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review corner Film, 1.4k

Die Frage nach der Natur & Erziehbarkeit des Menschen.


Dogville, 10.9k
Dogville
Regisseur: Lars von Trier
DK/S/GB/F/D/NL 2003
In den ersten Minuten der Vorstellung wird der unvorbereitete Kinobesucher gewahr, dass Dogville auf einer schwarzen Bühne spielt, auf der lediglich mit weißen Strichen die Umrisse von Häusern, Straßen, Sträuchern und einem Hund gezeichnet sind. Auch weitere Requisiten sind spärlich: einige Betten, ein Schreibtisch, ein paar Bänke. Nun mag dem Einen oder Anderem diese Tatsache anfangs eher wenig Vergnügen bereiten, trotzdem ist einzuräumen, dass nach einer Phase der Gewöhnung gerade dieses spartanische Bühnenbild dem Zuschauer die Möglichkeit bietet, all seine Aufmerksamkeit den genialen Darstellern des Filmes zu widmen.

Doch erst mal zum Inhalt von Dogville. Zusammengefasst handelt es sich um eine Geschichte über Leiden und Rache. Inspiriert wurde der Regisseur Lars von Trier nach eigenen Angaben, durch Brechts Seeräuber-Jenny. Jedoch sind die Gewichtungen in diesem Film etwas anders verteilt als bei anderen, neueren Werken zu diesen Themen (siehe Kill Bill). So stellt der Regisseur in acht des in neun Kapitel unterteilten Machwerks detailliert die Leiden seiner Hauptfigur dar, um dann letztlich ein Kapitel der zwar kurzen, aber trotz alledem erbarmungslosen Rache zu widmen.

Nehmen wir uns jedoch den Raum, etwas mehr ins Detail zu gehen. Der Film beginnt mit zwei Schüssen und dem Bellen eines Hundes, der auf den bedeutungsschwangeren Namen „Moses“ hört. Moses ist ein Bewohner der Stadt Dogville. Dieses Dorf könnte an jedem beliebigen Ort der Welt existieren, befindet sich aber am Fuße der Rocky Mountains. Nichts macht dieses Kaff zu etwas Besonderem, es ist weder schön noch hässlich, es ist einfach ein ganz normales Dorf am Ende der Welt, irgendwann zur Zeit der Depression. Diese Erkenntnis ist nicht ganz unwesentlich, wenn man sich mit dem Vorwurf des Anti-Amerikanismus auseinandersetzen will, der von Trier von einigen Kritikern gemacht wird. Der Regisseur selbst weist dies von sich und gibt in Interviews (z.B. Süddeutschen Zeitung vom 21.10.2003) an, dass er die Figuren auch in Filmen, die in anderen Ländern spielten, habe Böses tun lassen. Sicherlich trägt der Abspann des Filmes, in dem von Trier verschiedene in den USA gemachte Fotografien von Armen zeigt, zu diesem Vorwurf bei und der Regisseur hätte gut daran getan, sich diesen einfach zu sparen.
Wie auch immer, Moses wurde durch Grace aufgeschreckt, die, angelockt durch seinen Knochen, versuchte, ihm eben diesen zu entwenden. Die wundervolle Nicole Kidman wirkt in der Rolle der Grace geheimnisvoll und zerbrechlich wie feinstes Porzellan. Tatsächlich befindet sich Grace in einer scheinbar ausweglosen Situation. Sie ist auf der Flucht. Schießwütige Gangster im Nacken und die Rocky Mountains als unüberwindbares Hindernis vor der Nase, vertraut sie sich Tom (Paul Bettany) an, der ebenfalls ein Bewohner Dogvilles ist. Der junge Mann ist ein selbsternannter Schriftsteller, der noch nie eine Zeile geschrieben hat und sehr ambitioniert bezüglich der Erziehung seiner Mitmenschen ist. Lars von Trier wurde vorgeworfen, anhand der Figur „Tom“ seine Verachtung gegenüber dem Typen des Idealisten zu demonstrieren. Allerdings muss ich dieser Meinung von Mnogo Büchsenbier (folgend MB, in: Phase 2, Nr. 10) widersprechen. Dieser behauptet nämlich, es handle „sich bei der Kritik des intellektuell-utopischen Weltenplaners um keine Selbstkritik Lars von Triers“ (Phase 2, S. 71). Diese Aussage basiert auf der bloßen Vermutung von MB. So antwortete von Trier beispielsweise auf eine Frage der Süddeutschen Zeitung: „Anstatt die Menschen zu beobachten und daraus Figuren zu entwickeln, spalte ich meine Persönlichkeit in verschiedene fiktive Figuren. In diesem Film finde ich mich in Tom wie in Grace ...“.
Jedenfalls schlägt die Filmfigur Tom Grace vor, in der Stadt zu bleiben und ihm bei seinen erzieherischen Zielen behilflich zu sein. Da Graces Möglichkeiten äußerst begrenzt sind, willigt sie ein und wird somit Teil der von Tom geplanten „Veranschaulichung“. Sie wird den Bewohnern bei verschiedenen Arbeiten zur Hand gehen und diese sollen im Gegenzug ihre Menschlichkeit beweisen, indem sie die junge Frau in ihre Gemeinschaft aufnehmen. Anfangs funktioniert Toms Plan, Grace fühlt sich wohl in der Stadt und die beiden verlieben sich. Auch die Bürger Dogvilles scheinen die junge Frau anzunehmen und von ihrem Einfluss zu profitieren, doch als die Polizei auftaucht, um einen Steckbrief anzuschlagen, in dem Grace als Verbrecherin gesucht wird, schlägt die Stimmung um. Grace, nun völlig vogelfrei, von Gangstern und den Gesetzeshütern gejagt, wird in zunehmenden Maße körperlich, sexuell und emotional ausgebeutet.
Wie schon in früheren Filmen erduldet von Triers weibliche Protagonistin solche Leiden, dass es für den Zuschauer kaum noch erträglich ist. Immer wieder drängt sich in den vom Regisseur gezeichneten Martyrien die Frage nach dem Sinn auf.
Erwächst aus der Geduld, mit der Grace all diese Qualen auf sich nimmt, irgendetwas, das dem Kinobesucher das Verhalten und die Ansichten der Hauptfigur erklärlich machen könnte?
Während von Trier in „Breaking the waves“ das Unverständnis des Zuschauers bis zum bitteren Ende des Filmes aufrecht erhält und diesen dann endgültig aus der Fassung bringt, indem er die naiven, religiösen Vorstellungen seiner Hauptdarstellerin Wirklichkeit werden lässt, erlöst er die Kinobesucher in Dogville, indem er Grace mit einem Fluchtversuch schließlich doch eine vernünftige Regung zeigen lässt.
Als Grace nach dem Missglücken eben dieses Fluchtversuches dann in Ketten gelegt und von so ziemlich jedem männlichen Bewohner Dogvilles vergewaltigt wird, werden wohl die meisten Zuschauer den Wunsch nach Rache und Graces Erlösung verspürt haben. Ersteres gibt es dann auch und zwar deftig. Allerdings bleibt die erwartete Befriedigung aus, stattdessen wirkt die Konsequenz, mit der Grace vom Opfer zum Täter wird, erschreckend: sie richtet, bis auf Moses, jeden Bewohner Dogvilles. Dem Zuschauer beginnt es zu dämmern, dass die Welt nach Auslöschung der Stadt nicht besser geworden ist, da Dogville überall sein könnte und auch Graces Leiden nicht rückwirkend gemindert werden können und ihre Rache nur neue erzeugen kann. Gerade diese Einsicht stellt die einzige „Alternative, die der Film (laut MB) bietet“, schon wieder in Frage, und es ist anzunehmen, dass Dogville mehr erzeugt als nur die „fortgesetzte Versöhnung mit dem Staat“ (Phase 2, S. 71).
Was bleibt, ist die Frage nach der Natur bzw. Erziehbarkeit des Menschen. MB scheint anzunehmen, dass Menschen Entscheidungen sowohl beeinflusst als auch unbeeinflusst von gesellschaftlichen Verhältnissen treffen können. Dabei übersieht er, dass jedes Individuum etwas Gewordenes ist. Jeder Mensch hat eine gewisse Sozialisation und Erziehung durchlaufen, die sie oder ihn zu dem machen, was er oder sie ist und seine oder ihre Entscheidungen in bestimmten Situationen hervorbringen. Eben diese Individuen wiederum reproduzieren oder verändern aber auch die gesellschaftlichen Verhältnisse. Diese Überlegungen sind die Vorraussetzung für die Vorstellung, dass eine grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen Zusammenhänge möglich ist und sie stellen keine Entschuldigung allen menschlichen Handelns dar.
Alles in Allem ist Dogville kein Film für seichte Abende oder empfindliche Gemüter. Für alle anderen jedoch ist der Film, gerade aufgrund seiner besonderen Machart, sehenswert. Fragwürdig sind vielleicht die zu bemitleidenden Anwandlungen von Triers, die „Dogme 95“-Filmkunst zu einem Dogma zu erheben und sie dem herkömmlichen Kino entgegenstellen zu wollen. So sprechen sich die Gründer von „Dogme 95“, Thomas Vinterberg und Lars von Trier, gegen die Erschaffung von Illusionen im Film aus und schwören in ihrem „The Vow of chasity“ gleich noch auf ein „indisputable set of rules“, um eben diese aus dem Kino zu verbannen. Die Frage, was falsch daran sein soll, sich hin und wieder Illusionen hinzugeben, bleibt hierbei offen und erst recht die Überlegung, wie der Mensch 24 Stunden brutale Realität pro Tag ertragen soll. Auf der offiziellen Website von „Dogme 95“ ist dann auch noch folgendes zu lesen:
„Today a technological storm is raging, the result of which will be the ultimate democratisation of the cinema. For the first time, anyone can make movies. But the more accessible the media becomes, the more important the avant-garde, It is no accident that the phrase ‘avant-garde’ has military connotations. Discipline is the answer ... we must put our films into uniform, because the individual film will be decadent by definition!“
Es ist doch sehr erschreckend, dass die beiden dänischen Regisseure annehmen, dass das Überstülpen eines technik- und fortschrittsfeindlichen Regelwerks der Ausweg aus dem Dilemma ist, welches zweifelsohne auf den Kinoleinwänden zeitweise herrscht. So besagen die Vorschriften für einen Dogme 95-Film zum Beispiel, dass keine Requisiten an einen Drehort gebracht werden dürfen, sondern der Regisseur solange suchen muss, bis er ein entsprechendes Set findet, an dem er dann auch keine zusätzliche Beleuchtung und ausschließlich Handkameras verwenden darf.
Beruhigenderweise kann davon ausgegangen werden, dass Vinterberg und von Trier es mit ihren verdrehten Vorstellungen höchstens schaffen, eine neue Spielart des Filmes zu entwickeln, aber sicherlich keine neue Ära einläuten werden.

Alfons Zitterbacke


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last modified: 28.3.2007