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Schwarwel's Brief

Offener Brief an die Redaktion - Betreff: Distillery
Leipzig, den 8.03.95

Sehr geehrte Redakteure und RedakteurInnen,

es ist in unseren Augen gut und wichtig, daß Themen zu Jugend und Kultur in Leipzig in einem "offenen Forum" wie Tageszeitungen und radio besprochen werden. Das die Stadtplaner von Leipzig zu vergessen scheinen, daß Kinder und jugendliche in einer Fünfhunderttausend-Stadt außer Schule und Studium noch etwas anderes unternehmen wollen und müssen, ist nicht neu. Auch die Thematik Leipzig-Connewitz ist in diesem Zusammenhang so ziemlich jeden Leipziger geläufig. Wende-Wirren, Krawall, Hausbesetzerszene... alles bekannt.

Denoch glauben wir, daß gerade dieses Altbekannte zu schlechter Recherche und Kritiklosigkeit beim Beurteilen von Aktionen wie den Ditillery-Rathouse-Parties geführt hat. Statt wirklich einer Geschichte nachzugehen, wie man das für unser Empfinden von einer Tageszeitung erwarten muß, werden auf Zuruf Artikel veröffentlicht, die sehr zu wünschen übrig lassen:

Wer hat mal im Rathaus nachgefragt, was wirklich in der Distillery abgeht? Momentan stehen die Members der Distillery da wie kleine Helden, denen man das Spielzeug weggenommen hat. Und dann kommt Papa Presse/Radio und geht mal zu den bösen Buben, um die Sache zu richten.
Es ist absolut unklar, ob die Ditillery-Crew Steuern abführt oder Miete zahlt, da man gegenteilige Behauptungen hört, wenn man verschiedene Leute des Clubs (z.B. Busse oder Mark) dazu befragt. Wir sind entrüstet, das derlei durch die Stadt, nachdem sie quasi dazu erpresst wurde, auch noch gestützt wird, in dem sie Gelder aus der Stadtkasse - also öffentliche Gelder - zur Unterstützung der Ditillery bereitstellt.

Weiterhin wird durch die eypressive Berichterstattung über die Ditillery der falsche Eindruck erweckt, die Distillery sei der einzige Ort der Stadt, den Jugendliche frequentieren, um Tanzen zu gehen. Neben der Opera, die Freitags und Samstags je 1000-1600 Leute besuchen, gibt es nohc weitere Clubs in der Stadt. Das Elastic beispielsweise, ebenfalls in Connewitz angesiedelt, ebenfalls angemeitet (bei einer Baufirma, die noch vor Cluberöffnung den Elasticern das Gelände mit einer Kündigungsfrist von 14 Tagen vermietete). Das Elastic hat wöchentlich drei mal geöffnet und hat einen durchschnittlichen Wochendurchlauf von 600-1000 Leuten. Desweiteren wäre da die Basis, über deren Frequentierung wir leider nichts sagen können. Es gibt Krakow-Beat für ca. 1000 Leute. Es gibt am Mittwoch die Moritzbastei, die jedesmal mindestens 500 Leute fasst.

Zu dem gibt es auch noch unabhängige Veranstalter, die verschiedene Orte für ihre Events wählen: Delite-Parties aller halbem Jahr, Think!-Rave, Metropolis, Underworld, Strike-Parties etc. pp.

Keiner der o.g. Veranstalter heult über das ihm aufgebürdete Schicksal, in Leipzig Parties veranstalten zu müssen, und sich dabei mit Vermietern, Cateringfirmen, Plakatklebern, Licht- und Tontechnikern, DJs, Einlassern und Kassenfrauen auseinanderzusetzen, die alle etwas Geld dafür sehen wollen, daß sie ihre Zeit und ihre Technik zur Verfügung stellen, um eine gute Party steigen zu lassen. Das Leipzig ein hartes Plaster für Veranstalter ist, weiß jeder von ihnen. Ebenso könnten die Veranstalter von Rock-Events wie haus Leipzig, die mb, das Conne Island, der Anker oder das Haus Auensee etwas darüber sagen, wie schwer das Leipziger Publikum dazu zu bewegen ist, eine Halle zu füllen.
Es wäre falsch zu behaupten, das Leipziger Nachtleben würde überflutet werden von Clubs und Events, doch es ist ebenso falsch, so zu tun, als wäre die Stadt tot und ausgestorben, nachdem die Distillery schließen würde.

Warum sollte ein veranstalter die Medien einschalten, wenn der ausgehandelte Mietvertrag fristgemäß gekündigt wird? Und dann auch noch - wie empörend! - um Wohnhäuser auf dieses Grundstück zu bauen. Die Distillery-Crew tut eben das, und unterschlagen zudem gewisse Fakten, die zum Gesamtverständnis der Leipziger Szene gehören: Die Distillery - sehr wohl in Connewitz angesiedelt, gehört nicht zur Connewitzer "Besetzer-Szene". Sie hat von Anfang an gewinnorientiert gearbeitet, d.h. sich in den Kontext des freien Unternehmertums eingegliedert, gegen eben den sich die Connewitzer Linke stellt.

Das Conne Island bspw. ist ein Verein, in dem die Leute Vereinsgelder zahlen. Von den Leuten werden gewisse Arbeitsleistungen erwartet. Im Gegenzug dazu können sie die Veranstaltungen kostenlos besuchen. Sie sind Teil einer Mannschaft, die sich zum Ziel gestellt hat, durch ihre Veranstaltungen politisches Bewußtsein zu schulen - keine Veranstaltungen zum Selbstzweck. Dies nur Illustration. Ebenso hätte das Zoro angeführt werden können, in dem die Regeln ähnlich strukturiert sind.

Wir finden, jeder kann in dieser Stadt von den Medien mehr verlangen, als das Aufgreifen eines Themas, das unrecherchiert an die Öffentlichkeit weitergetragen wird. Wir beglückwünschen die PR-Abteilung der Distillery für dieses Glanzstück kostenloser Werbung für ein mittelständiges Unternehmen, das scheinbar in einer Krise steckt und hier einen Weg gefunden hat, neue Besucher anzusprechen und alte Besucher neu zu aktivieren.

Thomas Meitsch, Katrin Jankowicz, Ronny Günzel, Uwe Schmidt


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last modified: 28.3.2007