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asa bli jehudim asa bli jehudim, 0.6k – Gaza ohne Juden


Nachdem im Juni durch das Oberste Gericht Israels eine Klage von Siedlern abgewiesen wurde, sind nun die rechtlichen Hindernisse für den Abzug der Israelis aus dem Gaza-Streifen und aus vier isolierten Siedlungen im Westjordanland beseitigt. Damit kann der Abzug – theoretisch – wie geplant ab Mitte August stattfinden. Nach wie vor ist eine Mehrheit der israelischen Bevölkerung für diesen einseitigen Rückzug, auch wenn die Zustimmungsquoten in letzter Zeit gesunken sind. Was hat es mit dem Abzug aus Gaza auf sich? Warum wird er ausgerechnet vom Hardliner Ariel Sharon durchgesetzt? Wieso sind die Palästinenser scheinbar dagegen, obwohl die Islamisten den Rückzug der israelischen Armee als Erfolg ihres „Kampfes um die Freiheit Palästinas“ feiern? (Bonus fürs BgR: Welche Impulse gibt der israelische Abzug aus dem Gaza-Streifen für die radikale Linke?)

Zur Erinnerung: Der Gaza-Streifen ist – grob gesagt – 40 Kilometer lang und durchschnittlich zehn Kilometer breit. Er gehört zu den am dichtesten besiedelten Flecken auf der Erde. In ihm leben 1,2 Millionen Palästinenserinnen und Palästinenser und bisher 8.000 jüdische Siedlerinnen und Siedler. Der militärische Aufwand, den Israel betreiben muss, um die Israelis, die dort wohnen, zu schützen, ist enorm. Das ist bereits einer der wesentlichen Gründe, dass die israelische Bevölkerung in der Mehrheit für den Abzug ist: Sie wollen einfach nicht, dass „ihre Jungs und Mädels“ dort ihr Leben riskieren, um einer Handvoll Israelis das Leben in festungsartig ausgebauten Siedlungen zu ermöglichen. Immer wieder kommt es zu Angriffen von palästinensischer Seite, meistens mittels primitiver Kassam-Raketen, die in den Hinterhöfen Gazas gebastelt werden, wobei es immer wieder zu „Arbeitsunfällen“ kommt, bei denen dann mehrere islamistische Bastler ums Leben kommen. Während in den letzten Jahren die Kassam-Raketen jeweils nur Sachschaden angerichtet hatten, sind seit einigen Monaten bei derartigen Angriffen israelische Opfer zu beklagen. Offenbar „verbessern“ die Palästinenser die Raketen (teilweise sind sie mit Splittern gefüllt, die die Wirkung breiter streuen). Diese Kassam-Raketen werden aber nicht nur auf jüdische Siedlungen abgefeuert, oftmals treffen sie auch zum Beispiel die Stadt Sderot, die sehr nahe an der Grenze zum Gaza-Streifen liegt. Eine der Befürchtungen der Israelis ist, dass es nach dem Abzug für die Islamisten leichter sein könnte, solche Waffen herzustellen und auf israelisches Gebiet abzufeuern. Unter anderem deshalb gibt es in Israel die Ansicht, dass der Abzug besser mit der palästinensischen Seite koordiniert werden sollte (und von daher weniger einseitig sein sollte), damit nach dem Rückzug kein „Sicherheitsvakuum“ entsteht, sondern die palästinensischen Sicherheitskräfte für Ordnung sorgen können, eine Aufgabe, die derzeit die Israelischen Verteidigungskräfte (Israel Defense Forces, IDF) erledigen.

Der Gaza-Rückzug ist einerseits ein Riesending – und andererseits nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Er führt zur Zeit in Israel zu Befürchtungen, es könnte einen Bürgerkrieg geben, wenn die Israelis, die umgesiedelt werden sollen (in eine neu zu gründende Ortschaft im Naturschutzgebiet Nizanim, südlich von Tel Aviv) zu den Waffen greifen und sich gegen ihre „Vertreibung“ zur Wehr setzen wollen. Dann würden nämlich die Juden der IDF auf die Juden aus den Siedlungen schießen müssen, ein Szenario, das für Israel unerträglich wäre und für das schwer vorausgesagt werden kann, wie sich die Sympathisanten der Siedler im israelischen Kernland verhalten würden. Das ist die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite betrifft die Aktion lediglich dreieinhalb Prozent der Siedler. Im Westjordanland leben nämlich 220.000 Jüdinnen und Juden in großenteils sehr verstreuten Siedlungen, über deren Abzug noch gar nichts gesagt ist. Die Umsiedlung dieser Siedlerinnen und Siedler ins israelische Kernland wäre auch, nicht nur wegen der großen Zahl, wesentlich schwieriger. Im Westjordanland liegen nämlich die meisten der jüdischen heiligen Stätten, von denen orthodoxe Juden meinen, dass sie niemals aufgegeben werden dürfen. Eine solche religiöse und historische Bedeutung für Juden hat der Gaza-Streifen überhaupt nicht. Für die Befürworter der „Zwei-Staaten-Lösung“, die vorsieht, dass es einen unabhängigen palästinensischen Staat ohne israelische Besatzung geben soll, ist der Abzug aus dem Gaza-Streifen nur der erste Schritt des Rückzugs der Israelis aus allen besetzten Gebieten. Im Gegensatz dazu scheint Ariel Sharon sich von dem Rückzug zu versprechen, dass anschließend der internationale Druck auf Israel nachlässt, auch das Westjordanland zu räumen. Allerdings müssen auch die Hardliner in Sharons Likud-Partei einsehen, dass die Besatzung der palästinensischen Gebiete zu aufwändig und schlicht zu teuer für den israelischen Staat ist. Sharons überraschende Wandlung vom „Siedler-Vater“ zum Propagandisten und Durchsetzer des Rückzugs aus dem Gaza-Streifen hat also außen- und innenpolitische Ursachen. Zu beachten ist, dass wir hier über die palästinensische Forderung nach einem „judenfreien“ Staat Palästina reden. Während in Israel ungefähr eine Million Araberinnen und Araber leben, besteht die palästinensische Seite auf dem vollständigen Abzug der jüdischen Bevölkerung aus ihrem zukünftigen Staatsgebiet. Davon ist völlig unberührt, ob es für Jüdinnen und Juden erstrebenswert wäre, in einem palästinensischen Staat zu leben.

Was die palästinensische Bevölkerung denkt, ist schwer herauszufinden. Bis auf regelmäßige Umfragen, in denen steht, dass 75 Prozent der Palästinenser Selbstmordattentate gegen Israel befürworten, gibt es kaum Berichte über die Stimmung in den palästinensischen Autonomiegebieten. Die offiziellen Sprecher der Autonomiebehörde ergehen sich zumeist in Jammern. So hat letztens Mustafa Shehadeh, Pressesprecher des Generaldelegierten Palästinas in Deutschland, im Rahmen der unsäglichen „Ringvorlesung Deutschland-Israel-Palästina“ an der Leipziger Universität beklagt, dass die internationale Gemeinschaft, die USA, Europa und insbesondere Deutschland an der Misere der Palästinenser schuld seien. Vor einigen Jahren, so Shehadeh, sei die Zustimmung der palästinensischen Bevölkerung zu islamistischen Organisationen verschwindend gering gewesen. Heute liege sie bei 30 Prozent. Das wäre die Schuld der Weltgemeinschaft, die die Palästinenser in ihrem gerechten Kampf im Stich gelassen hätte. Dabei wäre – weder der Referent noch das Publikum lachte – die Palästinensische Autonomiebehörde unter Führung der Fatah die einzige echte Demokratie im Nahen Osten, im Gegensatz insbesondere zur Scheindemokratie Israels. In Israel nämlich würden alle Politiker sich absprechen: Peres, Sharon, Netanjahu: Alle steckten unter einer Decke und hätten sich gegen die PLO verschworen. Mache einer Zugeständnisse und äußere sich für Verhandlungen, befehle der andere Angriffe auf Kämpfer der Hamas. Und das werde in Think-Tanks koordiniert, weshalb von echter Demokratie im Falle Israels nicht die Rede sein könne. Unterstützt werde Israel dabei von den USA. Und solange die internationale Gemeinschaft / Europa / Deutschland sich davon nicht emanzipierten, würde die Tragödie Palästinas andauern. Auf die Idee, dass unter Umständen auch die Palästinensische Autonomiebehörde ein kleines Wenig Schuld an der Misere der Bevölkerung in den Autonomiegebieten hat und dass die Weiterleitung von internationalen Hilfsgeldern an Terror-Organisationen zur „Fortsetzung des Kampfes“ und die Weigerung, die Islamisten zu entwaffnen, wenig förderlich für den „gerechten Frieden“ sind, kommt scheinbar niemand. Im Gegenteil: Auch der Abzug der Israelis aus dem Gaza-Streifen ist Anlass zum Lamentieren. Die Israelis hätten im Rahmen der „zweiten Intifada“ – die sie bekanntlich mit dem Besuch Ariel Sharons auf dem Tempelberg im Jahr 2000 selbst begonnen hätten – sämtliche Sicherheitsdienste der palästinensischen Autonomiebehörde zerstört und die Infrastruktur beseitigt. Und jetzt zögen sie sich völlig überraschend einseitig zurück, ohne sich mit der PLO / der PA / der Fatah abzustimmen. Sie gingen einfach, mitsamt der Gelegenheit, bei ihnen zu arbeiten und Geld zu verdienen und mitsamt ihrer eigenen Sicherheits-Infrastruktur und ließen die Palästinenser alleine: ohne Wasser, ohne Arbeit und mit Islamisten, mit denen die PLO nun selber klar kommen müsse. Und was mache die internationale Gemeinschaft? Sie finde den Abzug gut, ohne die Perfidie dahinter zu erkennen, dass die Palästinenser wieder einmal alleine gelassen werden sollen.

In Israel formiert sich zur Zeit eine Widerstandsbewegung gegen den Abzug. Sie organisiert Demonstrationen und Blockaden und hat sich als Symbol die Farbe Orange ausgesucht. Weniger friedlich gehen einige Extremisten vor, die Bombenattrappen an öffentlichen Einrichtungen deponieren mit Zetteln dran: „Der Abzug wird euch um die Ohren fliegen“. Dahinter steht die Befürchtung, dass die Palästinenserinnen und Palästinenser im Gaza-Streifen, wenn die israelische Ordnungsmacht abgezogen sein wird, die islamistischen Organisationen in ihrem Terror gegen Israel unterstützen werden. Dem entgegen zu wirken ist nicht nur im Interesse Israels, sondern auch die palästinensische Autonomiebehörde versucht derzeit hektisch, die Islamisten in die politische Verwaltung einzubinden und den Waffenstillstand mit Israel zu retten. Abdallah Frangi, Generaldelegierter Palästinas in Deutschland, ist derzeit der Fatah-Verantwortliche für den Gaza-Streifen. Er kann sich dort nur mit Leibwächtern bewegen, weil er befürchten muss, dass die Hamas oder der Islamische Djihad ihn ermorden, weil er als gemäßigter Politiker und Getreuer des PLO-Vorsitzenden und palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas gilt, der gegen den islamistischen Terror vorgehen will und den Ausgleich mit den Israelis sucht. Die Hamas hingegen hat vor einigen Tagen erneut bekundet, was schon in ihrer Charta aus dem Jahr 1987 steht: „Ganz Palästina, vom Meer bis zum Fluss, wird durch die Mudschaheddin und ihre Gewehre zurückgebracht und befreit werden, und nicht durch politische Treffen, die scheitern“, sagte – laut www.israelnetz.de – Hamas-Führer Nisar Rajan am 23. Juni auf einer Hamas-Versammlung.
Die israelische radikale Linke hat zur Zeit ganz andere Sorgen: In einem Interview mit Aaron Lakoff, einem „Friedensaktivisten“ aus Montreal (http://aaron.resist.ca) verrät Yossi, der Mitglied von „Anarchists Against the Wall“ und von „Black Laundry“, einer Friedensinitiative von israelischen queers, ist: „Natürlich demonstrieren wir immer mit Hamas, Islamischem Djihad, Nationalisten, rassistischen Leuten und kämpfen mit ihnen für die selben Ziele. Aber es gibt da immer ein Problem: Wie können wir Anarchismus, Tierrechte, Frauenrechte und Rechte für queers hochhalten während wir mit Leuten zusammen arbeiten, die dagegen sind?“ Gar nicht, würde ich sagen.

Sven


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last modified: 28.3.2007