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Bei den zwei folgenden Dokumentationen handelt es sich um Stellungnahmen der Gruppen AG Antifa Halle und der Leipziger LeA. Sie geben daher nicht die Meinung der CEE IEH-Redaktion wieder. Da die Artikel vor der Veröffentlichung schon intern ausgetauscht wurden, haben wir uns entschieden, beide in einer Ausgabe abzudrucken, um keiner Gruppe bei der Leserschaft einen Vorteil zu verschaffen.
Die Redaktion
dokumentation, 1.1k

Am Ende: Konformismus

Die Leipziger Antifagruppe (Lea) hat der AG Antifa im Stura der Uni Halle mitgeteilt, vorerst nicht mit ihr zusammenarbeiten zu wollen. Die Begründung: Gegen einen Referenten, den die AG zu einem Vortrag eingeladen hatte, bestehe ein Vergewaltigungsvorwurf. Die AG fragt in diesem Zusammenhang nach den Hintergründen und der inneren Logik des autonomen Antisexismus’.

1.

Die alten Arbeiterparteien, revolutionären Bünde und Zirkel trugen Doppelcharakter: Sie waren Kampforganisationen, in und mit denen sich das revolutionäre Subjekt von der „Klasse an sich“ zur „Klasse für sich“ entwickeln sollte. Und sie waren – damit unmittelbar verbunden – ein Instrument, mit dessen Hilfe die Verhältnisse zum Tanzen gebracht werden sollten.
Spätestens seitdem die Abschaffung des falschen Ganzen nicht mehr auf der Tagesordnung steht, hat sich der Charakter der linken Organisationen gewandelt. In einer Zeit der verstellten Praxis, in einer Zeit also, in der keine Veränderungen herbeigeführt werden können, die diesen Namen verdienen, bleibt den Organisationen nur noch die Möglichkeit, ihre Mitglieder zu verändern. Ihr früherer Doppelcharakter hat sich in schlechte Eindeutigkeit aufgelöst. Die linken Organisationen haben sich vom Instrument und der Kampforganisation in den sozialen Ort verwandelt, an dem ihre Mitglieder ihre Freizeit verbringen. Und tatsächlich: Ohne die Option auf Veränderung sind die – teilweise durchaus nützlichen – Aktivitäten der diversen linken Gruppen nur noch schwer von einem Hobby zu unterscheiden.(1) Wie das Sammeln von Briefmarken, der Modellbau oder das Züchten von Blumen zielen auch sie weniger auf das Resultat als auf den psychischen Gewinn hin, der beim Werkeln eingefahren wird. Die Verhältnisse haben somit selbst ihren Kritikern das revisionistische Motto „Der Weg ist das Ziel“ aufgezwungen. Beim Plakatmalen oder im Transparentworkshop können sich die Einzelnen, die ihre Subjektivität und Spontaneität zwangsläufig verloren haben, vormachen, dass es gerade auf sie ankommt; bei den permanenten Feldzügen gegen rechte Vertriebsstrukturen kann die Ahnung bekämpft werden, dass das Leben auch ohne Naziläden nur selten wesentlich schöner ist.
Die diversen linken Gruppen haben darüber hinaus noch eine weitere Funktion: Beim wöchentlichen Gruppentreffen mit anschließendem Kneipenbesuch trifft man auf Gleichgesinnte, „die den oftmals verzweifelten Einzelnen Halt geben, Familienersatz bieten, und denjenigen, die aufgrund ihrer verschrobenen Vorstellungen und Spleens anderswo keinen Anschluss finden, Sozialkontakte bescheren“.(2) Die Gruppe ist also im Wortsinn eine „politische Heimat“; sie ist, wie jeder, der einmal in einem der diversen Politzirkel aktiv war, bestätigen kann, soziale Bezugsgröße und Therapiekreis in einem. Mit ihr soll – insbesondere in autonomen Kreisen, die diese Funktionen nicht verzweifelt als von den verhärteten Verhältnissen aufgezwungen, sondern sie fröhlich als ihren eigentlichen Zweck (Motto: „Freiräume schaffen!“) begreifen – den Zumutungen der feindlichen Außenwelt entflohen werden. Die Gruppe soll die ersehnte Geborgenheit und Wärme bieten, die anderswo nur schwer zu finden sind, und eine Art sozialen Schutzraum schaffen. Eine regionale Antifagruppe, die immer wieder mit mäßig witzigen Bildergeschichten über die Erlebnisse ihres Plüschtiermaskottchens Poldi berichtet, schob dem Spielzeugdrachen nach einer Gruppenexkursion dann auch die entsprechende Erkenntnis unter: „Rückblickend weiß Poldi, dass er viel gelernt hat, aber auch, was ihm gefehlt hat – eine feste Bezugsgruppe! […] Aber jetzt weiß Poldi, dass Gruppen schön und wichtig sind…“(3)

2. autonomer Stammtisch der Gartenzwerge, 10.2k

Die autonomen Schutzräume – und um die soll es im Folgenden gehen(4) – sind in der Regel nach dem Muster der Kinderbande, wie sie z.B. in Yves Roberts Film „Krieg der Knöpfe“ von 1961 beschrieben wird, geschaffen. Und das hat seinen Grund: In der Phase der Kindheit, die hier simuliert wird, war scheinbar noch alles in Ordnung. Hier war man noch nicht schonungslos mit den Schwierigkeiten des Lebens, dem Arbeitsmarkt, der Kontaktpflege und der Entscheidungsfindung konfrontiert. In der Nähe der Eltern, Tanten, Großeltern oder in der Kinderbande, deren Innenleben sich tatsächlich von der Erwachsenenwelt und ihrer instrumentellen Vernunft unterschied, fühlte man sich geborgen und behütet. Insbesondere in der frühkindlichen Phase war man zudem eins mit der Welt und wurde für die eigenen Handlungen noch nicht verantwortlich gemacht. Vor allem aber, so malt es das gängige Bild, war man der oft als Zumutung und Last empfundenen Sexualität noch nicht ausgesetzt. Das Gefühl des Hin- und Hergerissenseins, des unerfüllten Verlangens, des Zurückgewiesenwerdens, das oft weitaus demütigender ist, als die Mobbingattacken der Kollegen, das teilweise selbstzerstörerische Verlangen nach Hingabe bis zur Selbstaufgabe, die sexuellen Unsicherheiten: all das, so lautet die landläufige – und in ihrer Absolutheit irrige (Stichwort: kindliche Sexualität!) – Vorstellung, war noch unbekannt.
Bis vor einigen Jahren war in der autonomen Ikonografie noch deutlich zu erkennen, dass die Kinderbande und die Zeit der Präadoleszenz der autonomen Gruppenlandschaft als Vorbild dienten. Unzählige Plakate, Buttons und Aufkleber waren mit Bildern der „kleinen Strolche“ und anderer scheinbar widerständiger Kinder geschmückt; ganze Politvereine besorgten sich die Pippi-Langstrumpf-Titelmelodie als Klingelton für ihr Handy. Ende der neunziger Jahre wurden die Schöpfungen Astrid Lindgrens schließlich von japanischen Manga-Comics, Bart Simpson, der auf Antifaplakaten mit Steinschleuder und Skateboard auf Nazijagd ging, oder – als regionale Besonderheit Sachsen-Anhalts – dem Kelloggs-Tiger vertrieben. Auch diese Zeit scheint zwar allmählich ihrem Ende zuzugehen. Es fällt allerdings nicht schwer, das schon erwähnte Plüschtiermaskottchen Poldi als Fortsetzung dieser Infantilikonografie zu begreifen. (Nebenbei: Poldi hat als Drache, wie von seinen menschlichen Freunden kürzlich nach einer Exkursion in die Queer-Szene Seattles erklärt wurde, selbstverständlich kein Geschlecht.(5)) Anderswo findet man das Kind in sich mit anderen Mitteln: In einigen Städten führt die autonome Szene ihre „Zusammenhänge“ und „Strukturen“, ihre „emanzipatorische Politik“, ihren „emanzipatorischen Anspruch“, ihre „Praxis (…), die eine Kritik an der gegenwärtigen Gesellschaft einschließt“, und ihre „Verantwortung“(6), ihren ganzen autonomen Politkitsch und Wortmüll also, inzwischen teilweise unter dem Label der Israelsolidarität fort; die autonom-infantile Begeisterung für Wimpel, Vereinsabzeichen und Bekenntnis-Buttons macht sich hier in den absurdesten Formen an den Symbolen Israels fest.(7)

3.

Ganz der Logik der stetigen Kindheitssimulation folgend, sind die autonomen Gruppenangehörigen alles: kreativ, kämpferisch, solidarisch, kraftvoll und treu bis in den Tod. Sie dürfen nur eins nicht besitzen: Sexualität. Lange bevor der Begriff „queer“ in Mode kam, waren die Mitglieder autonomer Zusammenschlüsse in Dresscode, Frisur und selbst im Habitus nur noch schwer voneinander zu unterscheiden. Männer wie Frauen entsprachen dem Ideal des toughen, aber doch sensiblen Streetfighters. Darüber hinaus war und ist trotz des obligatorischen Pärchens, das zu jeder Gruppe gehört, in den entsprechenden Vereinen eine merkwürdig desexualisierte Etikette zu beobachten, die tatsächlich an die Umgangsformen der „kleinen Strolche“ erinnert. Das Verhältnis ist kameradschaftlich-kollegial.
Das Dumme ist: Die Sexualität bricht immer wieder in die desexualisierten Räume der heilen autonomen Gruppenwelt ein. Von Party zu Party, in einsamen Momenten oder nach einer gelungenen Demo zeigt sich, dass die Vereinsmitglieder doch ein Triebleben besitzen. Was nun über kurze oder lange Zeit folgt, stellt die ohnehin zerbrechlichen Zusammenschlüsse stets potenziell zur Disposition. Die Konflikte des echten Lebens, denen sie durch den Gang in die Gruppe entkommen wollten, holen die Flüchtigen ein. Gruppeninterne Auseinandersetzungen sind dabei nicht nur aufgrund der nur eingeschränkten Sozialkontakte, die Eifersüchteleien fast automatisch nach sich ziehen, vorprogrammiert. Oft genug auch brechen die Zusammenschlüsse nach der Trennung des oder der Gruppenpärchen, der kurzen Liebelei oder der einmaligen Suspendierung des kameradschaftlichen Verhältnisses zugunsten einer nächtlichen Zweisamkeit auseinander. Doch selbst wenn der Verein diese Auseinandersetzungen übersteht, ist danach oft nichts mehr wie zuvor. Politische Streitigkeiten werden in Folge regelmäßig an der Paarbruchlinie neu sortiert; die Wohlfühlatmosphäre leidet unter den nur halbherzig als politische Auseinandersetzungen getarnten Zankereien der vormals Verliebten.
Zu dieser eher randständigen Infragestellung des Schutzraumes gesellen sich andere, ungleich bedeutendere Überforderungen der Gruppenmitglieder. All die weiterhin vorhandenen Triebe, Wünsche und Phantasien, die über die gerade noch offiziell anerkannte und nur ex negativo kommunizierte Sexualmoral der Szene – die sich im Übrigen nicht allzu sehr von der der spießig-muffigen Aufklärungsliteratur der fünfziger Jahre unterscheidet(8) – hinausgehen, lassen sich nicht so einfach verdrängen. Vor dem Hintergrund dieser Überforderungen muss in einer Art Ersatzhandlung regelmäßig die Sau durchs Dorf getrieben werden. Die eigenen Wünsche, Triebe und Phantasien, von denen die Gruppenangehörigen sich und ihre „politische Heimat“ stets bedroht sehen, werden dabei von der eigenen Person oder Gruppe abgespalten, auf andere Personen projiziert und an der Figur des tatsächlichen oder vermeintlichen Vergewaltigers, des Täterschützers oder des Täterschützerkollektivs exorziert. Im Verfolgungs- und Sanktionsbedürfnis gegen den Sexisten können die unterdrückten Triebe also einerseits in veränderter Form ausgelebt werden. Andererseits kann am exterritorialisierten Gegner der Zusammenhalt des autonomen Kollektivs gestärkt werden. Und tatsächlich funktionieren die verschiedenen Gruppen, die nicht nur durch den regelmäßigen Einbruch der als bedrohlich empfundenen Sexualität stetig prekär sind, nur in der Krisensituation reibungslos(9); den Zusammenhalt und die Gemeinschaft, die die verzweifelten Einzelnen in der Gruppe suchen, gibt es tatsächlich nur im Kampf gegen äußere Gegner. Bei dieser verzweifelten Suche nach Gegnern, die die autonome Welt zusammenhalten, dem Gerede über die Herrschaft des Patriarchats und Täterschützer fällt dem Gruppenzusammenhang nicht einmal auf, dass er sich in seinem Verfolgungseifer gegen tatsächliche oder vermeintliche Vergewaltiger der Gesellschaft, vor der er doch permanent auf der Flucht ist, wieder annähert. Eine Umfrage, die kürzlich im Auftrag des Rundfunks Berlin Brandenburg (RBB) durchgeführt wurde, ergab: 60 Prozent der befragten Brandenburger sprachen sich dafür aus, die Namen von Sexualstraftätern zu veröffentlichen (35 Prozent waren dagegen); 80 Prozent forderten ihre dauerhafte Verwahrung.(10)

4.

Es ist dabei nur logisch, dass sich die Szene ausgerechnet am Bild des Vergewaltigers abarbeitet. Genauso wie die autonomen Gruppeninsassen den Einbruch der eigenen Triebe in ihren heilen Schutzraum nur als Gewaltakt begreifen können, können sie sich eine Sexualität, die über die Sexualmoral der Szene hinausgeht, nur als Gewalt oder Folge „struktureller Gewalt“ vorstellen. Der Vergewaltiger dient als Chiffre für die Zumutungen der Gesellschaft, vor denen man auf der Flucht ist. Er soll damit weniger für das bestraft werden, was er konkret getan hat. Ebenso wenig werden an ihm die tatsächlichen Widerwärtigkeiten und Gewaltakte, denen Frauen oft ausgesetzt sind, bekämpft. An ihm soll vielmehr exemplarisch und stellvertretend jede Sexualität, die den autonomen Sexualkodex verlässt, abgewehrt werden. Sexuelle Belästigung wird hier schnell zum Synonym für die Belästigung durch die Sexualität. Das Desinteresse am tatsächlich Geschehenen – das nicht mit der Abscheu vor Sensationsgier zu verwechseln ist – zeigt sich nicht zuletzt darin, dass die autonome Gruppenlandschaft nicht erst dann in aufgeregte Spannung versetzt wird, wenn ein Vergewaltigungsvorwurf erhoben wird. Es genügt vielmehr das Gerücht, dass ein solcher Vorwurf besteht. Ganz in diesem Sinn forderten uns mehrere langjährige und verdienstvolle Genossen auf, die oben genannte Veranstaltung abzusagen. Warum, so der Tenor, sollte doch allgemein bekannt sein. War es allerdings nicht – ebenso wie sie haben wir die einschlägigen Anklageschriften weder gelesen noch diskutiert.
Das gleiche Desinteresse, das die antipatriarchalen Kämpfer den tatsächlichen Handlungen des Täters entgegenbringen, ist auch im Umgang mit der betroffenen Frau zu beobachten. Auch wenn die beteiligten Gruppen immer wieder das Gegenteil behaupten, geht es bei der Sexistenhatz und den Sanktionen gegen Täter und Täterschützer weniger um den bitter nötigen Schutz vergewaltigter Frauen. Trotz des Voyeurismus’, der bei den einschlägigen Kampagnen regelmäßig zu beobachten ist, interessieren sie sich nur am Rande für die einzelne Frau und ihren konkreten Fall. Das immer wieder gepriesene Konzept des „Definitionsrechts der Frau“ blendet die Spezifika des jeweiligen Falls, das individuelle Erleben und Leiden der Frau gerade dadurch aus, dass es alles unter einen Begriff von Vergewaltigung subsumiert, der kaum weiter zu fassen ist.
Zur Erklärung: Die Idee des „Definitionsrechts der Frau“ ist wohl einmal entstanden, um betroffenen Frauen einerseits die demütigende und erneut verletzende Schilderung ihrer Misshandlung vor Gericht, die widerlichen Fragen nach ihrer Kleidung, ihrem Liebesleben usw. zu ersparen. Andererseits sollte sie dem konkreten Leiden der Frau und ihrem individuellen Fall nach Aussage seiner Anhänger gerecht werden. Gerade in Hinblick auf dieses zweite Ziel versagt dieses Definitionsrecht allerdings. Hier ist ihm selbst das – ebenfalls nicht sonderlich taugliche – positivistische Strafrecht überlegen. Das Strafgesetzbuch ist zwar genauso wenig in der Lage, das individuelle Leid der Betroffenen zu erfassen. In seiner Unterscheidung zwischen Vergewaltigung, sexueller Nötigung, sexuellem Missbrauch und sexueller Belästigung blitzt jedoch zumindest der Versuch auf, dem individuellen Fall und dem konkreten Leiden der betroffenen Frau durch definitorische Abgrenzung zu anderen Fällen gerecht zu werden. Dies ist nach den Maßgaben des „Definitionsrechts der Frau“ nicht mehr möglich. So wurde in der Autonomen-Postille Interim vor einigen Jahren folgendes diskutiert: Einer Frau wurden von ihrem Partner im Halbschlaf sexuelle Avancen gemacht, sie wies ihn zurück, wurde daraufhin ohne weiteres in Ruhe gelassen – und brachte das Ganze via Interim vors Szenegericht.(11) Der autonome Gerichtshof stritt zwar noch darüber, ob die Handlung des Mannes als Übergriff oder Vergewaltigung zu werten sei. Die Diskutanten waren sich jedoch, wie die Gruppe Les Madeleines in einer Broschüre ausführte, einig: „Sexuelle Avancen einer Frau gegenüber, die, gerade aufgewacht, noch nicht alle ihre sieben Sinne beisammen haben mag, erfüllen in jedem Falle den Tatbestand der sexistischen Grenzverletzung.“(12) Die Frau, die ihr Privatleben in dieser Form öffentlich machte, fühlte sich von ihrem Partner zweifellos gedemütigt – sonst hätte sie sich wohl kaum an die Interim gewandt. Wer diese Demütigung jedoch unter den Stichworten „Vergewaltigung“, „versuchte Vergewaltigung“ usw. diskutiert, relativiert nicht nur den Begriff von Vergewaltigung, er oder sie verharmlost ebenfalls eine Vergewaltigung im juristischen Sinn. Mit solchen Debatten werden zugleich diejenigen Frauen verhöhnt, die, wie es im notwendigerweise grauenhaft-sachlichen Duktus des Strafgesetzbuches heißt, mit „Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben“ „zum Beischlaf“ genötigt wurden, die also geschunden, misshandelt und gequält wurden und mit den psychischen wie physischen Folgen oft ein Leben lang zu kämpfen haben.

5.

Die Zeiten ändern sich manchmal doch noch. In dem Augenblick, in dem bestimmte Konstellationen, Entwicklungen und Zusammenhänge auf ihren Begriff gebracht werden können, sind sie oft bereits am Zerfallen begriffen. Noch Ende der neunziger Jahre war die Szenelandschaft nach einem Vergewaltigungs- oder Täterschützervorwurf in heller Aufregung. Es wurde die berühmte Öffentlichkeitsarbeit betrieben, Steckbriefe wurden angefertigt und in andere Städte verschickt, Rundbriefe wurden geschrieben, Telefonkonferenzen abgehalten, Privatadressen veröffentlicht, unbeteiligte Gruppen, Infoläden und „Kneipenkollektive“ verfassten Stellungnahmen, Freundinnen und Freunde so genannter Täterschützer wurden aus linken Kneipen geprügelt usw. Seit einigen Jahren vollzieht sich dieser antipatriarchale Kampf – auch wenn gelegentlich retardierende Momente zu beobachten sind – immer häufiger im Halbverborgenen. Ein Beispiel: Vor einigen Jahren wies die Crew eines Lautsprecherwagens einen Mann, gegen den ihrer Aussage zufolge ein Vergewaltigungsvorwurf bestand, ohne Rücksprache mit dem Vorbereitungskreis von einer regionalen Antifademonstration. Eine hallesche Antifagruppe, die an den Demo-Vorbereitungen beteiligt war, beschwerte sich über dieses Vorgehen, wurde daraufhin als Täterschützergruppe denunziert und aus einem internen Kommunikationsportal geworfen. Anders als erwartet, wurde allerdings auf die bis dahin üblichen öffentlichen Verlautbarungen verzichtet, die Entfernung aus dem Portal erfolgte still und heimlich.(13) Auch im aktuellen Fall lief die Aufkündigung der – erst noch geplanten – Zusammenarbeit nur über den internen E-Mail-Verkehr; die öffentliche Schlammschlacht, der Furor und das Bekennertum blieben aus.
Diese Veränderungen lassen vermuten, dass die autonome Zwangsmoral brüchig geworden ist.(14) Die antipatriarchalen Bannflüche scheinen von den Gruppenmitgliedern immer weniger aus Überzeugung getragen zu werden. Sie scheinen vielmehr auf einer Mischung aus Konformitätsdruck und Unterwerfungsbereitschaft zu basieren. Nur so ist es zu erklären, dass Leute, die dem Bahamas-Text „Infantile Inquisition“ – Uli Krug und Justus Wertmüller kritisieren hier die autonomen Vorstellungen von Sexualität(15) – vor einigen Jahren noch einiges abgewinnen konnten, plötzlich die Position ihres neuen Vereins übernehmen und zu Verteidigern des autonomen „Definitionsrechts der Frau“ werden. Nur so ist es zu erklären, dass Leute, die selbst bereits das Opfer einer antipatriarchalen Fatwa waren, bereit sind, Kontaktsperren zu so genannten Täterschützern mitzuverhängen. Und nur so ist es zu erklären, dass Gruppenmitglieder ihre Augen angesichts des Verfolgungseifers ihrer Genossen zwar hinter vorgehaltener Hand verdrehen, die entsprechenden Entscheidungen allerdings trotzdem abnicken.
Diese Mischung aus Konformitätsdruck und Unterwerfungsbereitschaft zeigt noch einmal, was ohnehin bereits klar sein dürfte: Der Glaube, den Anmaßungen der Außenwelt durch die Flucht in die Gruppe entgehen zu können, ist nicht nur in Hinblick auf die vermeintlichen Zumutungen der Sexualität illusionär. Im Verhältnis des Einzelnen zum Gruppenzusammenhang spiegeln und verdoppeln sich vielmehr seine Beziehungen zur Gesellschaft. Durch die Flucht in die Gruppe laufen die Fliehenden, wie Wolfgang Pohrt vor einigen Jahren feststellte, „exakt den Verhältnissen in die Arme, denen sie zu entkommen trachteten: stumpfsinnige Arbeit und Langeweile, Reglementierung und Kontrolle, Verdummung und Behinderung, Konformitätsdruck und Zankerei, Selbstpreisgabe des eigenen Verstandes und Unterwerfungsrituale als Preis dafür, geduldet zu werden“.(16) Dass sie bereit sind, diesen Preis zu zahlen, sagt nicht nur etwas über sie selbst aus. Ihre Bereitschaft ist zugleich ein unfreiwilliges Plädoyer für die Abschaffung der Verhältnisse, die auch ihre Gegner so zurichten, dass sie keine Bedingungen stellen, wenn sie nur irgendwo dabei sein dürfen. Das Problem – und damit sind wir wieder am Anfang angelangt – ist jedoch: Diese Zurichtung wird nur noch von marginalisierten Diskussionszirkeln als Argument für die Abschaffung des falschen Ganzen begriffen.

ag antifa im stura der uni halle, 03/2007

Anmerkungen

(1) Zum folgenden vgl. Jan Gerber: Me and my Monkey, in: Phase 2/19.

(2) Ebd.

(3) Vgl. venceremos.antifa.net.

(4) Ein Hinweis: Die klassische autonome Szene oder Gruppe, die sich aus Rasta-Trägern rekrutiert, deren Mitglieder vor dem Betreten des schwarzen Blocks das Levis-Schild von ihrer Hose entfernen, beim Plenum unter „Sonstiges“ vegane Rezepte austauschen usw., ist bekanntermaßen kaum noch existent. Der Begriff „autonom“ wird im Folgenden dann auch nicht an Äußerlichkeiten oder Dresscodes festgemacht, sondern – ganz so wie es auch die alte autonome Szene verstanden wissen wollte – als gemeinsame „Haltung“ begriffen. Die Stichworte, mit denen diese Haltung umschrieben werden kann, lauten „Politik der ersten Person“ und „Freiräume schaffen“. Gefühl und Befindlichkeit (der Bauch also) werden gegen Reflexion und Rationalität gesetzt, Kampf oder Aktion ist weniger Mittel als existentieller Zweck usw. Und diese letztlich vitalistische Haltung ist in der Linken nach wie vor weit verbreitet.

(5) Vgl. ebd.

(6) Alle Formeln sind einem Text der Gruppe Lea entnommen. Leipziger Antifa (Lea) and Friends: Roadmap. Politische Mindeststandards gegen linken Antizionismus.

(7) Um nicht falsch verstanden zu werden: Es ist immer noch besser, dass Israel solche Freunde hat als gar keine. In der existenziellen Bedrohungssituation, in der sich der jüdische Staat seit einiger Zeit befindet, kann er jeden Beistand gebrauchen. Man sollte sich nur keine Illusionen über die Qualität dieser Freundschaft machen. Eine Freundschaft, die vor allem auf der Begeisterung für Politkitsch, Anhänger, bedruckte Mützchen und Tassen, Pilgerreisen usw. basiert, kann den Gegenstand dieser Freundschaft schnell wieder wechseln. Man kennt das aus der Kindheit, deren Konservierung sich die autonomen Gruppe ja auf ihre Fahnen geschrieben haben: Vor einigen Wochen konnte kein Schritt ohne den braunen Teddy gemacht werden, jetzt liegt er unbeachtet in der Ecke, weil sich das Bedürfnis nach Nähe, Kuscheln usw. plötzlich am Plüschtierhasen festmacht.

(8) Wie sich diese Moral in Kleidungsvorstellungen widerspiegelt, konnte vor einigen Jahren in Halle beobachtet werden. Einige Autonome boykottierten damals ein Benefiz-Konzert für die Antifa Merseburg. Der Grund: Das Konzert wurde mit einem Plakat beworben, auf dem eine junge Frau – originellerweise eine Mangazeichnung – einen Nazi verprügelte. Da die Frau ein modisches Top trug und bauchfrei war, wurde der Antifa Merseburg Sexismus vorgeworfen. Welchen Kleidungsstil die Anti-Pat-Kämpfer präferierten, zeigten sie einige Zeit später, als in einem linken Zentrum ein Plakat ausgehangen wurde, das für ein großes, auch in Szenekreisen beliebtes Musikfestival warb. Auf dem Plakat war eine leicht bekleidete Frau zu sehen. Die selbsternannten Antisexisten überklebten daraufhin alle als anrüchig begriffenen Körperteile mit schwarzem Klebeband und verpassten der Figur damit gewollt oder ungewollt ein Kleidungsstück, das exakt an eine Burka erinnerte.

(9) Vgl. Punkt 5. Vor diesem Hintergrund ist auch das permanente Kampagnen-Hopping autonomer und „postautonomer“ Gruppen zu verstehen. Sie dürfen nie stillstehen; um der immer drohenden inneren Krise zu entgehen, müssen sie sich stets aufs Neue ins Getümmel stürzen.

(10) RBB: Brandenburg aktuell vom 17. März 2007.

(11) Vgl. Les Madeleines: Das Borderline-Syndrom. Beitrag zu einer erfolgreich verhinderten Diskussion, Bremen 2001.

(12) Ebd.

(13) Ein Treppenwitz am Rand: Diese „Täterschützergruppe“ gehört zu den Unterstützern der Erklärung Roadmap, die wiederum mit dem Signum „Lea and friends“ unterzeichnet ist.

(14) Während die einen den autonomen Feminismus der achtziger Jahre trotzig verteidigen, bemühen sich andere schon seit längerer Zeit um vermeintliche Tabubrüche. Demonstrationen erinnern an Umzüge von Männerbünden, Polizisten werden als Schwuchteln bezeichnet, Frauen als Fotzen beschimpft usw. Diese „Tabubrüche“ sind nicht nur angesichts der Rückzugsgefechte der autonomen Anti-Pat-Kämpfer zutiefst konformistisch. Sie sind zugleich das linke Pendant zu den Schwulenwitzen „Bully“ Herbigs, den Altherrenscherzen Stefan Raabs und Sendungen wie „Wa(h)re Liebe“, die eher an Jean Pütz’ Bastelanleitungen als an Sexualität und Lust erinnern.

(15) In: Bahamas 32/2000.

(16) Wolfgang Pohrt: Die Produktion des Charismas in der therapeutischen Gemeinschaft, in: Initiative Sozialistisches Forum (Hrsg.): Diktatur der Freundlichkeit. Über Bhagwan, die kommende Psychokratie und Lieferanteneingänge zum wohltätigen Wahnsinn, Freiburg 1984. S. 139 f.

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last modified: 26.5.2007