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Das Verkorken der Flaschenpost

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Theodor W. Adorno / Max Horkheimer: Briefwechsel 1927-1969. Band 3: 1945 – 1949. Frankfurt a.M. 2005

Über den Briefwechsel zwischen Adorno und Horkheimer 1945–49

      „Man kann an einen fernen Menschen denken und man kann einen nahen Menschen fassen, alles andere geht über Menschenkraft. Briefe schreiben aber heißt, sich vor den Gespenstern entblößen, worauf sie gierig warten. Geschriebene Küsse kommen nicht an ihren Ort, sondern werden von den Gespenstern auf dem Wege ausgetrunken.“(1)
I Prolog über den Briefwechsel (an sich und als solchen)

Kafka hat es sich nicht einmal beim Briefe schreiben leicht gemacht. Dabei sind Briefwechsel doch eine feine Sache. Heute, da sich die Kommunikation über größere Distanz via Email, SMS oder ausgiebig zu nutzende Freiminuten vollzieht, umwehen sie die Aura vergangener Zeiten. Briefe – das weiß der junge Student, der ein bisschen sehnsüchtig auf die Generation seiner intellektuellen Idole zurückblickt, stammen aus jener Zeit, da man sich noch die Zeit nahm für seitenlange Korrespondenzen über theoretische Probleme, jene Zeit, wo qua sozialer Schicht die Ausbildung auf dem humanistischen Gymnasium (Alt-Griechisch und Latein selbstredend) obligatorisch war und einem im Falle der Geringschätzung – im wahrsten Sinne des Wortes – eingebläut wurde. Ja, Briefe und ihre spätere Veröffentlichung zwischen Buchdeckeln gehören in jene Zeit, in die sich so mancher junge Intellektuelle heimlich zurückwünscht, die er mit der einen oder anderen kleinen Marotte evoziert (Quellenangaben auf Latein, die sorgfältig angehäufte Bibliothek mit einem kreativen, aber nicht zu protzigen Exlibris versehen etc.) und von der er Stückchen abhaben will, wenn er sich einen Briefwechsel nach dem anderen kauft.
Als Franz Kafka in dem Brief an Milena Jesenská sein Unverständnis über den bloßen Akt des Briefeschreibens ausdrückte, da meinte er mit der Rede vom „Gespenst“ den Adressaten, den sich der Briefeschreiber notwendig „vorstellen“ musste und die Schwierigkeit, dass Briefe zumeist versuchen, etwas einzuholen – nämlich konkrete Erfahrung –, das sie notwendig unerfüllt lassen müssen. Wenn unter kulturindustriellen Reproduktionsbedingungen Korrespondenzen zusammengetragen und publiziert werden, dann schaltet sich endgültig ein weiteres Gespenst dazwischen, jene dritte Figur, die sich zwischen Absender und Empfänger positioniert. Dass dieses dritte Wesen von außen kommt und zumeist kein Stück an der gemeinsamen – entweder real erlebten oder vorgestellten – Realität der tatsächlichen Briefschreiber partizipiert hat, ist keineswegs unbedeutend. Schließlich herrscht kein nur gradueller Unterschied zwischen Sentenzen, die ein/e AutorIn sich entschließt, publizieren zu lassen und Bemerkungen, Gedanken, Notizen, die ihr Leben im Gespräch in Briefform haben. Zumindest aus Sicht ihres Verfassers hat es einen Grund, wenn eine Notiz Notiz bleibt. Dennoch ist so mancher Briefstelle im Zuge der wissenschaftlichen Institutionalisierung der intellectual history keine unbeträchtliche Aufmerksamkeit gewidmet worden. Jacques Derrida und Susanne Heil glaubten aus einem distanzierten Brief Walter Benjamins an Carl Schmitt eine unheilige Identität im Geiste herzustellen, der Eindruck den Alfred Sohn-Rethels Gedanken auf Adorno hinterließen (und der einen ganz eigenen Strang der Adorno-Rezeption nach sich zog) wurde u.a. aus deren Korrespondenz rekonstruiert und die jüngere Auseinandersetzung um Leo Strauss und Walter Benjamin nehmen nicht selten die Korrespondenz zwischen letzterem und Gershom Scholem zum Anlass. Theoretisch unerheblich sind Briefwechsel (wenn sie sich denn um anderes drehen als Persönliches) also keineswegs. Allerdings sind sie eben nur Fetzen, Probebohrungen, Suchbewegungen, die ihrer Ausarbeitung möglicherweise noch harrten. Zudem – und das ist vielleicht das gravierendste Problem für heutige Leser – spielen sie auf etwas außer ihnen liegendes an. Seien das Bücher, Texte oder, wie im Falle von Horkheimer und Adorno, auf zahlreiche Stunde voller Gespräche, Sitzungen und hin und her geschobener Memoranden.
Ein besonderes, eher in den niederen Stockwerken anzusiedelndes Bedürfnis des heutigen Lesers befriedigen Briefwechsel zwischen „Personen der Zeitgeschichte“ vor allem dort, wo sie Einblick erlauben ins „Private“. Auch in dieser Hinsicht lässt sich das Zitat von Kafka verstehen. Wo die harte Schale der qualvoll angeeigneten Theorie bricht und sich der/die TheoretikerIn als Mensch zeigt, der lästert, lobt, meckert, witzelt und schwadroniert. Man scheint erst dann bis in die letzten Winkel eines Werkes vorgedrungen zu sein, wenn man zum handfesten Theoretischen auch noch die Anekdote aus dem Privaten hinzufügen kann. Das kommt nicht von ungefähr. Ein Quentchen Voyeurismus gehört zur Gesellschaft von sich unbewusst vergesellschaftenden isolierten Einzelnen dazu, wie der Durst zum Salz. Schäbig wird es dann, wenn diese Einblicke ins Private entweder zur Konstruktion allumfassender oder zur gehässigen Dekonstruktion von partieller Authentizität gewendet werden. Wer den Brief als „Privates“ und die Differenzen zu dem Bereich, den sich der/die AutorIn entschlossen hat, öffentlich zu machen, nicht respektiert, der missachtet ein nur antiemanzipatorisch zu hintergehendes „Residuum der Freiheit“ (Max Horkheimer/Theodor W. Adorno). Den Bereich zu achten bedeutet nicht in erster Linie, sich der Lektüre der Briefwechsel einfach zu enthalten, sondern sein Urteil über ihren Inhalt gesondert zu gewichten.
Warum also den vorliegenden dritten Band des Adorno-Horkheimer Briefwechsels(2) überhaupt rezensieren? Zum einen bildet er sozusagen das persönliche Vorwort bzw. Nachwort der beiden Autoren zu den im Exil geschriebenen Werken Eclipse of Reason, Minima Moralia, Studies on Predjudice und natürlich der gemeinsam verfassten Dialektik der Aufklärung. Zum anderen gibt es in all diesen Werken etwas von der Spannung, die das Leben und Schreiben auf dem anderen Kontinent und den Schwierigkeiten, die das Arbeiten in einem völlig anders strukturierten Wissenschaftsbetrieb Adorno und Horkheimer auferlegte. Sie bilden auch den Hintergrund des Briefwechsels. So verrät der Band nicht nur etwas über die Vorarbeiten der groß angelegten Studie über den Antisemitismus, nicht nur bildet er ein eindrucksvolles Dokument der „amerikanischen Erfahrung“, sondern er ist – vor allem im Falle Adornos, dessen Rückkehr nach Deutschland Thema des ganzen Bandes ist und deren Vollzug seinen Abschluss bildet – ein Produkt der Spannung zwischen Exil und Remigration. Zuletzt bietet der Briefwechsel auch einen Einblick in die intellektuelle Partnerschaft zwischen Adorno und Horkheimer und den Versuch, ihre damalige erzwungene geographische Distanz aufzuheben, nicht nur zukünftig, sondern auch punktuell über das Medium des Briefs.

Das Ende des Nationalsozialismus: betrachtet „weit vom Schuss“

Der 8. Mai 1945, die bedingungslose Kapitulation der nationalsozialistischen Führung gegenüber den Alliierten, zieht prismaartig Adornos und Horkheimers Zeit im Exil, vorher wie nachher, zusammen. Dass der deutsche Faschismus ewig dauere, davon ist keiner von beiden ausgegangen. Dennoch war die Rückkehr nach Europa, an der Adorno viel stärker interessiert war, als Horkheimer, vorher aufgeschoben gewesen und die Verdrängung muss eine stellenweise ans Unerträgliche grenzende Spannung besonders für Adorno ausgemacht haben. Mit dem Sieg der Alliierten ist das Urteil gefallen über die historischen Prognosen der beiden Theoretiker. „Wie meist in unseren sachlichen Kontroversen“, so schreibt Adorno am 9. Mai 1945 an Horkheimer, „hat sich gezeigt, dass wir beide recht behalten haben.“ (101) Für Adorno hatte sich letzten Endes die ökonomische Vernunft gegen die militärisch-ideologische Unvernunft des Naziregimes durchgesetzt; eine, wie er selbst schreibt, wahrlich „bürgerliche These.“ (Ibid.) Ganz ähnlich hatte Herbert Marcuse in seinen zwischen 1942 und 1951 verfassten Feind-analysen an das Office for Strategic Services gegenüber vertreten, dass nur ein Appell an die durch umfassende ökonomisch-politische Verwaltung induzierte „Sachlichkeit“ – also pure, auf den Nutzen bedachte ökonomische Vernunft – als Hebel für die Reeducation zuträglich sein könne.(3) Mit Marcuse betrachteten Adorno und Horkheimer den Faschismus immer noch als Konsequenz einer vornehmlich ökonomischen Konstellation, die qua Struktur die Grenzen des Deutschen Reiches zeitlich und räumlich überschritt.
Auch Horkheimer sah seine dunkle Prognose über die Gewalt des nazistischen Terrorregimes, trotz der militärischen Niederschlagung, ebenfalls bestätigt. Getrübt wird das Fünkchen Optimismus über das Ende des Nationalsozialismus jedoch bereits vom Heraufziehen des Konflikts der beiden „totalen tickets (...), aus dem es kein Entrinnen mehr gibt.“ (Ibid.) Historisches Bewusstsein beweist Adorno aber selbst noch in dieser düsteren Aussicht, insofern, als ihm der deutsche Faschismus nicht in einem allgemeinen zivilisatorischen Untergangsszenario verschwimmt: „Trotz der schwarzen Perspektive – über die wir uns ja stets einig waren – ist aber doch Grund zur Freude, einmal weil in einer Welt, die von einer Katastrophe in die andere zu stürzen scheint, schon jede Atempause ein Glück vorstellt, und dann weil das äußerste Entsetzen eben doch Hitler und Himmler hieß und anderswo zwar möglich, aber doch noch nicht wirklich ist. Diesmal ist es besser gegangen, als Sie dachten, und vielleicht wird es auch besser gehen, als wir beide denken.“ (102)
Es beweist sich in dem betreffenden Brief vom 9. Mai 1945, dass es mitnichten ein anderes historisches Ereignis gibt, welches das theoretische und praktische Wirken beider Autoren nachhaltiger bestimmt hätte. Dies gilt sowohl im Hinblick auf die Theorie, was die Texte bezeugen, es gilt umso mehr – und hier ringt Adorno dem historischen Unheil jenes Quentchen Sinn ab, was es nur auf der Ebene des Einzelnen geben kann – in biographischer Hinsicht. „Schließlich ist das Hitlerregime die unmittelbare Ursache aller äußeren Entwicklungen in unserem Leben während der letzten zwölf Jahre und die Erwartung, daß es anders kommen möchte, eine der entscheidenden Kräfte, die uns am Leben hielten, während andererseits die Tatsache, daß unser beider Leben ein gemeinsames geworden ist, vom Faschismus gar nicht getrennt werden kann, so daß Glück und Unglück durch diese Phase sich für uns unauflöslich verschränkt haben.“ (100) Das Exil, von dem Adorno hier spricht, bedeutete nicht nur die Trennung von seinem intellektuellen Partner, sondern es hieß für beide, sich in einem anderen Umfeld, in einer anderen Sprache und – wie später noch zu betrachten sein wird – in einem anders funktionierenden wissenschaftlichen Betrieb zu überleben. Dass es hier manchmal im handgreiflichen Sinne ums Überleben ging, zeigen weniger die Geschichten von Horkheimer und Adorno, die finanziell einigermaßen abgesichert waren, als die ärmlichen Verhältnisse, in denen bspw. Bloch sein Prinzip Hoffnung schrieb, von dem im zerrütteten Europa verbliebenen Walter Benjamin einmal ganz zu schweigen. Horkheimer und Adorno empfanden das Exil aber durchaus als eine Situation, in der sie sich die zum Schreiben nötige Unabhängigkeit bewahrt hatten (126f.) Zudem kann nicht nachhaltig genug betont werden, wie wichtig besonders für Adorno die theoretische Einheit seiner Schriften und denen Horkheimers war und das Exil ermöglichte zumindest zeitweise ein gemeinsames Arbeiten. Die zusammen verfasste Dialektik der Aufklärung ist, was das betrifft, nur die Spitze des Eisberges. Zahlreich sind die Gelegenheiten, in denen dies in den Briefen betont wird, entweder im Zusammenhang mit der Professur Adornos in Frankfurt a.M. oder aus Anlass eines unautorisiert veröffentlichten Teils des Dialektik der Aufklärung nur unter einem der beiden Namen. Als privilegiert verstanden sie ihre Situation aber auch im Hinblick auf ihr Verständnis von Gesellschaft. Die USA waren ihnen die bürgerliche Gesellschaft par excellence und zudem galt für beide, dass „für die Analyse der Gesellschaft drüben der bessere Standort ist als hier in der Kolonie.“ (399)

Zurück in die Vergangenheit: Adornos Rückkehr ins postnazistische Deutschland

Die „Kolonie“, das war natürlich Deutschland, respektive Europa. Doch vor jener realistischen und den deutschen Verhältnissen gegenüber kritischen Einstellung stand die Euphorie und die im Falle Adornos wohl nicht unbeträchtliche emotionale Bindung an – nun ja – Europa. Es ist durchaus bemerkenswert, wie sich im Laufe der Zeit die Redeweise verändert, was darauf hinweist, dass Adorno von einer geistesgeschichtlichen Höherbewertung Europas nicht frei war. Dieses Sentiment weicht bald der Konsternierung über das ressentiment, das ihm im postnazistischen Deutschland begegnete. Kurz vor seiner endgültigen Rückkehr, im Oktober 1949 schreibt Adorno über den Kontinent: „Was hier noch ist, mag historisch verurteilt sein und trägt die Spur davon deutlich genug, aber daß es noch ist, das Ungleichzeitige selber, gehört doch auch zum geschichtlichen Bild und birgt die Hoffnung, daß etwas vom Menschlichen, trotz allem überlebt.“ (301) Das Leben, so schreibt er kurz danach, lebt noch und in der Euphorie widerspricht er dem 1944 der Minima Moralia vorangestellten Wort Ferdinand Kürnbergers. Dort stand: „Das Leben lebt nicht“. Adorno spricht in dem zitierten Brief wohlgemerkt über Frankreich, aber es steht ihm pars pro toto für das zerstörte Europa.
Dass beide am Ende nach Deutschland zurückkehren werden, ist nicht nur eine räumliche Bewegung, sondern auch eine zeitliche, und zwar eine nach hinten. Weil das Demokratische dort ein Unfreiwilliges, ein Firnis ist und daher etwas Unwirkliches an sich trägt, befindet sich Deutschland automatisch hinter der historischen Entwicklung. Horkheimer äußert sich in einem Brief vom 29. Dezember 1949 positiv über die Pläne zur Rückkehr, wohl auch aus einem pädagogischen Impuls heraus. „Anderseits“, so schreibt er, „kann der Kontakt mit der sogenannten Realität drüben sicher nicht die theoretische Rolle spielen, die man einmal der Teilnahme an geschichtlicher Bewegung zuschrieb. Was Sie von dem Unwirklichen und Schattenhaften sagen, ist völlig richtig. Gerade dort, wo europäische Kultur noch existiert, hat sie etwas Nichtiges an sich, anderswo ist Kultur überholt.“ (403) Deutschland ist eben nicht Europa. Aber wie hatte Adorno denn die Verhältnisse in Deutschland beschrieben, in jenem postnazistischen Deutschland, dass ihm eine der sog. „Wiedergutmachungsprofessuren“(4) anbot? „Da ist vor allem das Scheinhafte der deutschen Demokratie, die nicht nur Politik zu einem Spiel macht, sondern allem, was überhaupt geschieht, etwas Unwirkliches und Schattenhaftes aufzwingt. Daß Deutschland, ja eigentlich ganz Westeuropa kein politisches Subjekt mehr ist, reicht bis in die feinsten Sublimierungen herein.“ (395) Das sieht Adorno in letzter Instanz sogar in der eifrigen Mitarbeit seiner Studenten. Sie stellte für ihn nur eines dar: „Ersatzbefriedigung (...), ganz Selbstzweck, eigentlich ohne Intention und vor allem ohne die Relation zur wahren Praxis, die uns am Herzen liegt.“ (395f.)
Aus diesen Worten spricht zu einem guten Teil Enttäuschung und es wird kein Zufall sein, dass die Verweise oder gar Explikationen Adornos, was denn „wahre Praxis“ nun sei, in seinen theoretischen Werken spärlich blieben, und dass selbst zu den Zeiten, als es sich jeder bewegte Student gewünscht hätte, Adorno nicht mehr dafür übrig hatte als eben eine Marginalie.(5) Die Theorie in der Kolonie schien zumindest Adorno auf lange Zeit hin „zur Propädeutik verurteilt“ (399), was auch sein pädagogisches und kommunikatives Engagement zumindest nach eigenem Verständnis affizierte. Er fühle sich, so Adorno, „wie eine überspielte Grammophonplatte, als ob ich mich falsch verausgabte; mehr als je habe ich das Gefühl, daß man das Anliegen der Menschen nur fern von ihnen vertreten kann.“ (Ibid.)
Dennoch lag Adorno und Horkheimer viel am Erlangen von einer, am Besten zweier Professuren in Frankfurt a.M. Dass es Frankfurt werden sollte und nicht wie zwischenzeitlich einmal zur Debatte stand, Heidelberg, ist dabei ebenso von Bedeutung wie wiederum der Wunsch, zusammen an einem Ort theoretisch arbeiten zu können. Die Kritischen Theoretiker hatten dafür viel Verhandlungsgeschick aufzubringen, was allerdings mehr in den Tätig- und Fähigkeitsbereich Horkheimers fiel. Immer wieder gibt es Briefe, in denen sich Adorno bei Horkheimer rückversichert, in denen die Taktik abgestimmt wird und in denen sie versuchen, sich auf einen einheitlichen Stand der Verhandlungen zu bringen. Die Form des Briefes, manchmal auch das Telegramm, hatte räumliche Trennung zu überwinden und Kräfte zu bündeln. Dabei war es keineswegs der Fall, dass Horkheimer mit seinen Bemühungen offene Türen eingerannt hätte. Immer wieder mussten die beiden wider besseren Wissens ihre Unabhängigkeit von einer deutschen Professur suggerieren und dabei überspielen, welch großen Stellenwert die Rückkehr spätestens ab 1949 bei Adorno und Horkheimer hatte. Jemand mit dem man sich in diesem Zusammenhang notwendigerweise gut stellen musste war Hans-Georg Gadamer, der den deutschen Faschismus unbeschadet und in Ausübung seiner Tätigkeit, u.a. als Professor und Rektor der Universität Leipzig, überstanden hatte. Am Ende des Jahres 1949, als die zweite Professur für Horkheimer noch ausstand, blieb diesem nur noch zu wünschen, dass „es uns gelingt, ohne von großen finanziellen, gesundheitlichen oder politischen Sorgen gestört zu sein, in die von uns erträumte Arbeit und das ihr entsprechende Leben hineinzukommen.“ (404ff.)

Antisemitismus-Theorie und amerikanischer Wissenschaftsbetrieb

Die Zeit zwischen 1945-1949 ist für Adorno und Horkheimer eine Zäsur, herbeigeführt durch die stärkere Einbindung vor allem Horkheimers in den amerikanischen Wissenschaftsbetrieb. Horkheimer wurde Forschungsdirektor beim American Jewish Commitee, damals wie heute u.a. Herausgeber der Zeitschrift Commentary.
Für die wissenschaftliche Arbeit hieß das folgendes: Zum einen die stärkere Ausrichtung auf die Linie der empirischen Soziologie. Die Anreicherung der des qualitativen Ansatzes, den das Institut für Sozialforschung in den 20er und 30er Jahren vertreten hatte, durch quantitative Methoden, ist deutlich spürbar, wenn man die zahlreichen im Anhang veröffentlichten Memoranden und Forschungsanträge liest. Zudem beschleicht einen das Gefühl, dass auch für diesen Bereich das gilt, was Horkheimer einmal für die Sprache der Kritischen Theorie im Allgemeinen konstatierte: dass man sich nämlich einer Art „Sklavensprache“ bediente, um in den engen Maschen des Wissenschaftsbetriebes seine kritischen Inhalte dennoch durchzubringen.
Die offiziellen und inoffiziellen Forschungsdokumente verraten somit einiges über die Erfordernisse, denen die Projekte der Exilanten genügen mussten. Inhaltlich beschäftigten sie sich ausnahmslos mit einem Thema: der Analyse und Bekämpfung des Antisemitismus. Dabei ist vor allem der zweite Aspekt oft aus dem Blick geraten. Wer den Vertretern der Frankfurter Schule zu wenig „Praxis“ vorwirft, der verrät nicht nur etwas über sein eigenes beschränktes Verständnis von selbiger, sondern er übersieht auch, wie wenig, im klassischen Sinne, „akademisch“ einige der Projekte waren. Sicher hatte dies ganz banale Gründe, nämlich die eher pädagogisch-aufklärende Ausrichtung des AJC, aber dennoch machen die Memoranden und Forschungsprojekte immer wieder klar, wo die Verbindung besteht zwischen jener Art von Praxis und einem Verständnis der Gesellschaft als Ganzem. Der Fokus lag dabei auf der zu analysierenden Trinität von Vorurteil/Persönlichkeit/Gesellschaft, deren elaboriertesten Ausdruck die Studien zum autoritären Charakter darstellen sollten. Das war aber keineswegs das einzige. Vielmehr arbeitete das Forschungsinstitut des AJC ebenso an einem Handbuch, das Juden über die innere Logik des antisemitischen Vorurteils aufklären sollte(6), einer Studie, in der antisemitische Impulse anhand eines Films getestet werden sollten, die Studie über „indirekte antisemitische Propaganda“ und eine imagologische Studie über die Bildhaftigkeit des Antisemitismus, sowie über das Bild des Antisemiten selber.
Für die theoretische Arbeit am Antisemitismus standen in dieser Phase weniger die objektiv-gesellschaftlichen Zusammenhänge im Vordergrund, als vielmehr ihr Niederschlag in den Subjekten, d.h. die Forschung richtete sich auf die Antisemiten selbst und wie sie „entlarvt“ werden können.(7) So führte dieser subjekt-fokussierte Ansatz bspw. zu ersten Überlegungen zur geschlechtsspezifischen Differenz innerhalb des Antisemitismus. Eine gesonderte Studie über Hausfrauen war geplant, die deren besondere Rolle als vom materiellen Produktionsprozess strukturell ausgeschlossene mit reflektieren sollte. (458) Es ist durchaus nicht zu vernachlässigen, dass bei diesen Studien das „Material“ vornehmlich amerikanisches war. Die Tatsache, dass etwas, das man auf dem Kontinent sehr wohl als Spezifikum des nationalsozialistischen Terrors wahrnahm, sich als Alltagsphänomen durchhält, auch in der „radikalsten bürgerlichen Gesellschaft“, dieser Zusammenhang führte zu einem sich verbreiternden Blick auf den gesamten Zivilisationsprozess, über die staatlich verfassten Gemeinwesen hinaus. So sollte das 1945 konzipierte Berkeley-Project über Antisemitismus auch ein Kapitel zur Kritik der Überbewertung ideologischer und politischer Differenzen zwischen Amerika und Deutschland enthalten. (469) Deutschland galt ihnen als extremste Ausgeburt polit-ökonomischer Konstellationen, die Schlüsse über die gesamte kapitalistisch verfasste Gesellschaft zuließen. Es war ihnen weniger „Sonderweg“ als ein pars pro toto in seiner radikalsten Gestalt. Die psychischen Destruktionstendenzen, die für die Kritischen Theoretiker in dieser Phase immer entscheidender wurden,(8) rationalisierten sich gerade in den Werten der westlichen Zivilisation. Deren zentrales Element umschrieben Adorno und Horkheimer in ihren Memoranden oft mit „rugged individualism“, was konzeptionell mit der bereits erwähnten „Sachlichkeit“ bei Herbert Marcuse korrespondiert.

Die „amerikanische Erfahrung“ und die Flaschenpost

Die Außenseiterstellung der Frankfurter Exilanten im Wissenschaftsbetrieb der USA(9) ist oft betont worden.(10) Dies lag zum Einen natürlich an der Sprache und zum Anderen an den völlig verschiedenen Situationen der Sozialwissenschaften, denen durch ihre starke politische Einbindung durch Roosevelt eine ganz andere Stellung als in Deutschland zukam. So mag es stimmen, dass die Kritische Theorie in dieser Phase entscheidende Anregungen, was sozialwissenschaftliche Methoden betraf, erhielt, auch wenn die starre Gegenüberstellung von den USA als positivistisches und empiristisches Ungeheuer auf der einen Seite und den lebensweltlich orientierten Sozialwissenschaften auf dem Kontinent in diesem Zusammenhang eher mit Vorsicht zu genießen ist.(11)
Entgegen jener Verballhornung der Kritischen Theorie, die aus Adorno einen Antiamerikaner macht und das Exil zur erfolg- und ereignislosen Zeit des Darbens verklärt, betont Detlev Claussen, dass die „amerikanische Erfahrung“ erst die Kritische Theorie zu dem gemacht hat, was sie ist.(12) Sie ist mehr als eine bloße Phase und einer Ortsveränderung, sondern sie hinterlässt einen inhaltlichen Niederschlag im Denken der beiden Theoretiker. Wie ist das zu verstehen? Bürgerliche Gesellschaft par excellence: das hieß für die beiden Theoretiker eine „Gesellschaft ohne Tradition“, ein Zustand ständiger Gegenwart. Aus der Erfahrung des Ausbleibens der Revolution in der Weimarer Republik wurde im Angesicht des Faschismus und der „Alternativlosigkeit“ der bürgerlichen Gesellschaft in den USA die Überzeugung von der Unmöglichkeit der Revolution. Diese Vertagung der Revolution ist die Verkorkung der Flaschenpost. Insofern traten die Elemente, die seit den späten 20er Jahren vorhanden waren, in eine neue Konstellation. Fortan kreisten ihre Untersuchungen um die Frage nach dem Neuen und dem sich durchhaltenden Alten. Amerika bot den Kritischen Theoretikern das Gegenbild der Normalität, wodurch der Schrecken des Nationalsozialismus, sowie das fehl gehende sozialistische Experiment im Osten immer in Beziehung zum spätkapitalistischen (d.h. nachliberalen) „Alltag“ gesehen wurden. Der oben erwähnten Ungleichzeitigkeit Europas, stand die permanente Gleichzeitigkeit Amerikas gegenüber. Durch die kontinuierliche Doppelperspektive dominiert in der Analyse des Blockkonflikts nach 1949 und auch der Grundopposition des 2. Weltkrieges – Bolschewismus vs. Faschismus – das Moment der Kontinuität statt des radikalen Bruchs. Der Nationalsozialismus war ihnen einerseits singulär, und anderseits ein Index auf eine mit der grundsätzlichen Verfassung der kapitalistischen Moderne verknüpfte Form der Gewalt. Deswegen spricht Detlev Claussen von einer „Totalitarismustheorie sui generis“ innerhalb der Kritischen Theorie.(13) Kapitalistischer Normalzustand und barbarisches Extrem wurden versucht zusammenzudenken, was sich vielleicht am deutlichsten und auf nicht unproblematische Weise in den Thesen zur Kulturindustrie zeigt.(14) Doch Desillusionierung ist keineswegs der einzige Eindruck gewesen, das aus dieser Zeit übrig blieb. Es ist nicht zu vergessen, dass Horkheimer, Fritz Pollock, Franz Neumann, Herbert Marcuse und Erich Fromm alle die amerikanische Staatsbürgerschaft erworben. Sie verbanden das Leben im Exil auch mit intellektueller Unabhängigkeit und finanzieller Absicherung. Dass Adorno in der bürgerlichen Gesellschaft der USA auch das emanzipative Moment herauslas, zeigt sich noch in den sublimsten Kategorien seiner Philosophie, so zum Beispiel für die Kategorie des Nicht-Identischen. Diese korrespondiert mit Adornos wortkargen Hinweis auf eine befreite Gesellschaft, in der es möglich sei „ohne Angst verschieden zu sein.“(15) Diese Vorstellung – nicht zufällig geäußert in einem Aufsatz, in dem Adorno seine eigene „Wissenschaftliche Erfahrung in Amerika“ rückblickend reflektiert – ist, so Detlev Claussen, nicht zuletzt am inneren Widerspruch der Idee des melting pot und dessen ambivalenter Realität gewonnen.(16) Insofern gilt tatsächlich: Keine Kritische Theorie ohne Amerika.

Walter Schrotfels

Anmerkungen

(1) Franz Kafka 1922 in einem Brief an Milena Jesenská.

(2) Theodor W. Adorno / Max Horkheimer: Briefwechsel 1927-1969. Band 3: 1945 – 1949. Frankfurt a.M. 2005. (Seitenangaben künftig im Text)

(3) Herbert Marcuse: Feindanalysen – Über die Deutschen . Springe 2007. S. 85 und passim.

(4) Cf. dazu den offiziellen Brief der Frankfurter Universität (355).

(5) Cf. Theodor W. Adorno: „Marginalien zu Theorie und Praxis“, In: Ders.: Gesammelte Schriften. Band 10.2., Darmstadt 1998. S. 759 – 782.

(6) Das „manual“ setzt vor allem tatsächliche Differenz, also bestimmte Praxisformen und Ideologie in Verbindung, was für den jüdischen Leser die Frage einschloss „Do I provoke antisemitism?“, um ihm im gleichen Moment zu erklären, dass es darauf kaum ankomme.

(7) So Adorno in einem „Begründungsentwurf“, zitiert bei Michael Werz: „Kritische Theorie im Exil“, In: Detlev Claussen / Oskar Negt / Ders. (Hrsg.): Keine Kritische Theorie ohne Amerika. Hannoversche Schriften, Band 1. S. 104.

(8) Das wird deutlich in der 1946 mit Ernst Simmel veranstalteten Konferenz über Antisemitismus. (Cf. Ernst Simmel (Hrsg.): Antisemitismus. Frankfurt a.M. 1993.)

(9) So z.B. durch die oft zitierten Worte von Paul Lazarsfeld, dem Doyen der empirischen Sozialforschung, über Adorno: „Er sieht genauso aus, wie man sich einen geistesabwesenden deutschen Professor vorstellt, und er benimmt sich so fremdartig, daß ich mir selbst wie ein Mitglied der Mayflower-Gesellschaft vorkomme.“

(10) Bei allen Schwierigkeiten war die Situation aber trotzdem um einiges besser, als im kühlen und fast schon emigrantenfeindlichen intellektuellen Klima Frankreichs – eine der ersten Stationen des Frankfurter Instituts für Sozialforschung –, wie zum Beispiel Franz Borkenau berichtete. (Cf. Martin Jay: Dialektische Phantasie. Frankfurt a.M. 1976. S. 58.)

(11) Cf. Detlev Claussen, „Die amerikanische Erfahrung der Kritischen Theoretiker“, In: Ders. / Oskar Negt / Michael Werz (Hrsg.): Keine Kritische Theorie ohne Amerika. Hannoversche Schriften, Band 1. S. 32.

(12) Cf. Claussen, S. 27 – 45

(13) Ibid., S. 37.

(14) Diesem Problem war Hannes Gießler in seinem Text „Beliebigkeit und Gegenaufklärung“ auf der Spur. (Cf. www.conne-island.de/nf/140/19.html)

(15) Theodor W. Adorno: „Wissenschaftliche Erfahrung in Amerika“, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 10.2., Darmstadt 1998. S. 704.

(16) Claussen, S. 42.

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last modified: 23.11.2007