaften, nicht mehr bloße physische Natur war, entstanden kulturelle Formen des Zusammenlebens, die die Angst vor der als gewalttätig empfundenen äußeren Umgebung einzudämmen suchten. Doch in diesem Prozess der Ablösung von der ersten Natur, die als gewaltvoll empfunden wurde, kristallisierte sich eine Art zweite Natur heraus, die sich zum Leidwesen der Menschen verselbstständigte: Indem sie sich zur ihrer Umgebung und den natürlichen Ressourcen als homo sapiens(6) verhielten, begannen sie die Naturformen der gegebenen Stoffe zu bearbeiten, sie kulturell nutzbar zu machen und grenzten sich so nach und nach vom Tierreich ab, indem sie Formen des Zusammenlebens schufen, die Schutz bieten konnten, vor der als gewaltvoll erfahrenen Natur. Später fingen sie an den Naturerscheinungen eine Beseeltheit zuzuschreiben (Animismus), die aus einer übernatürlichen Energie, Mana, die den Erscheinungen innewohne, hergeleitet wurde. Mit der Herstellung von Fetischobjekten(7) (ein geschnitzter Affe bspw.), ging die Zuschreibung magischer Fähigkeiten einher, die sich nun als anfänglicher Geistesblitz in äußeren Gegenständen vergegenständlichte. Die Angst und Furcht vor deren unkontrollierbaren Macht, zog die Aufstellung von Regeln und Tabus nach sich, die zur Beschwichtigung des Götzenwesens beitragen sollten. Dadurch gewannen die Fetischformen des Zusammenlebens, die man als Naturformen des Denkens beschreiben könnte, Macht über ihre Urheber. Sie fingen an Macht über sich selbst auszuüben und fügten sich Gewalt zu, wenn eine Übertretung der Sanktionen stattfand. In diesem Sinne verfielen die Menschen, die sich eben erst von Natur zu emanzipieren begannen und sie beherrschen wollten, ihr sogleich wieder. Die Natürlichkeit dieser machtvollen Verhältnisse wurde immer wieder gewaltvoll bestätigt.
Mit der allgegenwärtigen bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, die aufgrund ihrer Funktionsweise sich nicht um die menschlichen Bedürfnisse schert, verhält es sich ähnlich. Indem die für Lohn arbeitenden Menschen Dinge als Waren produzieren und sich zu den Dingen und damit zu sich selbst in bestimmter, das heißt fetischistischer Weise verhalten, schreiben sie ihren Handlungs- und Denkweisen Natürlichkeit zu, die aber im eigentlichen Sinne gesellschaftlich geprägt und historisch geworden sind. Die Kategorien von Wert, Ware, Geld, Staat, Arbeit, Kapital etc., die als natürlich gelten, könnten so in Wirklichkeit revolutionär überwunden werden, weil sie eben keine ewigen Natureigenschaften des Menschen sind. Dass sie sich als Naturwesen ewig im Austauschprozess mit Natur befinden werden, weil ihre körperlichen Voraussetzungen, ihr biologisches Dasein sie unweigerlich an diese bindet, lässt sich wohl nicht bestreiten. Dass die spezifische Vermittlung von Mensch und Natur, ihr ständiger Austauschprozess durch die genannten Institutionen und Praktiken aber immer so sein muss, ist aufgrund der gesellschaftlichen Prägung mehr als fragwürdig. Insofern ist dem herrschenden Alltagsverstand und den ihn stützenden Wissenschaften entschieden zu widersprechen. Man kann eingedenk der Geschichte der Menschwerdung zeigen, dass zwar eine Verbindung zur Natur besteht, die übernatürlichen Veranlagungen aber ermöglichen gleichzeitig Abgrenzung und Entgrenzung(8). Immanuel Kant (1724-1804) zeigte auf, dass der Mensch von Natur aus mit einem freien Willen und mit Vernunft begabt ist, der durch ihren Gebrauch so handeln könne, dass er in der Lage sei, sich von seinen Naturanlagen zu emanzipieren(9). Durch die Erfahrungen der Vergangenheit bedingt ist es aber unmöglich geworden an einer Natur des Menschen festzuhalten, die als an sich vernünftig gilt. Denn schließlich handelten die deutschen Nazis aus Unvernunft, aus barbarischen Impulsen, als sie Juden und Jüdinnen umbrachten und setzten die Massenvernichtung durch kalte technische Rationalität in die Tat um: Nur durch die effektive Anwendung wissenschaftlicher und pseudowissenschaftlicher Methoden war es den Nazis möglich in so kurzer Zeit so viele Menschen umzubringen.(10) Es lässt sich also ein Bruch in der Menschheitsgeschichte festhalten, der die Vorstellung vom guten Willen, der dem Wesen des Menschen eigen wäre, als absurd überführte. Trotzdem enthält eine gesellschaftskritische Position die Forderung nach Freiheit. Ist sie erreicht, könnte das Zusammenleben der Menschen ohne Angst gestaltet werden. Das Verhältnis des Menschen zur Natur würde sich dann ohne den Willen zu ihrer Beherrschung auszeichnen sowie durch die Freiheit von fetischistischen Denk- und Handelungsformen. Es wäre die durch bewusste und freie Entscheidung getroffene Wiederherstellung der Geborgenheit durch die Mutterwärme, die wir alle als Embryonen einstmals verlassen mussten, ohne aber den Status eines individuellen und besonderen Menschen aufgeben zu müssen. Die Diskrepanz zwischen diesem Ideal und der Realität muss wohl oder übel ausgehalten werden. So lange, bis das Moment der revolutionären Umwälzung weltweit gekommen ist.

Chris

Anmerkungen

(1) Und die dazugehörige Vorstellung vom Wert, der den Waren wie dem Geld (als Schmiermittel des Tausches) natürlicherweise oder an sich zukomme.

(2) Auch wenn das Heute nicht die creme de la creme ist, so sei es doch wenigstens erträglich.

(3) Daran lassen sich auch die traditionellen Differenzen von Materialismus und Idealismus aufzeigen, die bspw. für eine Kritik von Karl Marx (1818-1883) an G.W.F. Hegel (1770-1831) von tragender Bedeutung waren. Durch die Auseinandersetzung Ludwig Feuerbachs (1804-1872) mit dem deutschen Idealismus wurde der Mensch nun nicht mehr als gedankliche Abstraktion, als eine Idee wahrgenommen, sondern als ein sinnliches Einzelwesen, das vielerlei Bedürfnisse hat und sich Geschichte praktisch aneignen soll. Für Marx, der an Feuerbach kritisch anschloss und seine Kritik an der politischen Ökonomie formulierte, schwebte nicht mehr das Wesen, die Natur des Menschen als Idee in Raum und Zeit umher, sondern er schuf sich selbst durch einen wirklichen Aneignungsprozess seiner Wesenskräfte. Die geschaffenen gesellschaftlichen Verhältnisse jedoch knechten die Menschen und verhindern so jenen Aneignungsprozess.

(4) Die mögliche Analogisierung dieser beiden Prozesse wurde u.a. von Sigmund Freud (1856-1939) vorgenommen, dem Begründer der Psychoanalyse, der sich dabei auf die Begrifflichkeiten von Phylo- und Ontogenese bezog – mit all den leidvollen Ereignissen, die sich daran anschließen. An diese Überlegungen knüpfte seine kritikwürdige Theorie vom Todestrieb an, die maßgeblich durch die Erfahrungen des 1. Weltkrieges geprägt ist und die darauf hinausläuft, dass der Mensch, der aus einem anorganischen Zusammenhang erwuchs, das Bestreben hat, wieder in diesen zurückzukehren.

(5) Siehe dazu das Buch „Dialektik der Aufklärung“ von Theodor W. Adorno (1903-1969) und Max Horkeimer (1895-1973).

(6) Homo steht für Mensch; sapiens für vernünftig und weise.

(7) Fetisch kommt vom Lateinischen facere (Stoffe bearbeiten, machen, opfern, erleiden etc.) factio (Anhängerschaft), factor (Schöpfer, Verfertiger) etc.

(8) Tierische Lebewesen sind durch ihre „innere Uhr“, durch ihre Instinkte und Gene dazu bestimmt sich nach gewissen Gesetzmäßigkeiten zu richten, die sie nicht beeinflussen können und die es ihnen auferlegen, sich in festgelegten Grenzen zu bewegen, die sie nicht zu übertreten vermögen. Durch ihre natürliche Determination halten sich so die Tiere von der wirklichen Freiheit, die hinter den Grenzen liegt, fern und können sie aufgrund des fehlenden Bewusstseins von sich selbst wahrscheinlich noch nicht einmal erahnen.

(9) Somit hat die Frage nach dem Träger gedanklicher Abstraktion metaphysische Bezüge, da es bis heute niemand vermag die Seele anzufassen, ihre Entstehung durch nachweisbare Fakten plausibel zu machen, noch sie selbst im Gehirn exakt zu lokalisieren. Im wissenschaftlichen Betrieb der Hirnforschung finden zwar derlei Auseinandersetzungen statt, aber eben ohne philosophische Bezüge.

(10) Ganz abgesehen von den anderen Institutionen der Vernichtung, die Daniel J. Goldhagen in seinem Buch: „Hitlers willige Vollstrecker – Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust“ anführt.

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last modified: 21.9.2008