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Kritische Psychologie


      „Der Marxismus begreift den Menschen als Wesen einer spezifischen Gattung, unter dem Blickpunkt seines authentischen Wesens. Dabei gelangt man nicht zur Gesetzmäßigkeit der objektiven Realität, sondern zu deren menschlichen Widerspiegelung“
      (Miladin Ivoti)
Dieses Zitat Ivoti‘ spiegelt eine der basalen Auffassungen wider, die alle Psychologien gemeinsam haben, die sich kritisch nennen oder sich zumindest als solche begreifen. Kritisch ist hier nicht zu verstehen als eine Kritik an einer vorherrschenden Praxis der akademischen Psychologie, sondern als davon abgegrenzte, autonome Psychologie, die sich Kritik und Emanzipation zum eigentlichen Inhalt gemacht hat. Allen kritischen Psychologien ist ebenso der Marxismus als theoretisches Fundament gemein. Zwar nicht der Psychoanalyse, der auch ein erhebliches kritisches Moment innewohnt, aber auch aus ihr entwickelten sich marxistisch-kritische Varianten wie z.B. der
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Freudomarxismus. Es existieren weitere psychologische Theorietraditionen, die sich auch dem Selbstverständnis nach als kritische sehen würden, sich aber nicht explizit danach benannt haben und hier aus Platzmangel nicht behandelt werden.

So wird im folgenden die Kritische Psychologie Holzkampscher Prägung(1) skizziert. Sie ist eine der prominentesten nicht-psychoanalytischen Vertreter der kritischen Psychologien und in den 1970er Jahren am Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin durch Klaus Holzkamp und seine Schüler entstanden. Hervorgegangen aus den Grundannahmen der Kulturhistorischen Schule Wygotskis, ist sie als deren späte Weiterentwicklung zu verstehen. Sie definiert sich über die Abgrenzung zur Psychoanalyse (die als zu bürgerlich konstituiert betrachtet wird(2)) auf der einen Seite und die Abgrenzung zur akademischen resp. positivistischen(3) auf der anderen Seite. Letztere dient hier als eine Negativfolie zur Beschreibung der Kritischen Psychologie. Die beiden Parteien im Positivismusstreit, also die Kritische Theorie auf der einen, die kritischen Rationalisten auf der anderen Seite, bilden hierfür eine hilfreiche Analogie.

Der durch den Kritischen Rationalismus aufgeklärte Mensch/Psychologe wird sich wundern, betrachtet er die kritische Psychologie nach seinen Maßstäben. Es wird ihn wundern, warum sich etwas kritisch nennt, wenn es doch den scheinbar diametralen Begriff der Parteilichkeit so stark macht. Dem kritischen Rationalisten ist Un-, ja sogar Überparteilichkeit das höchste Gut zur Wahrheitsfindung. Erkenntnistheoretisch erschöpft er sich im Falsifikationismus und lauert stets dem Schwarzen Schwan auf – wenn nötig sogar ad infinitum. D.h. nicht falsifizierte Erkenntnis gilt eben solange als prinzipiell ewig gültig, bis nach massiver empirischer Widerlegung(4) oder einem Paradigmenwechsel diese obsolet ist. Falsifikationisten vergessen dabei oder möchten nicht wahrhaben, dass jegliches Forschen interessengeleitet ist. Somit ist Parteilichkeit keine rein kämpferische Forderung nach Wissenschaft für die „richtige Sache“(5), sondern reflektiert auf die Erkenntnis, dass hinter dem Wollen, Wissen zu schaffen, zwingend auch ein Interesse stehen muss.

Psychische und gesellschaftliche Phänomene werden in der positivistischen Psychologie als statische und prinzipiell naturwüchsige aufgefasst. Die Kritische Psychologie hingegen sieht im Kontrast dazu die Erkenntnisse nicht als ahistorische oder anthropologische Konstanten. Sie stellt die „zweite Natur“ (Hegel/Marx) in den Vordergrund der Betrachtung. Der Begriff der zweiten Natur verweist zum Einen darauf, dass psychologische Phänomene beim Menschen immer als gesellschaftlich vermittelte zu begreifen sind und dass uns die gesellschaftliche Totalität also nicht bis auf den Grund des menschlichen Wesens blicken, ergo seine erste, von Vergesellschaftung freie Natur, nicht erschöpfend darstellen lässt. Zum anderen verweist er darauf, dass die Gesellschaftlichkeit des Menschen an sich schon Bedürfnisse hervorbringt resp. hervorbringen kann, die nicht in letzter Instanz phylogenetischen(6) Ursprungs sind. Es bedarf also laut Kritischer Psychologie nicht zwingend einer (Veränderung der) vererbten (ersten) Natur zur menschlichen Entwicklung. Die morphologisch-genetische Ausstattung soll bereits so fortgeschritten sein, dass die Bedingung der Möglichkeit zur ausschließlich gesellschaftlich-menschlichen Entwicklung besteht. Die Demarkationslinie hierfür liegt in der Unterscheidung rein tierischen Verhaltens und menschlicher Tätigkeit.

Tätigkeit als ein spezielles Verhalten mit Zielcharakter, Bewusstsein und damit einhergehender Reflexionsmöglichkeit: Mit einer Sprachentwicklung, die zur Arbeitsteilung führt etc., also mannigfaltig abänderbaren Verhalten, das sich nicht auf bloße Reiz-Reaktions-Verdindungen, Auslösemechanismen und Instinkthandlungen reduzieren lässt. Dieser Unterschied führe zum „wichtigsten ontogenetischen Entwicklungsprinzip“, dem Aneignungsprinzip. Der Mensch ist in der Lage, bereits gesellschaftlich erreichte Fähigkeiten und Entwicklungen zu begreifen und zu nutzen, ohne eine genetisch-morphologische Änderung vollziehen zu müssen. Er kann, obschon er wie sein direkter Vorfahre noch immer fünf Finger hat, seinen Acker im Vergleich zu ihm in einem Bruchteil der Zeit bearbeiten, die dieser dafür benötigte, weil er nun mit den fünf Fingern einen Trecker lenkt, anstatt mit ihnen die Erde selbst umzupflügen. Dies stellt ebenso einen essentiellen Unterschied der beiden Psychologien dar. Die akademische Auffassung geht davon aus, dass sich der Mensch aus einem Selektionsdruck heraus permanent an die (sich verändernden) Naturgegebenheiten anpasst. Der Kritischen Psychologie ist dieses Konzept der permanenten Adaptation zu einseitig. Es übersieht, dass der Mensch die Natur auch permanent verändert, also auf sie einwirkt. Dies führt zu einer Interdependenz von Natur und Mensch. Der Mensch ist also sowohl Teil der Natur, als auch ein in sie Eingreifendes, ihr Gegenüberliegendes.

Aus diesen sich ausschließenden Unterschieden heraus verwahrt sich die Kritische gegen das strenge methodologische Inventar einer akademischen Psychologie und der damit einhergehenden Austauschbarkeit der Methodik, bezogen auf den Forschungsgegenstand. Der positivistischen Psychologie ist nur eine nachvollziehbare Operationalisierung(7) wichtig, aber prinzipiell ist es ihr egal, ob z.B. Aggression über einen Fragebogen oder Beobachtung erhoben wird, solange nur die Übersetzung der Theorie in die Praxis halbwegs nachvollziehbar ist. Die Kritische Psychologie hingegen geht davon aus, dass das methodische Vorgehen sich eng an dem Untersuchungsgegenstand orientieren muss und „von dem jeweils konkreten Verhältnis von Fragestellung und kategorial zu erschließender Gegenstandsbeschaffenheit abhängt“.(8) Somit schließen sich parallel anwendbare Methoden für einen Forschungsgegenstand aus. Ebenso verwahrt sie sich gegen den Königsweg der Empirie: Das Experiment. In seiner positivistischen Variante werden Menschen zwangsläufig nur als bedingte Wesen wahrgenommen. Bedingt von Variablen, die systematisch variiert werden, um dem Menschen ein spezifisches Verhalten zu entlocken. Außer acht gelassen wird, dass der Mensch auch ein bedingendes Wesen ist. Dies kann per Definition von einem Experiment nicht erfasst werden.

Durch die dazu widersprüchlich wirkende Forderungen Holzkamps, methodische Anleihen bei der positivistischen Psychologie zu nehmen (z.B. experimental-empirische Ableitbarkeit der Theorien, Wiederholbarkeit als Validierungskriterium etc.)(9), bleibt die Kritische Psychologie letztendlich aber in einer positivistisch-bügerlichen Traditionslinie verhaftet, da sie sich so zwar einen eigenen Markt der Theorien schafft, der aber nach den gleichen Prinzipien wie der des „Konkurrenten“ funktioniert. Theorien messen sich dementsprechend nicht an ihrem Wahrheitsgehalt, sondern an ihrer Verwendbarkeit und Plausibilität. So wird Holzkamp dem eigenen Ideal, der „Gewinnung eines neuen wissenschaftlichen Standorts“(10), nicht gerecht. Er schafft sich zwar eine eigene theoretische Insel, welche aber die gleichen, kritisierten Gesetzmäßigkeiten des Festlandes importiert.

Wie bereits oben erwähnt, versteht sich die Kritische Psychologie in engem Bezug zur marxistischen Theorie und hat somit emanzipatorischen Anspruch, im Gegensatz zur akademischen Psychologie, die über Deskription und Inferenz, also der bloßen Beschreibung von und Mutmaßung über zukünftiges Verhalten, nicht hinaus möchte. Doch leider ist eine Übersetzung der marxistischen Kategorien in den theoretischen Schriften nur selten zu finden. Die Kritische Psychologie belässt es oft nur bei Anleihen aus der Terminologie des Marxismus und verfällt deswegen in eine zwingend verkürzte Darstellung. Holzkamps Dialektik z.B. beschränkt sich darauf, zwar Widersprüche in der Gesellschaft sowie im Denken anzuerkennen, aber nur um deren intrasubjektiver Auflösung willen – ohne zugleich den objektiven Widerspruch aufheben zu müssen. Er postuliert, dass Wahrnehmung und damit einhergehend jegliche Funktionen des kognitiven Apparates (Begreifen, Denken etc.), verursacht durch ebenjene Widersprüche, befangen seien. Es gelte, die Wahrnehmung und das Denken von dieser Befangenheit zu befreien, um zur Wirklichkeit vordringen zu können. Dann sei es möglich, mittels einer „umfassenden Gedankenentwicklung“ den objektiv-logischen Widerspruch logisch widerspruchsfrei als solchen zu begreifen. Der hier enthaltene „Kniff“ führt dazu, seiner Wahrnehmung endlich wieder trauen zu können, also Realwidersprüche zu erkennen und gleichsam logische Widersprüche als Resultat falschen Denkens zu eliminieren(11). Indirekt wird hier verlangt, aus einer Umwelt (dem Kapitalismus) heraus, die alltäglich aus objektiven Widersprüchen ebenso gedankliche nach sich zieht, also stets falsches Bewusstsein evoziert, ebendieses durchschauen zu können. Dieses Problem verhält sich analog zu dem der ersten und zweiten Natur, welches oben bereits erläutert wurde. Eine strikte Trennung ist hier ebenso unmöglich; und so hat es den Anschein, dass sich hier durch die Hintertür des Konzeptes „umfassende Gedankenentwicklung“ ein Idealismus seinen Weg bahnt.

Ebenso wird ein verkürzter respektive allzu pragmatischer Umgang mit Dialektik in den entwicklungspsychologischen Vorstellungen deutlich. Die Kritische Psychologie setzt jegliche Entwicklung (biologische wie gesellschaftlich-historische) einer Kategorisierung gleich, die sich vom Allgemeinen ins Spezielle chronologisch atomisiert. D.h. mit jeder Entwicklungsstufe differenziert sich der Mensch weiter aus – Rückschritte, Stagnation etc. sind hier nicht vorgesehen. Dieses lineare Modell denkt stets die Gegenwart als Entwicklungsstufe mit. Diese, auf die Anthropologie beschränkte, Sichtweise mündet so in einem Marxismus, der, über die historische Analyse der Produktionsverhältnisse und Arbeit, nur die Ökonomie im Auge hat. Auf dem anderen Auge, dem des Politischen – und am Chiasma, also der Verschränkung beider – ist es blind(12). Denn die Entwicklung des Politischen gehört nicht zu einer genuin anthropologischen Beschreibung und wird daher schlicht ausgespart. Hier greift der Reduktionismus einer Teilwissenschaft, der im Widerspruch dazu steht, dass die Kritische Psychologie auf einer „Kritik der politischen Ökonomie“ fußt.

So bleibt zu konstatieren, dass die Kritische Psychologie ihr hehres Ideal, sie verhalte „sich also nicht mehr nur kritisch gegenüber der bürgerlichen Psychologie, sie verhält sich auch kritisch gegenüber den Forschungsgegenständen der Psychologie, indem sie diese in ihrer historischen Bestimmtheit durch die bürgerliche Gesellschaft erneut angreift“(13), nicht erfüllen kann, also in ihrem Kern nur eine Kritik der Psychologie (mit marxistischer Terminologie) bleibt. Aber dieser Beitrag zur Kritik ist nicht gering zu schätzen.

Abe

Anmerkungen

(1) Viele Texte, insbesondere die Holzkamps, lassen sich online auf der Seite www.kritische-psychologie.de aufrufen

(2) Vgl. Holzkamp (1984): Die Bedeutung der Freudschen Psychoanalyse für die marxistisch fundierte Psychologie (auch online abrufbar); Holzkamp (1985): Zur Stellung der Psychoanalyse in der Geschichte der Psychologie In: Geschichte und Kritik der Psychoanalyse

(3) Akademische Psychologie und Positivistische Psychologie werden hier synonym benutzt.

(4) Dem Ideal nach reicht eine empirisch signifikante Widerlegung, wenn diese nur den Wissenschaftskriterien genügt, also Versuchspersonenauswahl randomisiert stattfindet etc. In der Praxis herrscht eher eine Marktwirtschaft der Theorien. Die am besten ‚verkäuflichen‘ setzen sich durch und sind gegen Widerlegung recht resistent.

(5) Für Wissenschaften im Weltanschauungsmarxismus war dies hingegen die einzige Legitimationsgrundlage. Parteilichkeit als Grundpfeiler der Wissenschaft die für eine proletarische Klasse zuarbeitet. Z.B. Die physiologischen Arbeiten eines Pawlow dienten als Bestätigung für einen sehr reduzierten Materialismusbegriff in der Sowjetunion. Das Lern-Paradigma der Konditionierung wurde benutzt, um zu erklären, warum Psychologie direkt von der Physiologie ableitbar sei und so letzendlich auf Materie zurückführbar.

(6) Phylogenese ist die genetische „Stammesentwicklung“ des Menschen. Als Gegensatz zur Ontogenese, die die Individualentwicklung eines Menschen über seine Lebensspanne meint.

(7) Also der Überführung der Theorie in eine messbare Praxis. Wenn z.B. Aggression bei Kindern in einem Experiment untersucht werden soll, kann die Häufigkeit von Schlägen auf eine Puppe als Indikator für das Ausmaß an Aggression dienen.

(8) Holzkamp (1985): Zur Stellung der Psychoanalyse in der Geschichte der Psychologie In: Geschichte und Kritik der Psychoanalyse, S. 59

(9) Vgl. Holzkamp (1971): Wissenschaftstheoretische Voraussetzungen kritisch-emanzipatorischer Psychologie

(10) Holzkamp (1978): Sinnliche Erkenntnis, S. 14

(11) Holzkamp (1978): Sinnliche Erkenntnis, S. 397f.

(12) Busch und Engelhardt (1979): Arbeit, Bedeutung und Wahrnehmung; In: Zur Kritik der Kritischen Psychologie, S. 149

(13) Holzkamp (1978): Sinnliche Erkenntnis, S. 46f.

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last modified: 22.8.2007