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Aufstieg & Fall des konzentrierten Spektakels II

Nahtlose Fortsetzung von Teil I, erschienen im CEE IEH #147

Die Perspektive der Aufhebung der Wert- und Warenform, der Lohnarbeit und Proletarität, des Abbaus der Entfremdungen und der Verdinglichungs- und Fetischformen der gesellschaftlichen Reproduktion, die Emanzipation der ArbeiterInnen selbst usw. hat diese Klasse nicht, aber missbraucht sie als Phraseologie. „Den Kapitalismus ein- und überholen!“ ist die Devise, die den Stalinismus zum Modell aller rückständigen Ökonomien und (Möchtegern-) Bourgeoisien machen konnte. „Die nach dem bürgerlichen Modell der Absonderung organisierte Arbeiterpartei hat für diese Ergänzungsaufgabe der herrschenden Klasse den hierarchisch-staatlichen Rahmen geschaffen.“ (GdS§104)
Noch der sterbende Lenin initiierte eine weitere Art Partei-über-der-Partei und ihrem Staatsapparat: Die „Arbeiter- und Bauern-Inspektion“, die er idealistisch, voluntaristisch und elitär an keine höhere Instanz zu binden wusste als “ihr Gewissen“ als “die wirklich aufgeklärten Elemente“, die allerbeste proletarische “Fliege in der Milch“ der russischen halbasiatisch-despotischen Rückständigkeit, auf dem „proletarischen“ Staat, „demselben russischen Apparat, den wir (...) vom Zarismus übernommen und nur ganz leicht mit Sovjetöl gesalbt haben.“ (so Lenins „Testament“: Brief an den Parteitag Dezember/Januar1922/23). Der Generalsekretär, den Lenin hochgepäppelt hatte, Stalin, verwirklichte diese Apparatehierarchie – jenseits von „revolutionären“ Gewissenszwängen – sogleich durch sein System der „Kader-Akten“: Als Durchsetzung eines bedingungslosen Kadavergehorsams und als Vollendung des von Lenin immer schon eingeklagten „Primats der Politik über die Ökonomik“. Die Kader sollten schlechthin alles entscheiden. „Es gilt, die Funktionäre so auszulesen, dass die Posten von Menschen bekleidet werden, die es verstehen, die Direktiven zu verwirklichen.“ (Stalin). Bei Amtsantritt 1922 fügte er den vorgefundenen 17 000 direkt vom ZK-Apparat kommandierten Funktionären weitere 10 000 „Kommandierungen“ hinzu und besetzte mit ihnen entsprechend der Selektion in seiner Kader-Abteilung schon mal ausnahmslos alle Verwaltungszweige und den gesamten Funktionärskörper der Industrie(1). Und auf unterster Ebene wurde „auf asiatisch-barbarische Weise“, wie Lenin das genannt hatte, ein elementares System von Produktionsstätten durch „die Besten“ weitgehend aus den Reihen der Besprisorniki (Kriminellen, ehemaligen Straßenkinderhorden usw.) des Landes verwaltet: „Die Lager“(2) waren während der ersten beiden Fünfjahrespläne der Gründerzeit-Industriehinterhof des „Sozialismus in einem Lande“, die großen Lager entstanden um 1930 im Rahmen des 1.Fünfjahresplans, als Seitenprodukt und Nebenschauplatz der forcierten Industrialisierung im Zuge der Vollverstaatlichung nach Abschaffung der „Neuen Ökonomischen Politik“. Ihre Produktivität war „naturgemäß“ niedriger als außerhalb der Lager, schlug sich aber statistisch nieder (war also nicht vergleichbar mit der nationalsozialistischen deutschen „Vernichtung durch Arbeit“ und systematischen Menschenquälerei). Offiziell war ihre Funktion und Legitimation die politische und soziale „Umschmiedung“ von Menschen. „Kulaken“ wurden nicht in „die Lagerpunkte“ gebracht, sondern zwangsumgesiedelt. In den 1930ern wurde der GU-Kontinent mit Massen von Parteigesäuberten gefüllt, sprunghaft 1937, darunter vielen Dieses Feld dient zur Lebensmittelproduktion, 24.2k westlichen KommunistInnen, meist deutschen EmigrantInnen, z.T. direkt aus dem Revolutionskrieg in Spanien gekommen, mit Beginn der 1940er zunehmend AusländerInnen, noch mehr von diesen 1944/45 (wobei im befreiten Deutschland deutlich weniger Menschen von der SU-Administration verhaftet wurden als sonstwo in Europa). Diese letztere reale Dimension des „Sozialismus in einem Lande“-Mythos vom „proletarischen Staat“ galt es hier allein schon deshalb noch einmal zu erwähnen, weil sie die Wahrnehmung und das Urteil der SituationistInnen ja schon mit Hinblick auf die 1930er Jahre bewusst geprägt und geschärft hatte gegenüber der (nicht nur) in Frankreich auf der Linken dominierenden Apologetik und Schönfärberei angesichts der SU-Wirklichkeit, vor allem im Lager der KP- und „Volksfront“-Öffentlichkeit. Fast nur die Surrealisten mit ihren Exponenten André Breton, Benjamin Péret e.a.,(3) hielten als öffentlich wirksame revolutionäre Strömung entschieden an einer emanzipatorischen, radikalen, umfassend-ästhetischen Stalinismus-Kritik „en service de la révolution“ und einen echten Communismus fest, daneben eher nur Außenseiter der (nicht trotzkistischen) communistischen Linken. Als z.B.1936 Victor Serge aus einem der inneren Kreise dieser konterrevolutionären „Säuberungs“-Hölle, in der die „alte Garde“ der Bolsheviki nunmehr von der stalinistischen Spitze ausgerottet werden sollte, knapp nach Frankreich entkam, traf er dort fast die gesamte Linke in der Haltung an: „Schreiben Sie nichts über die SU, es wäre zu bitter ... Es ist die Geburtsstunde einer Hoffnung ohne Grenzen! Für sie [die mainstream-Linken der „Volksfront“-Öffentlichkeit – Anmerkung des Verfassers] bleibt die SU ein reiner Stern! Außerdem würde man Ihnen nicht glauben. (...) Damals entstand eine Bezeichnung für das Gefühl von Kraft und Vertrauen in die Zukunft, das die Volksfront hatte entstehen lassen: eine ‚Euphorie‘, sagte man.“(4) Als einziger von seinen revolutionären Freunden aus der Gründungsära der KPF riet ihm Boris Souvarine dringend, nicht euphorisch, sondern bilderstürmerisch zu berichten: Die „die nackte Wahrheit, so stark wie möglich, so brutal wie möglich! Wir erleben einen Ausbruch gefährlicher Dummheit!“ Zumal es auf den Hitler-Stalin-Pakt zuging, die Volksfront-KP-Linie die Öffentlichkeit blind für die Bedrohung durch Deutschland machte. In eine Kassandra-Rolle abgedrängt, schwammen diese Revolutionäre gegen den Strom, wurden natürlich wie immer als abstrakte Revolutionaristen, „Trotzkisten, Anarchisten, Bolshevistenfresser, Antikommunisten“, gefährliche Traumtänzer, abgehobene Feinde jeder „Realpolitik“ und sogar „objektiv profaschistisch“ usw. stigmatisiert. „Die entsetzliche Maschine funktionierte weiter, die Intellektuellen und die Politiker wandten sich von uns ab, die Meinung der Linken war stumm und blind. (...) Manchmal rief ich ihnen selbst erbittert zu: Erklären Sie mir doch das Gewissen der großen Intellektuellen und der westlichen Parteiführer, die das alles schlucken – Blut, Absurdität, Führerkult, ein demokratisches Grundgesetz, dessen Verfasser man sofort erschießt!“ (Boris Souvarine) Diese traumatischen Erfahrungen mit der westlichen Linken, deren Grundmuster sich seither immer wieder in den politischen Situationen eines Spektakels der Linken aktualisiert haben,(5) sollte die SituationistInnen zu den unversöhnlichsten communistischen KritikerInnen „der Lüge“ machen, die sie in der Wurzel des „konzentrierten Spektakels“, an seiner polit-ökonomischen sozialen Basis selbst angelegt sehen. Ihr Begriff für diese Lüge und Selbstbelügung einer „revolutionären Ideologie“ und konterrevolutionären Repräsentation ist die Reflexionsbestimmung (mit Hegel ausgedrückt) von Kohärenz / Inkohärenz.
Der Leninismus ist als revolutionäre Ideologie verkehrte, bürgerliche Bewusstseinsform von einem revolutionären gesellschaftlichen Sein, das er nur in seinen bürgerlich-staatlichen Möglichkeiten wahrnehmen und ausdrücken sowie „durchsetzen“ kann. Indem er die geschlossene Identität des in Wirklichkeit getrennten konkreten Klassenseins und -bewusstseins mit dem bürgerlichen Projekt und seiner Organisation („der“ Staats-Partei) behauptet und blutig-abstrakt durchzusetzen versucht, also die abstrakte „Repräsentation“ und die konkrete Klasse immerfort apriori als Subjekt und Objekt identisch setzt, stellt er „die Kohärenz des Getrennten“ dar. Bis Kronstadt 1921 sehen wir den gewaltsamen elitären Versuch der Verklammerung von revolutionärem Subjekt (Proletariat und Landarmut mit den Sovjets) und bürgerlich-organisatorischer Repräsentation („Jakobiner-mit-dem-Volk“ als „die“ orthodoxe Partei), „dessen größte voluntaristische Anstrengung der Leninismus bildet“ und die eine Ideologie verkörpert, „die die Verwaltung einer Realität innehat, die sie abweist“ (GdS§105). Mit dem endgültigen Scheitern dieses Voluntarismus am Wendepunkt Kronstadt 1921, wo der Staatskapitalismus die Hülle „des Kommunismus“ endlich von sich wirft und von jeglicher proletarischen und communistischen Opposition „genug zu haben“ erklärt, ist auch die Lüge (als behauptete Kohärenz des in Wirklichkeit Getrennten) nicht mehr aufrecht zu erhalten, auch nicht mehr in der bisherigen (leninistischen, naiven) Form. Die „revolutionäre Ideologie“ der künstlichen Identität des gewaltsam aufrechterhaltenen Identischen mit dem Nichtidentischen der Gesellschaft (ArbeiterInnen und Arbeitsbedingungen) „wird mit dem Stalinismus wieder zu ihrer Wahrheit in der Inkohärenz gelangen. In diesem Augenblick ist die Ideologie keine Waffe mehr, sondern ein Ziel. Die Lüge, die nicht mehr widerlegt wird, wird zum Wahnsinn. (...) Die machthabende totalitär-ideologische Klasse ist die Macht einer verkehrten Welt: je stärker sie ist, um so mehr behauptet sie, dass sie nicht existiert“ - so der „sozialistische“ Staat, der laut Stalin durch seine allumfassende Stärkung seine eigene Aufhebung befördert, und der Klassenkampf, der um so schärfer zu entfesseln sei, je weniger noch von der Existenz irgendwelcher Ausbeuter(klassen) in der SU-Gesellschaft die Rede sein könne. „Die überall zur Schau gestellte Bürokratie muss für das Bewusstsein die unsichtbare Klasse sein, so dass das ganze gesellschaftliche Leben verrückt wird. Die gesellschaftliche Organisation der absoluten Lüge folgt aus diesem grundlegenden Widerspruch. (...) denn sie hat als besitzende Klasse keine juristische Garantie, keine anerkannte Existenz, die sie auf jedes ihrer Mitglieder ausdehnen könnte. Ihr wirkliches Eigentum ist versteckt, und sie ist nur mit Hilfe des falschen Bewusstseins zur Eigentümerin geworden. (...) Die Mitglieder der machthabenden bürokratischen Klasse haben nur insofern kollektiv das Besitzrecht über die Gesellschaft, als sie bei der grundlegenden Lüge mitwirken: sie müssen die Rolle des eine sozialistische Gesellschaft führenden Proletariats spielen (...) Wenn die Bürokraten allesamt über alles entscheiden, kann der Zusammenhalt ihrer eigenen Klasse nur durch die Konzentration ihrer terroristischen Macht in einer einzigen Person gesichert werden. In dieser Person liegt die einzige praktische Wahrheit der machthabenden Lüge: die unbestreitbare Festsetzung ihrer stets berichtigten Grenze. In letzter Instanz bestimmt Stalin, wer schließlich besitzender Bürokrat ist (...) Die bürokratischen Atome finden nur in der Person Stalins das gemeinsame Wesen ihres Rechts. (...) Es ist bekannt, wieviel die wissenschaftliche Anwendung der zum Wahnsinn gewordenen Ideologie die russische Wirtschaft gekostet hat, und sei es auch nur durch die Scharlatanerie Lyssenkos. Dieser Widerspruch der eine industrialisierte Gesellschaft verwaltenden totalitären Bürokratie, die zwischen ihrem Bedarf an Rationellem und ihrer Ablehnung des Rationellen gefangen ist, bildet auch einen der Hauptmängel dieser Bürokratie gegenüber der normalen kapitalistischen Entwicklung. So, wie die Bürokratie die Landwirtschaftsfrage schlechter lösen kann, als es die [normale – Anmerkung des Verfassers] kapitalistische Entwicklung vermag, so steht sie ihr schließlich auch in der Industrieproduktion nach, die autoritär auf der Basis des Irrealismus und der verallgemeinerten Lüge geplant wird.“ (GdS§§105,106,107,108)
Dass die situationistische Kritik sich so intensiv als Ideologiekritik auf die Stalinismus-Analyse konzentriert, das Wesenszeichen der Lüge und des Wahns aufzuweisen versucht, also eher philosophisch-semantische, diskursive und psychologische wie auch moralische Kriterien für den Systemcharakter in Anschlag bringt, heißt keineswegs, dass sie sich nicht als Kritik der politischen Ökonomie versteht. Ist doch der Fetischismus der Warenproduktion im Kern, wie Marx zeigte, ein materielles Produktionsverhältnis der Menschen, das nur deshalb objektiv verkehrte Wirklichkeit besitzt, weil die Menschen es ideell-subjektiv verkehrt machen, nämlich nicht als die gesellschaftlichen Produzenten-Subjekte, die sie in ihrem gesellschaftlichen Handeln sind, sondern als blinde, private, entfremdete Objekte des Austauschs ihrer Arbeiten und Produkte vermittelt durch ein Drittes (Geld, Staat, „das Monopol“), das sie selbst hinter ihrem Rücken als gesellschaftliche Macht, als „automatisches Subjekt“ (Marx) über sich reproduzieren und anerkennen. Um ein ebensolches materiell-objektiv gewordenes ideologisch-subjektiv verkehrtes Reproduktionsverhältnis aber, so zeigt die situationistische Kritik, handelte es sich im „realen“ Irreal-Sozialismus der SU in besonderer, hochgradiger Form. „Sie ist ein lokaler Primitivismus des Spektakels, dessen Rolle jedoch in der Entwicklung des Weltspektakels wesentlich ist. Die Ideologie, die sich hier materialisiert, hat nicht die Welt ökonomisch verändert, wie der zum Stadium des Überflusses gelangte Kapitalismus [des Westens – Anmerkung des Verfassers]: sie hat lediglich die Wahrnehmung polizeilich verändert.“ (GdS§105) Das konzentrierte Spektakel, das hier historisch hervorgetrieben wurde, ließe sich definieren als das Kapital, das einen so primitiven, aber zugleich einen so gewaltsam konzentrierten Akkumulationsgrad erreicht, dass es zum Bild der primitiven, gewaltsamen, konzentrierten Lüge wird: Der real-existierenden „revolutionären Ideologie (Orthodoxie)“. Dasselbe nun noch einmal prosaisch, als Resümee der „heroischen Periode der Sovjetunion“:
„Die Bürokratie, die als einzige Eigentümerin eines Staatskapitalismus übriggeblieben war, sicherte nach Kronstadt, in der Zeit der „Neuen Ökonomischen Politik“, zuerst ihre Macht im Inneren durch eine zeitweilige Allianz mit der Bauernschaft, so wie sie sie nach außen verteidigte, indem sie die in die bürokratischen Parteien der III. [d. h. kommunistischen – Anmerkungen des Verfassers] Internationalen eingereihten Arbeiter als Hilfskraft der russischen Diplomatie benutzte, um jede revolutionäre Bewegung zu sabotieren und bürgerliche Regierungen zu unterstützen, von denen sie einen Beistand in der Weltpolitik erwartete (die Macht der GuoMindang in China 1925-27, die Volksfrontregierung in Spanien und in Frankreich usw.(6)). Aber die bürokratische Gesellschaft musste ihre eigene Vollendung mit Hilfe des Terrors über die Bauernschaft fortführen, um die brutalste ursprüngliche kapitalistische Akkumulation der Geschichte durchzuführen. Diese Industrialisierung der Stalinistischen Epoche enthüllt die letzte Realität der Bürokratie: sie ist die Fortsetzung der Macht der Ökonomie, (...) der Beweis der unabhängigen Ökonomie, die die Gesellschaft soweit beherrscht, dass sie für ihre eigenen Ziele die Klassengesellschaft wiederherstellt, die sie notwendig braucht, was mit anderen Worten heißt, dass die Bourgeoisie eine autonome Macht geschaffen hat, die, solange diese Autonomie besteht, so weit gehen kann, dass sie ohne Bourgeoisie auskommt.“ (GdS§104)
Die relative autistische Enthemmtheit, in der diese besondere historische bürokratische Ausbeuterklasse bei ihrer kollektiv-staatskapitalistischen Akkumulation von Mehrwert aus der unfrei gehaltenen Lohnarbeit und dem eigenartig versteckten „staatspolizeilich eingezwängten Konkurrenzkampf“ (Marx, MEW 23, S. 769f.) innerhalb der „Anarchie des Plans“ ein paar Jahrzehnte lang Bourgeoissozialismus spielen konnte muss hier nicht bis zum Ende skizziert werden. Sie war durch ihre in den stalinistischen Wahn übergegangene revolutionäre Ideologie des „Marxismus-Leninismus“ scheinbar legitimiert, durch ihren Beitrag in der Anti-Hitlerkoalition schließlich sogar tatsächlich historisch im Nachhinein relativ gerechtfertigt.
Die SituationistInnen zeigten, wie diese Form der nachholenden, primitiven Verallgemeinerung der Warenproduktion („sozialistische“ ursprüngliche Akkumulation des Kapitals) als konzentriertes Spektakel nach innen (was die implizierte Ideologie des Warenüberflusses und der unendlich ausgedehnten spektakulären Wahlfreiheit betrifft) und nach außen (was die anderen, historisch von ihr mitausgebrüteten „Bürokratien mit konkurrierenden Interessen“ betrifft) zwangsläufig auseinanderfallen, platzen musste. Diese Einschätzung war Mitte der 1960er Jahre noch ziemlich kühn. Schienen doch eher im Gegenteil seit der „Entstalinisierung“ (offiziell ab 1956) und der Heraufkunft weiterer realsozialistischer „Alternativen“ in „reformsozialistischer“ (Titoismus bis „Prager Frühling“) oder „linksradikaler“ Richtung (der Maoismus mit seiner „Großen Demokratie“ eines kulturrevolutionären Stalinismus-von-unten, der Castrismus mit dem Focoi-Modell des Che Guevara, den die SI als „einen der letzten konsequenten Leninisten unserer Zeit“ bezeichnete, dessen Kritik und Praxis „gewiss ihre Wurzeln in echten Kämpfen hat“ (GdS, S. 158) für zahlreiche, vor allem junge Linke im Westen das „sozialistische Lager“ und/oder die Vielfalt der „Wege im Weltkommunismus“ wenn auch höchst streitbar und rivalisierend, sich gerade zu entfalten: „Sozialistisch im Inhalt, national in der Form“ (Stalin), schien endlich zu gelten: „Lasst hundert Blumen blühen, lasst hundert Schulen miteinander wetteifern!“ (Mao). Die cosmo-communistische Kritik der S.I. wurde noch bohrender angesichts des Spektakels einer östlichen „Entstalinisierung“ ebenso wie der westlichen „Entideologisierung“. Denn die post-stalinistische „Stalinkritik“ ebenso wie die trotzkistische, maoistische und „demokratisch-sozialistische“ SU-Kritik fixierten sich alle auf das Scheinproblem von „Sozialismus und Demokratisierung“ (so der programmatische Titel des späten Lukács-Buches nach der militärischen Durchsetzung der „Breshnev-Doktrin“ gegen die Bewegung des „Prager Frühling“ 1968), indem sie den Stalinismus als „Leninismus minus Demokratie“, also einen bloßen Mangel der Staatsform und ihrer Staatsbürger (citoyens) denunzierten und ihrerseits mit neuen Angeboten der ideologischen Ware „echter Leninismus!“ in Wettbewerb traten. „Aber eine derartige Denunziation bleibt stalinistisch, willkürlich, unerklärt und ständig berichtigt, denn die ideologische Lüge ihres Ursprungs kann niemals offenbart werden. So kann sich die Bürokratie weder kulturell noch politisch liberalisieren, denn ihr Bestehen als Klasse hängt von ihrem ideologischen Monopol ab, das in seiner ganzen Schwere ihren einzigen Eigentumstitel bildet. (...) So bekennt sich die Bürokratie gerade in dem Moment, wo sie auf dem Boden des Kapitalismus ihre Überlegenheit beweisen will, als arme Verwandte des Kapitalismus. (...) In diesem Augenblick der Entwicklung bricht der ideologische Eigentumstitel der Bürokratie bereits im Weltmaßstab zusammen. Die Macht [gemeint ist die SU – Anmerkung des Verfassers], die sich national als grundlegend-internationalistisches Modell etabliert hatte, muss zugeben, dass sie nicht mehr behaupten kann, ihre lügenhafte Kohäsion jenseits jeder nationalen Grenze aufrechtzuerhalten. Die ungleiche Wirtschaftsentwicklung (...) hat zur öffentlichen und vollständigen Auseinandersetzung zwischen der russischen und der chinesischen Lüge geführt. (...) Die Bourgeoisie [des Westens – Anmerkung des Verfassers], ist auf dem Wege, den Gegner zu verlieren, der sie objektiv stützte, indem er jede Negation der bestehenden Ordnung illusorisch verneinte. Eine solche Teilung der spektakulären Arbeit [in Gestalt der „Blockkonfrontation“, „Systemalternative“ usw. – Anmerkung des Verfassers] sieht ihrem Ende entgegen, wenn sich die pseudorevolutionäre Rolle ebenfalls teilt. Das spektakuläre Element der Auflösung der Arbeiterbewegung wird selbst aufgelöst.“ (GdS§110, 111)
Die bewusste Neuzusammensetzung der Proletarisierten, Prekarisierten und Pauperisierten von der Klasse-an-sich zu neuen Assoziationsformen, zum Zweck einer Selbstorganisierung lohnabhängiger Individuen zur „Klasse des Bewusstseins“, die sich im Weltmaßstab als Proletariat, als automatisches Subjekt/Objekt sich reproduzierender Lohnarbeit und Kapital/Staats-Formen selbst aufheben kann, war das Thema, das von dieser situationistischen Diagnose ausgehend seitdem wieder aufgemacht ist.

Biene Baumeister und Zwi Negator

Anmerkungen

(1) Später würde man dieses System „Nomenklatura“ nennen.

(2) Das war die allgemeine Bezeichnung in der SU-Bevölkerung. Viel später waren diese im Westen als „Archipel GULag“ d.h. GU=Hauptverwaltung, bekannt.

(3) Auch hier gab es etliche Umfaller, wie die als KP-Poeten endenden Louis Aragon und Paul Éluard.

(4) Serge, Erinnerungen eines Revolutionärs, 367-370.

(5) Man denke an die unverbesserliche „Realsozialismus“-Apologetik einer öffentlichen linken geistigen Großmacht wie Sartre von Mitte der 1940er bis Mitte der 1970er Jahre, oder an die wiederholten Moden einer „linken“ Identifikation mit „antiimperialistischen Befreiungsbewegungen“ mitsamt ihrem „Hinterland SU“ usw.

(6) Hier wäre vor allem auch die Unterstützung der deutschen Reaktion seit Rapallo und die systematische Desorientierung der KPD sowie das versteckte und offene Paktieren mit dem NS-Faschismus bis zu dessen „treubrüchigem“ (sic Stalin) Überfall auf die SU 1941 zu nennen.


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last modified: 23.10.2007