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Gesellschaftskritik – was ist das eigentlich?


Die Unzumutbarkeit unserer Gesellschaft bedürfte prinzipiell keiner ausführlichen Erläuterung. Nicht nur angesichts des unvorstellbar großen Elends, welches uns täglich medial präsentiert wird, sondern auch aufgrund der Zwänge, die jeder Mensch auch hier ständig über sich ergehen lassen muss, sollte klar sein, dass die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse einer radikalen Kritik unterzogen werden sollten. Dieser Ausgangspunkt einer jeden Gesellschaftskritik ist daher keineswegs eine Frage der Ansicht oder der persönlichen Meinung. Es ist ebenso offensichtlich wie objektiv, dass die jetzige Organisation des menschlichen Zusammenlebens eine historisch beispiellose Gewalt gegenüber dem Menschen und der Natur entwickelt. Der Maschine für Gesellschaftskritik, 16.4k stets neu quälende Schulbesuch oder der unzumutbare Zwang zur Arbeit sind dabei nur die geringsten Übel. Es sollte genügen, einen kurzen Blick in die täglichen Nachrichten zu werfen, welche bei den Meldungen über Hunger und Krankheiten angefangen, bis hin zu Kriegen und Terrorismus kaum eine Schreckensbotschaft unverkündet lassen und die Frage ob unsere Gesellschaft scheiße sei, ist beantwortet. Um zu verstehen warum die heutige Welt im Zeichen triumphalen Unheils erstrahlt, obwohl die technischen Möglichkeiten zur Versorgung Aller nie besser waren, soll im folgenden Text versucht werden, die Gesellschaftlichkeit des Menschen im Allgemeinen kurz zu umreißen, um dann die heutige Form dessen etwas näher zu beleuchten. Dies soll allerdings keineswegs der bloßen Darstellung dienen. Eine Erläuterung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse kann nichts Anderes bedeuten bzw. nach sich ziehen, als die Forderung nach deren radikaler Abschaffung. Da die hier dargelegten Erläuterungen höchstens den Einstieg in eine fundierte Gesellschaftskritik, niemals aber deren vollständige Darlegung liefern können, soll in diesem Text einführend behandelt werden, welche zentralen Punkte eine Kritik heutiger Zustände beinhalten sollte, um ihr Ziel – die Abschaffung gesellschaftlicher Zwänge – nicht zu verfehlen.

Mensch und Natur

Was uns vom Menschen als ein vom Tier sich unterscheidendes Wesen sprechen lässt, ist, dass er nicht nur wie jede andere Lebensform auch, natürliche Existenzgrundlagen zu erfüllen hat, (er muss bspw. essen und trinken und hat bestimmte Triebe, die es zu befriedigen gilt), sondern ferner auch auf diese reflektieren kann, zumindest teilweise. D.h. der Mensch nimmt sich abgespalten von seiner Umwelt wahr, was es ihm ermöglicht, nicht nur blind seiner Triebbefriedigung nachzugehen, sondern auch diese bewusst zu beeinflussen. In der Abgrenzung zur Natur ist er fähig zum Einen die ihm inneren Triebe und Regungen zu unterdrücken bzw. deren Befriedigung aufzuschieben oder den gesellschaftlichen Normen anzupassen (z.B. warten bis ein Klo in der Nähe ist; zum Dönermann gehen anstatt den Nachbarn zu verspeisen oder Energydrinks trinken, damit man länger fit für die Party ist). Zum Anderen nimmt er aber auch auf seine natürliche Umgebung bewussten Einfluss und verändert sie zu seinem Nutzen. Diese Einflussnahme beginnt bereits beim steinzeitlichen Faustkeil und setzt sich über landwirtschaftliche Kultivierung bis hin zu computergesteuerter Schokoriegelproduktion oder moderner Medizin fort. Dieser Austauschprozess des Menschen mit der Natur ist allerdings nicht nur Sache des einzelnen Individuums. Gerade durch das soziale Wesen des Menschen, was sich z.B. in Kommunikation und Arbeitsteilung äußert, stellt sich dieser Austauschprozess auf immer höherem Niveau dar. Jener Austausch und dessen gesellschaftliche Organisation ist dabei nicht der Ursprung allen Übels. Im Gegenteil: in der Einflussnahme auf die natürliche Umgebung und in der Möglichkeit, diese gemeinsam durch Kommunikation zu regeln, liegt ja überhaupt erst das Potential, eine freie, nach menschlichen Gesichtspunkten orientierte Gesellschaft bewusst einzurichten. Menschen werden also sicherlich immer Häuser bauen, Lebensmittel herstellen, Musik machen o.ä., was demnach nicht Teil des Problems sein kann. Viel eher sollte betrachtet werden, in welcher Form dies heute geschieht.

Kapitalistische Produktionsweise

Wie schon erwähnt sind die heutigen Produktivkräfte, d.h. die gesellschaftlichen und technischen Grundlagen für die Produktion von Gebrauchsgütern, weiter entwickelt denn je. Und trotzdem haben noch nie mehr Menschen in Elend gelebt als Heute. Nach Informationen der UN-Welternährungsorganisation werden jährlich rund Zwei Milliarden Tonnen Getreide produziert. Damit könnte statistisch der normale Energieumsatz von 2500 Kilokalorien für jeden der ca. 6,2 Milliarden Menschen auf der Erde mehr als gedeckt werden.(1) Die Realität zeigt uns aber, dass stattdessen über 1 Mrd. Menschen in Hunger leben und jeden Tag ca. 100.000 Menschen an den Folgen von Unterernährung sterben – das sind mehr als 36 Mio. im Jahr, Tendenz steigend. Man fragt sich, was mit dem ganzen Zeug passiert, das so hergestellt wird und warum es nicht dazu eingesetzt wird, allen Menschen ein Leben ohne Hunger und Angst zu ermöglichen. Die Antwort ist umso verrückter: hergestellte Güter, die aufgrund von Überproduktion nicht verkauft werden können, werden nicht an Bedürftige abgegeben, sondern meist vernichtet. Das bedeutet, dass tatsächlich jedes Jahr ganze Getreidesilos in Brand gesteckt, Butterberge ins Meer geschüttet und Obstbestände von Planierraupen zermatscht werden. Dieser Wahnsinn lässt keinen Zweifel daran, dass also offensichtlich nicht der Mensch im Mittelpunkt der heutigen Produktion von Gebrauchsgütern steht. Es muss demnach beantwortet werden, nach welchen zentralen Gesichtspunkten sie stattdessen organisiert ist.
Zur Veranschaulichung eine kleine Geschichte: Jedes Kleinkind macht irgendwann folgende schmerzliche Erfahrung: Im Kaufhaus kann man das faszinierend bunte und unglaublich raffiniert hergestellte Wunderspielzeug nicht einfach mitnehmen und nach Herzenslust beim Spielen kaputt machen, denn der hoffnungsvolle Griff nach diesem anziehenden Gerät wird von Seiten der Erzieher suspendiert. Obwohl doch so unzählbar viele von diesen Dingern herumliegen, braucht man solche seltsam angemalten und scheinbar kostbaren Papierscheine von Mami oder Papi um das begehrte Objekt zu erhalten. Hat man sie nicht und nimmt das Spielzeug trotzdem, kommt man für immer ins Gefängnis, sagen Mami und Papi. Warum eigentlich? Dieses Papierzeug ist doch völlig nutzlos und überhaupt...Wurden die Spielzeuge denn nicht zum Spielen gebaut?...
Man muss also, wie dieses Beispiel zeigt, sehr früh begreifen, dass Produkte heute nicht nur als bloße Gebrauchsgegenstände produziert werden, sondern als Waren. D.h. neben ihren jeweils verschieden nützlichen Funktionen besitzen sie zudem die Eigenschaft, gegeneinander austauschbar, bzw. käuflich zu sein. Im einfachen Tausch zweier Waren lässt sich bspw. ein Pfund Mehl gegen, sagen wir mal eine Packung Bio-Eier tauschen (zum besseren Verständnis: Mehl = 1€; Eier = 1€; Mehl = Eier). Wenn sich jedoch ein Pfund Mehl gegen Bio-Eier austauschen lässt, dann müssen beide Gebrauchsgüter auf ein gemeinsames Drittes reduzierbar sein, was nichts mehr mit ihren konkreten, sinnlich erfahrbaren Eigenschaften zu tun hat. Es wäre ja, ausgegangen von den qualitativen Unterschieden der Dinge, völlig absurd zu behaupten, Mehl und Eier wären gleich. Das Einzige was diese Produkte vergleichbar macht, ist, dass sie das Produkt menschlicher Arbeit sind. Ihr gemeinsames Drittes ist also die allgemeingesellschaftlich notwendige Arbeitszeit, die zu ihrer Herstellung benötigt wird. Diese Größe macht sie vergleichbar. Da jedoch heutzutage kaum ein Mensch mehr mit seinen eigens produzierten Waren, lassen wir es der Veranschaulichung wegen einmal einen Satz Autoreifen sein, in den Supermarkt geht, um sie gegen andere Waren, bspw. einen neuen Fernseher, zu tauschen, ist das Geld als allgemeines Tauschmittel etabliert. Dass das Geld als universelles Tauschmittel allerdings nicht einfach nur den Handel vereinfacht, also sozusagen Schmiermittel für die Zirkulation von Waren ist, sondern sich zudem aus eigener Kraft tendenziell zum Selbstzweck entwickelt, wird sich gleich zeigen.
Die Produktion von Gütern als Waren beinhaltet nämlich bereits, dass die produzierten Dinge nicht primär für die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse hergestellt werden, sondern für den Austausch bzw. für den Verkauf auf dem Markt. An diesem Punkt treten die Produktion und die Verteilung von Gütern auseinander und es ist bspw. völlig unklar, ob produziertes Getreide auch für den Verzehr genutzt oder ob es verbrannt wird. Problematisch ist dies, weil dieser ominöse Markt kein konkretes Ding ist, was sich Menschen rein aus Bequemlichkeit ausgedacht haben, sondern ein objektives, apersonelles und unkontrollierbares Prinzip, in dem Menschen nur eine einzige Bedeutung haben, nämlich die des anonymen Warenbesitzers. Zudem kann eine Produktion, welche nur am bestmöglichen Verkauf der Waren interessiert sein kann, niemals an menschlichen Bedürfnissen orientiert sein. Versuchen wir dies wiederum anhand eines Beispiels näher zu erläutern:
Eine ganz normale Bäckerin beginnt ihre Unternehmerinnenlaufbahn mit einem Batzen Geld. Sie kauft Räumlichkeiten, Maschinen, Rohstoffe und evtl. zusätzliche Arbeitskräfte ein und beginnt, Brötchen zu backen, welche sie zu einem normalen Marktpreis verkaufen will. Wenn sie vor hat, von der bloßen Organisation ihrer Brötchenproduktion zu leben, muss sie sicherstellen, dass nach einem Produktions- und Verkaufszyklus mehr Geld erwirtschaftet als vorher investiert wurde, damit sie mit diesem Überschuss ihr eigenes Überleben sichern kann. Kommt weniger Geld heraus, geht der Laden den Bach runter; verdient sie mehr Geld, kann sie vielleicht einen neuen Laden aufmachen und, wie es so schön heißt, expandieren. Weil jedoch auf der Straße gegenüber noch ein Backwarengeschäft ist, muss unsere liebe Frau Bäckerin so billig wie möglich produzieren. Das beinhaltet, ihre Arbeitskräfte zu schnellerer Arbeit antreiben, bessere Maschinen benutzen und den gewonnenen Profit nicht auf einer Insel für hübsche Jungs und Alkohol verballern sondern stattdessen für eine noch gewinnbringendere Produktion neu investieren. Sie wird also der Konkurrenz wegen gezwungen sein, in jedem Produktions- und Verkaufszyklus mehr Geld zu erwirtschaften als vorher investiert wurde, andernfalls wird sie in naher Zukunft das Gespräch bei einer Angestellten der Agentur für Arbeit suchen müssen.
Dieses Beispiel zeigt, dass eine Produktion für den Markt, d.h. eine am Verkauf von Waren interessierte Produktion, nur dem Zweck dient, aus Geld mehr Geld zu machen. Ob der Unternehmer will oder nicht, Endpunkt wie Anfangspunkt jeglicher Produktion ist heute der Selbstzweck der Geldvermehrung. Mit einem Anfangskapital werden Waren hergestellt, jene werden gewinnbringend verkauft und das vermehrte Geld wird wieder in eine erneute Warenproduktion investiert (kurz: G-W-G’). Ein Kapitalist ist also auch nicht in erster Linie gierig, gewissenlos und egoistisch, weil er es nur auf den Profit abgesehen hat, sondern er wird vom Druck der globalen Konkurrenz dazu gezwungen, jenen Gewinn zu erwirtschaften, wenn er sein Unternehmen am Laufen halten will. Es spielt dabei gar keine Rolle, ob das nun in Form unserer zwei kleinen konkurrierenden Bäcker geschieht oder zwischen Burger King und Mcdonald’s, Coca Cola und Pepsi oder Intel und AMD. Jene Vermehrung von Geld, auch Kapitalakkumulation genannt, ist somit Mittelpunkt unserer heutigen Gesellschaft. Kapital ist daher auch nicht einfach nur ein großer Haufen Schotter, der statisch vor sich hin glänzt und seinem Besitzer Freude macht, etwa so wie der Inhalt des Duckschen Geldspeichers, sondern ein endloser, selbstzweckhafter Prozess, in dem das vermehrte Geld als Endpunkt einer Produktion ebenso die Investitionsmöglichkeit für ihren erneuten Anfang sein muss.
Der Name Kapitalismus für die heutige Gesellschaft ist daher so treffend, weil jenem selbstzweckhaften Prozess der Geldvermehrung rest- und rücksichtslos alles geopfert wird, was ihn am Leben erhält. Es ist daher auch völlig egal, ob man Kloreiniger, Nagelscheren oder Tellerminen produziert, solange Kapital akkumuliert wird. Nicht nur dass bei der Vermehrung von Geld die natürlichen Ressourcen – Mensch wie Natur – keinerlei Beachtung finden können und brutal ausgebeutet werden. Auch die menschlichen Bedürfnisse zählen nur insofern, als sie durch die dazugehörige Kaufkraft verwirklicht werden können. Weil der Großteil der Menschen in Afrika nun mal kein Geld hat, zählen im Kapitalismus auch ihre Bedürfnisse auf dem Weltmarkt nicht die Bohne. Viel eher werden da noch überflüssige Lebensmittel vernichtet, um den Weltmarktpreis trotz Überproduktion stabil zu halten.
Da der ewige Prozess der Kapitalakkumulation Zweck der Produktion ist, verkommt der Mensch zwangsweise zum Mittel dieser. Ein jeder Mensch muss, wenn er selbst überleben will, gewährleisten, dass eine profitable Produktion am Leben erhalten wird, egal ob man als Kapitalist diese organisiert oder als Arbeiterin daran teil hat. Denn: wer kein Geld hat, hat kaum eine Chance zu überleben. Das erklärt auch die Gewalttätigkeit unserer Gesellschaft: sämtliche Ressourcen dienen nur diesem Selbstzweck und nicht dem Menschen. So führt bspw. die Produktivkraftentwicklung – eigentlich Anlass zur Freude, da nun mit weniger Arbeitsaufwand produziert werden könnte – im Kapitalismus dazu, dass einerseits immer mehr Menschen arbeitslos und somit von einer sicheren Überlebensbasis abgeschnitten werden, andererseits die immer geringere Anzahl der Beschäftigten umso mehr um ihren Job bangen muss und einem höheren Leistungsdruck ausgesetzt ist.

You’ve got to do, what you’ve got to do

Während noch zur Durchsetzung kapitalistischer Verhältnisse massiver Druck von außen nötig war, um bspw. die Menschen mit Hilfe von Waffen in die Fabriken und Manufakturen zu treiben, ist diese offene Gewalt heute gar nicht mehr nötig. Ein jeder von uns fügt sie sich täglich selbst zu und zwingt somit auch alle anderen es ebenso zu tun. Angefangen beim frühen Aufstehen über die Selbstdisziplinierung in der Schule und auf Arbeit bis hin zum Unterdrücken eigener Bedürfnisse, wenn man bspw. am Fließband stehen muss, lernt jeder Mensch seine persönlichen Regungen unterzuordnen um in den Verhältnissen zu leben. Als Gewalt, welche nicht einer Person zu verantworten ist, sondern in der Struktur der gesellschaftlichen Organisation selbst steckt, ist sie umso schwerer zu umgehen. Jene strukturelle Gewalt, das hohe Niveau der Arbeitsteilung ebenso wie der Selbstzweck der Geldvermehrung, schirmen das Individuum zunehmend von der bewussten Einflussnahme auf die gesellschaftliche Produktion ab und machen es zum bloßen Mittel der Kapitalakkumulation während der natürliche Drang zur Selbsterhaltung es zur bedingungslosen Teilnahme am gesellschaftlichen Wahnsinn zwingen. Denn, und das gilt im Kapitalismus nach wie vor, wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen(2). Die Frage nach der Reproduktion, also der ständigen Wiederherstellung und Aufrechterhaltung bestehender Verhältnisse, ist also eine ums Verrecken und Angelegenheit aller Menschen. Wenn schon jemand Schuld sein soll am gesellschaftlichen Elend, dann sind es Alle, da jeder Mensch die Gesellschaftsmaschinerie des Kapitalismus am Leben erhält indem er arbeitet, Geld benutzt, wählen geht oder was auch immer tut.
Eine radikale Gesellschaftskritik sollte daher auch nicht den Illusionen eines individuellen Gewaltverzichts oder dem persönlichen Ausbrechen aus kapitalistischen Verhältnissen auf den Leim gehen. Oft begegnet man Vorstellungen, welche einem wie auch immer ausgelegten Einsiedlertum, sei es ein als Kommune, Wagenburg oder Rückzug in eine verlassene Höhle geschmücktes Vorhaben, den Stempel einer emanzipatorischen Perspektive aufdrücken wollen. Zwar können solche oder vergleichbare Formen des Zusammenlebens möglicherweise stressfreier sein oder sie ermöglichen in Zeiten des Mangels eine zumindestens die elementarsten Bedürfnisse befriedigende Elendsverwaltung, jedoch sollte eine radikale Kritik kapitalistischer Verhältnisse begreifen, dass Kapitalismus kein Verein ist, der nur persönlich überzeugte Mitglieder hat und aus dem man einfach austreten kann. Kapitalismus als ein alle Lebensbereiche erfassendes und durchziehendes Herrschaftsprinzip bedarf der radikalen Abschaffung als Gesamtheit und nicht der individuellen Verhaltensänderung. Abgesehen von jenem unentdeckten Stamm in Papua-Neuguinea ist zudem wohl jeder Mensch auf der Welt im Kapitalismus aufgewachsen und durch ihn geprägt. Wer kann also von sich behaupten jene Sozialisation ohne bleibende Schäden überstanden und ein von Zwängen befreites Bewusstsein zu haben, welches ihm ermöglicht „frei“ zu denken und zu handeln?
Die Forderung nach einer freien und menschlichen Gesellschaft sollte außerdem wenigstens am Potential der jetzigen ansetzen und somit die Forderung nach grenzenloser Bedürfnisbefriedigung auf dem höchstmöglichen Niveau und selbstverständlich unter Zuhilfenahme modernster Technik unterstreichen. Schließlich sind nicht nur Zentralheizung, mikroelektronisch gesteuerte Lebensmittelproduktion, moderne Medizin und E-Gitarren sehr nützliche und rettenswerte Technologien, welche in keiner freien Gesellschaft fehlen sollten.

Einmal Kommunismus, Bitte!

Die wohl am schwersten auszuhaltende Antwort, welche eine radikale Gesellschaftskritik zu liefern hat, ist wohl die auf die Frage nach der gewünschten Alternative zum Kapitalismus: „Wie stellt ihr euch denn eure freie Gesellschaft überhaupt vor?“
Zunächst sei entgegnet, dass eine Kritik nicht konstruktiv sein kann. Kritik will ihren Gegenstand nicht umformen oder mit ihm Kompromisse schließen, sondern sie strebt seine rücksichtslose Vernichtung an. Die hier geäußerte Kritik kapitalistischer Verhältnisse verliert demnach auch nichts von ihrer eventuellen Brisanz und Wahrheit, bloß weil man dem kritisierten Gegenstand nichts besseres entgegenhält. Der Forderung nach einer freien Gesellschaft aus der Dose, d.h. nach einem fertigen Plan wie sie zu organisieren ist, kann eine radikale Kritik überhaupt nicht nachkommen. Abgesehen von meinem persönlichen Unvermögen solch eine Antwort zu liefern, da ich ehrlich gesagt nicht die leiseste Ahnung habe, wie man eine freie Gesellschaft strukturiert, birgt der Versuch, solche Antworten zu liefern, eine nicht zu unterschätzende Gefahr. Denn gerade weil der Mensch als soziales Wesen nur Ensemble seiner gesellschaftlichen Verhältnisse sein kann und in diesen verfangen bleibt, birgt die Ableitung einer neuen Gesellschaft aus den Kategorien der jetzigen das Risiko, die bestehenden Verhältnisse im Kern beizubehalten und nur deren gesellschaftliche Ausformungen zu verändern. Gerade die Geschichte lehrt uns, wie gefährlich solche vermeintlich „freien Gesellschaften“ sein können und was für menschenfeindliche Ideologien zu ihrer Verteidigung entstehen. Angefangen beim sog. Realsozialismus, welcher keineswegs die kapitalistischen Grundkategorien wie Ware, Arbeit, Geld, Staat und Kapital überwinden konnte, sondern nur deren autoritär-staatliche Organisation forderte, lässt sich jene Aufzählung weiterführen bis hin zu den Schrecken des Nationalsozialismus, welcher sich selbst ebenfalls als antikapitalistisch begriff und dem westlichen Gesellschaftsmodell die mörderische deutsche Volksgemeinschaft entgegenhielt(3).
Das von der sog. Kritischen Theorie(4) geprägte Bilderverbot, welches hier verteidigt werden soll, beinhaltet jedoch nicht, jeden Gedanken über eine freie Assoziation von Menschen im Keim zu ersticken. Vielmehr warnt es vor der zu Ende gedachten Vorstellung einer neuen Gesellschaft nur insofern, als dass jene Vorstellung sich nicht als positive Auspinselung, als „so genau machen wir es“ äußert. Positiv meint hierbei nicht einfach nur „gut“ oder „toll“, sondern beschreibt den direkten Bezug im Sinne eines „im Kommunismus wird es folgendermaßen ablaufen: ...“. Ein utopischer Gedanke sollte im Gegensatz dazu eher als negative Ableitung aus den bestehenden Verhältnissen, als ein „dies kann es in einer emanzipierten Gesellschaft nicht geben“ geäußert werden. Somit lassen sich gewissermaßen auch einige Eckpunkte einer freien Gesellschaft abstecken. So ist bspw. selbstverständlich, dass die Bedürfnisse des individuellen Menschen Mittelpunkt der gesellschaftlichen Produktion sein müssen, kein Mensch in Angst oder Hunger leben wird und alle gesellschaftlichen Produktivkräfte bewusst zur Maximierung menschlicher Bedürfnisbefriedigung benutzt werden sollten. Das Verweilen in jenem Zustand des „Nichts Genaues sagen können“ ist zwar schmerzlich, jedoch ist es vom Standpunkt einer radikalen Kritik aus unbedingt auszuhalten und den Gefahren eines positiven utopischen Bezugs allemal vorzuziehen.

Emanzipatorische Praxis

Wie kann nun aber eine emanzipatorische Praxis aussehen, wenn man sich den Gedanken an ein zu erreichendes Ziel verkneifen muss? Oder vielleicht sollte eher gefragt werden, ob es in der jetzigen Situation überhaupt die Möglichkeit einer umwälzenden, emanzipatorischen Praxis gibt? Hält man sich einmal vor Augen, was wohl passieren könnte, wenn die ca. 80 Millionen Deutschen in diesem Land eine Revolution anzetteln würden, so ist wohl anstatt mit einer freien Gesellschaft vielmehr mit einem barbarischen Gemetzel zu rechnen. Es ist recht offenkundig, dass die Umwälzung kapitalistischer Zustände aktueller denn je, umwälzende Praxis aber nachhaltig blockiert ist. Nicht von emanzipatorischer Praxis zu reden ist also kein aufgesetztes, dogmatisches Verbot, sondern eine aus der Analyse bestehender Zustände abgeleitete Erkenntnis. Oder um es mit den Worten von Leo Löwenthal, eines Vertreters der sog. Kritischen Theorie, zu sagen: „Nicht wir haben die Praxis verlassen, die Praxis hat uns verlassen.“
Sicher wird es im Zuge einer breiten Bewegung, welche sich die Aufhebung kapitalistischer Verhältnisse auf die Fahnen geschrieben hat, möglich sein, spielerisch, d.h. nicht zwingend, andere Formen des Zusammenlebens und der gesellschaftlichen Organisation auszuprobieren, jedoch ist dieser Zeitpunkt offenkundig nicht jetzt. Eine Praxis, welche zwar nicht kapitalismusüberwindend, aber wenigstens der Realität angemessen sein will und an dieser ansetzt, sollte heutzutage versuchen, die kritische Auseinandersetzung mit den bestehenden Verhältnissen wenigstens auf theoretischer Ebene zu forcieren. Das bedeutet, dass Diskussionen fördern, Vorträge halten bzw. besuchen oder ein gutes Buch lesen, Formen der Praxis sind, welche heutzutage viel mehr gefordert werden sollten als der blinde Drang „Was zu machen“. Nicht nur dass dies eine der wenigen Möglichkeiten ist, sozusagen den Dreck vor der eigenen Tür zu beseitigen. Vielmehr ist ja auch eindeutig klar, dass vor der richtigen Praxis zunächst die richtige Theorie stehen muss. Dies führt uns zu einem erneuten Widerspruch, den eine radikale Kritik aushalten muss: Obwohl eine emanzipatorische Praxis an der jetzigen Realität nicht ansetzen kann, ist es trotzdem absolut notwendig, auch im Bestehenden handlungsfähig zu bleiben. Das bedeutet, dass man, um die Möglichkeit einer freien Gesellschaft zu sichern oder um konkretes menschliches Leiden auch im Bestehenden zu mildern, gezwungen ist, auch politisch aktiv zu werden. Offenkundig wird dies am Beispiel von Nazis. Derartig menschenverachtende Strömungen stehen dem Gedanken an eine freie Gesellschaft militant entgegen und bedrohen die Möglichkeit, diesen zu verwirklichen, fundamental. Für jeden Gesellschaftskritiker ist es also bspw. auch absolut notwendig, antifaschistisch aktiv zu sein, auch wenn dies prinzipiell nichts am Kapitalismus ändert. Dies gilt ebenso bei caritative Aktivitäten für vom Kapitalismus besonders hart Getroffene: so sind bspw. Spendengelder für Länder der „Dritten Welt“ definitiv gutzuheißen, da sie konkretes menschliches Leiden zu lindern versuchen und wenigstens einer Handvoll Menschen das Leben retten können. Jedoch sollte solches oder vergleichbares Engagement nicht zur Beruhigung des Gewissens dienen oder sich als Handlung ausgeben, welche die Welt fundamental verbessert, da sie nichts daran ändert, dass die tobende Gesellschaftsmaschinerie des Kapitalismus trotzdem anderswo jeden Tag tausende Menschen dahinrafft.
Radikale Kritik muss also den Spagat schaffen zwischen dem kapitalismusüberwindenden Anspruch, welcher jegliche Handlung prinzipiell ablehnt, die das Bestehende nicht gänzlich abschaffen, sondern nur an einigen Punkten verbessern will, und der politischen Initiative, welche zwar keine emanzipatorische Perspektive liefert, aber deren Grundlagen sichern kann. Wie schon gesagt, die Übel des Kapitalismus sind nicht von einigen Personen verursacht und können ebenso wenig von Einigen abgeschafft werden. Sie sind zurückzuführen auf die Struktur der gesellschaftlichen Organisation und können nur mit dieser gemeinsam beseitigt werden.

In the end...

Bei anderen Organisationen ist es wohl üblich am Ende der Publikation mit der Faust auf den Tisch zu hauen und zur Bildung von Gruppen, zum aktiven Kampf der Arbeiter oder zur sozialistischen Weltrevolution aufzurufen. Davor werde ich mich hüten. Es soll mir zum Abschluss vielmehr darum gehen, ein weiteres mal zu unterstreichen, dass persönliches Engagement in Fragen der kritischen Auseinandersetzung auf theoretischer Ebene nicht ein Klotz am Bein der emanzipatorischen Praxis, sondern deren unbedingte Vorraussetzung ist. In einer derartig miserablen Lage, in der sich eine radikale Gesellschaftskritik derzeit befindet, ist die Reflexion auf die eigene Verfangenheit in kapitalistischen Kategorien und die Forderung nach der Auseinandersetzung damit, noch das Vernünftigste, was geliefert werden kann. Zwar sollte es sonnenklar sein, dass eine Kritik bestehender Verhältnisse nichts taugt, wenn sie nicht auf deren Abschaffung hinausläuft, jedoch sollte dies, wie schon gesagt, nicht mit der blinden Forderung nach Praxis um jeden Preis verwechselt werden.
Und in der Besinnung darauf, dass eine kritische Aufhebungsbewegung es nicht nötig hat, ein strahlend ausgepinseltes Bild einer zu Ende gedachten Gesellschaft der jetzigen entgegenzuhalten, will ich mit einem Zitat von Karl Marx und Friedrich Engels schließen, welche das schon vor über 150 Jahren wussten:
„Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben [wird]. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. Die Bedingungen dieser Bewegung ergeben sich aus der jetzt bestehenden Vorraussetzung.“ (Marx/Engels: Die Deutsche Ideologie; MEW Bd. 3, S. 35)

Fabian (Tomorrow)

Fußnoten

(1) Nur als kleines Rechenbeispiel: selbstverständlich sollen hier die zu befriedigenden Bedürfnisse des Menschen nicht darauf reduziert werden, von Brot und Mais zu leben, aber die potentielle Anbaufläche der Welt (2,5 Mrd. ha – 1,4 Mrd. mehr als Heute), von der bereits Tropen- und Trockengebiete, nicht nutzbares Festland und Böden zur Gewinnung industrieller Güter wie Fasern usw. abgezogen sind, würde, wenn man sie mit den Technologien bewirtschaften würde, mit denen in Iowa (USA) Mais hergestellt wird, einen Ertrag liefern, mit dem man 4000 bis 5000 Kalorien pflanzlicher Herkunft für jeden Menschen einer zwischen 30 und 48 Milliarden schwankenden Bevölkerungszahl zur Verfügung stellen könnte.
(2) Vielleicht mögen Empfänger von staatlicher Finanzhilfe dies verneinen, da, zumindest in Deutschland, auch ohne Arbeit nicht zwingend Gevatter Tod vor der Tür stehen muss. Dieser Einwand ist jedoch insofern unberechtigt, als dass es hier um die Beschreibung einer Struktur gesellschaftlicher Produktion gehen soll und Kapitalismus nun mal nicht davon lebt, dass Leute Sozialhilfe empfangen, Banken ausrauben oder im Lotto gewinnen.
(3) Die hier vorgenommene Aufzählung soll keineswegs einer Gleichsetzung nahe kommen.
(4) berühmte Vertreter: Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Herbert Marcuse, Leo Löwenthal; Erich Fromm u.a.

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last modified: 28.3.2007