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Formanalyse als Handlungstheorie?

Kurze Bemerkungen zu Martin Eichlers Verteidigung des Ansatzes von Helmut Reichelt

Dass sich eine derzeit m.E. durchaus zu verzeichnende Marx-Renaissance nicht in eine „Mode des Wissenschaftsmarktes“ umsetzt, zeigt sich allein daran, an welchem Ort unsere kleine Debatte geführt wird. Während die akademische Geisteswissenschaft mit Tagungen über die „Philosophie der Wolke“ (!) brilliert und die Restlinke ad nauseam die „neoliberale Hegemonie“ anprangert, ernten Fragen, die auch nur annähernd nach „70er Jahre-Ableitungsmarxismus“ klingen, in um „wissenschaftliche Seriosität“ – also Professorenposten und politikberaterische Anschlussfähigkeit – bemühten Kreisen nur noch Kopfschütteln.
Bei der Fortführung „marxologischer“ Debatten begibt man sich allerdings auch in die Gefahr, selbst dem geneigten Publikum nur noch ein kieferausrenkendes Gähnen abzuverlangen und sich in bloßen Wiederholungen zu ergehen. Deshalb möchte ich mich in meiner Antikritik zu Martin Eichlers Beitrag kurz fassen. Zunächst möchte ich aber etwas ganz und gar nicht Selbstverständliches anmerken, nämlich die Tatsache, dass Martin ersichtlich so wenig wie ich die Intention hat, den übergeschnappten und selbstherrlichen Stil innerlinker Theoriedebatten zu imitieren, den er zu Recht verurteilt.

Nun zur inhaltlichen Kritik: Meines Erachtens bringt Martin einige Argumente vor, die eine handlungstheoretische Reduktion der Marxschen Formanalyse kennzeichnen, wie sie u.a. von Werner Bonefeld und John Holloway vertreten wird(1). Sein Hauptvorwurf gegenüber Dieter Wolf, aber auch Marx,

Zappel-Philipp I, 9.2k

Zappel-Philipp II, 8.8k

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ist der des Strukturalismus: Da Marx, wie zugestanden wird, im „Kapital“ nicht den Reicheltschen Ansatz einer Konstitutionstheorie des Werts verfolge, äußere er sich eben gar nicht zur Frage der Hervorbringung gesellschaftlicher Reichtumsformen(2). Wer nun mit Marx gegen Reichelt argumentiere, gehe damit sozusagen von einem „Standpunkt der fertigen Phänomene“ aus, wie Marx es Adam Smith gegenüber formuliert hat. Die handlungsdeterminierende Struktur der gesellschaftlichen Verhältnisse von Sachen werden „a priori gesetzt“, tautologisch „begründet’ und in einem „Nirgendwo platziert“. Damit sei ein Dualismus von Handlung und Struktur unterstellt, der Strukturen als nicht weiter erklärbare Behälter betrachte, in die menschliches Handeln gegossen werde. Passend dazu wird gefragt, was „eine theoretisch gedachte Beziehung von Waren sein soll“, die menschliche Handlungen determiniere. Es wird also gefragt, ob die Abstraktionsstufen der Marxschen Darstellung der Formen des gesellschaftlichen Reichtums einen anderen als mystischen Sinn haben können.

Da ich der Auffassung bin, dass die Beantwortung dieser Fragen bereits in Wolfs Beitrag und meinen beiden kurzen Artikeln gegeben wird, möchte ich nur kurz wiederholt auf zwei Punkte hinweisen: Zunächst wäre der Sinn des Marxschen „Kapital“ für mich nicht ersichtlich, handelte es sich dort nicht um eine Konstitutionstheorie der Reichtumsformen, wie Martin zu behaupten scheint. Demnach würde Marx den Standpunkt der von ihm geteilten Politökonomie nur reproduzieren, nämlich lediglich erklären, „wie man unter den [...] gegebenen Verhältnissen produziert [...] aber nicht erklären [...] wie diese Verhältnisse selbst produziert werden“(3). Dass Marx nun sehr wohl die Frage der Konstitution angeht, beansprucht Wolf gegen Reichelt zu zeigen: Er geht dabei von einer Geltungstheorie aus, die keineswegs tautologisch begründet wird. Die Geltung – d.h. historisch spezifische gesellschaftliche Bedeutung –, die Sachen zu den Objekten Ware und Geld macht, wird aus einer Relation erklärt, in der diese Sachen von Menschen unter bestimmten Bedingungen der Vergesellschaftung ihrer Arbeit gesetzt werden. Diese Bedingungen sind – abstrakt formuliert – mit der doppelten Trennung und Getrenntheit der Produzenten als privat-isolierte Produktionseinheiten und Besitzer/ Nichtbesitzer von Produktionsmitteln gegeben. Diese Trennung wurde nicht vom Kapitalismus ursprünglich produziert, sondern im Zuge der sog. ursprünglichen Akkumulation gewaltsam im Rahmen einer anderen Produktionsweise hergestellt und nun – in der Regel – durch strukturelle Gewalt, vermittelt über den Tausch von Kapital und Arbeitskraft, im Kapitalismus beständig reproduziert. Dieser beständige Reproduktionsprozess aus vorgegebenen Bedingungen ist Gegenstand der dialektischen Darstellung im „Kapital“, die eben an der Vorgegebenheit der Bedingungen, die die Arbeitsprodukte als in Form des Austauschs zueinander in Relation zu bringende Gegenstände setzt, ihre Grenze findet(4). Mir ist nicht klar, inwiefern hier eine Tautologie vorliegen soll.
Auch der Vorwurf eines Dualismus von Handlung und Struktur und die damit einhergehende Frage, was „eine theoretisch gedachte Beziehung von Waren sein soll“, scheint mir einem Missverständnis geschuldet: Hier formuliert Martin eine Kritik, die auch von Seiten ansonsten sehr unterschiedlicher Positionen an Michael Heinrich vorgetragen wurde, der in dieser Frage eine ähnliche Position vertritt wie Dieter Wolf. Heinrich, so z.B. Nadja Rakowitz(5) oder Wolfgang Fritz Haug(6), begreife objektivistisch ökonomische Formen unabhängig von sozialer Praxis, wenn er das erste Kapitel des „Kapital“ als Struktur- und erst das zweite als „Handlungstheorie“ begreife. Heinrichs (und auch Wolfs) Prämisse bezieht sich aber auf notwendig zu unterscheidende theoretische Darstellungsebenen eines real nicht getrennt existierenden Struktur-Praxis-Zusammenhangs. „Praxis“ (der Wareneigner) ist dabei nicht Explanans, sondern Explanandum der Ökonomiekritik: Es wird nach der Logik einer Praxis gefragt, „deren Subjekte nicht wissen, was sie tun, die also in ihrer Praxis etwas umsetzen, das sie nicht kennen“(7). Die „umzusetzenden“ Formen, ihre nachzuvollziehenden Anforderungen und der Zwang zu ihrer Reproduktion sind folglich zuerst zu entwickeln, auch wenn in der gesellschaftlichen Realität Handlung und Struktur „immer schon verbunden“(8) sind. Der Gang der Darstellung im „Kapital“ trägt demnach einer Form von Vergesellschaftung Rechnung, in der die Handlungen der Menschen von undurchschauten und ihrer Kontrolle entzogenen Strukturen bestimmt werden (die freilich nur durch ihr Handeln hindurch immer wieder re-/produziert werden)(9). Nur nebenbei sei bemerkt, dass Martins These, Marx rekonstruiere die sozialen Formen aus „den Handlungen der Einzelnen“, erstens dem bisher angeführten Strukturalismus widersprechen würde und zweitens eher den Ansatz von Reichelt kennzeichnet, wie Wolf plausibel zu zeigen vermag(10).
Des Weiteren kann Martin m.E. auch nicht schlüssig nachweisen, wie der Ansatz von Reichelt den von Wolf angeführten logischen Kontradiktionen entgehen könnte und auf welche Weise un-/ bewusste Gedankenbewegungen an der Konstitution der Form Wert Anteil haben. Er weist zu Recht darauf hin, dass Tauschakte ohne Antizipationen gedanklicher Art kaum denkbar seien: „Ich mache mir Gedanken darüber, was ich für ein Produkt bekomme. Damit setze ich ein anderes Produkt meinem gleich“. Auf diese Tatsache verweist auch Wolf. Allerdings ist sie für ihn nicht als Hinweis auf eine gedankliche Konstitution der Form Wert interpretierbar, sondern als Akt, der sich ersichtlich auf komplexere, den Prozess ihrer Konstitution bereits verdeckende, Wertformen bezieht: Preis und Geld. Was ich ideell gleichsetze ist eine Ware mit Geld – diese ideelle Antizipation nennt sich bei Marx Preis(11) und sagt über den Grund der Austauschbarkeit, d.h. über das Wesen der sozialen Formen Preis und Geld als nur spezifische Formen der Austauschbarkeit (also des Werts), nichts aus. Martins Beispiel geht damit m.E. am Problem der Hervorbringung der Formen vorbei.
Martin fällt schließlich mit Reichelt in den bereits von Backhaus und Ritsert(12) kritisierten Dualismus von Geist und Materie zurück, in den der originär gesellschaftliche Gegenstand Wert aufgelöst wird, wenn er meint, der Begriff einer objektiven Semantik siedele den Wert im „Nirgendwo“ an, wenn er ihn nicht in den Köpfen der Akteure verorte. Damit wären wir wieder am Anfang der Debatte. Die Frage ist, ob es möglich ist, sie einer Lösung näher zu bringen oder sie sich darin erschöpfen wird, bei der Feststellung unterschiedlicher ontologischer Grundannahmen stehen zu bleiben?

Ingo Elbe

Literatur
  • Backhaus, Hans-Georg (1997): Materialien zur Rekonstruktion der Marxschen Werttheorie, Teil II. In: ders.: Dialektik der Wertform. Untersuchungen zur Marxschen Ökonomiekritik, Freiburg, S. 93-128
  • Bonefeld, Werner (1997): Das Kapital als Subjekt und die Existenz der Arbeit. In: Wildcat-Zirkular 36/37, S. 55-91
  • Haug, Wolfgang Fritz (2003): Wachsende Zweifel an der Monetären Werttheorie. Antwort auf Michael Heinrich. In: Das Argument 251, S. 424-437
  • Heinrich, Michael (2004): Über „Praxeologie“, „Ableitungen aus dem Begriff“ und die Lektüre von Texten. Antwort auf W.F. Haug. In: Das Argument 254, S. 92-101
  • Holloway, John (2002): Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen, Münster
  • Marx, Karl: Das Elend der Philosophie. Antwort auf Proudhons „Philosophie des Elends“. In: MEW 4, Berlin 111990, S. 63-182
  • Ders.: Fragment des Urtextes von „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ (1858). In: ders.: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf) (1857/58), Berlin 21974, S. 869-947 (zit.: Urtext)
  • Ders.: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. 1. Band: Der Produktionsprozess des Kapitals = MEW 23, Berlin 181993
  • Rakowitz, Nadja (2000): Einfache Warenproduktion. Ideal und Ideologie, Freiburg
  • Ritsert, Jürgen (1988): Gesellschaft. Einführung in den Grundbegriff der Soziologie, Ff/M.
  • Wolf, Dieter (1985): Ware und Geld. Der dialektische Widerspruch im Kapital, Hamburg
  • Ders. (2004): Kritische Theorie und Kritik der politischen Ökonomie. In: Berliner Verein zur Förderung der MEGA-Edition (Hg.), Wissenschaftliche Mitteilungen, Heft 3: Zur Konfusion des Wertbegriffs, Berlin, S. 9-190
Fußnoten

(1) Vgl. Bonefeld 1997, S. 60, 63 oder Holloway 2002, S. 99: Konstatiert wird dort die „Trennung von Konstituierung und Existenz“ (ebd.) im Rahmen eines objektivistischen Formbegriffs, der sich so als Konzept eines „starren Fetischismus’“ (ebd., S. 97) erweise.
(2) „Marx äußert sich im Kapital nicht zur Konstitution der gesellschaftlichen Formen“.
(3) MEW 4, S. 126.
(4) Vgl. Urtext, S. 945.
(5) Rakowitz 2000, S. 118.
(6) Haug 2003, S. 435: „Es ist, als existierten die ‚Gesetze der Warenwelt’ in einer menschenleeren und praxislosen logischen Sphäre für sich“.
(7) Heinrich 2004, S. 100.
(8) Ebd., S. 101.
(9) Vgl. Ebd. Dies betont auch bereits ausführlich Wolf 1985 S. 107, 206ff., 218.
(10) Vgl. Wolf 2004, S. 85f.
(11) Vgl. MEW 23, S. 118: „Neben ihrer reellen Gestalt, Eisen z.B., kann die Ware im Preise ideelle Wertgestalt oder vorgestellte Goldgestalt besitzen, aber sie kann nicht zugleich wirklich Eisen und wirklich Gold sein“ (Hervorhebung von I.E.).
(12) So konstatierte Hans-Georg Backhaus in seinen ‚Materialien zur Rekonstruktion der Marxschen Werttheorie’, die Seinsweise ökonomischer Objekte sei „eine gänzlich andere [...] als die von naturwissenschaftlich und psychologisch erfaßbaren Objekten und Prozessen“. Sie sei aber „ebenso wenig die von sozialen Normen, ideellen Gebilden und intelligiblen Wesenheiten“ (Backhaus 1997, S. 101). Vgl. auch Ritsert 1988, S. 38.

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last modified: 28.3.2007